Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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gegenüber denn nie eine Andeutung gemacht, die auf die genauere Herkunft seiner Verlobten schließen ließ? Oder haben Sie vielleicht eine Ahnung, wo ich sie finden kann?“

      Beide seiner Fragen werden von seiner Gesprächspartnerin verneint, die ihm auf seine weiteren Fragen zu verstehen gibt, dass der Getötete ihr gegenüber auch sonst keinerlei Andeutungen darüber gemacht habe, woran er gegenwärtig arbeite, so dass Claude das Gespräch beinahe schon als ergebnislos abhaken und sich verabschieden will, als ihn eine quasi nebenbei hingeworfene Bemerkung von Frau Bernadetti aufhorchen lässt, in der sie erwähnt, ihrem Bruder vor zirka drei Wochen spätabends im Rotlichtviertel der Stadt begegnet zu sein, worüber sie sich angesichts der jungen und offensichtlich heißen Liaison gewundert habe.

      „Hat Sie mein Bruder gesehen?“

      „Nein, ich bin auf dem Rückweg von einem Kunden, bei dem es recht spät geworden war, zufällig da durchgefahren, weil es der kürzeste Weg war. Vermutlich wäre mir Ihr Bruder auch gar nicht aufgefallen, wäre ich nicht an der Ampel gestanden und hätte so mitbekommen, wie er sich mit zwei Typen stritt. Ich wollte schon aussteigen, doch da verschwand Ihr Bruder in der Nebenstraße. Und da ihn die beiden anderen nicht verfolgten, hielt ich die Sache für erledigt, weswegen ich mich auch nicht weiter darum kümmerte.“

      „Und Sie haben später auch nicht mit meinem Bruder darüber gesprochen?“

      „Nein. Möglicherweise aus Sorge, ihn dadurch irgendwie bloßzustellen.“

      „Wie sahen die beiden Männer denn aus, mit denen Philipp sich gestritten hat?“

      „Ziemlich kräftig, wie Rausschmeißer, Sie wissen schon. Ungefähr einen Meter fünfundachtzig, breite Schultern, kurzrasierte Haare, gut gekleidet. Leider habe ich sie nur von hinten gesehen.“

      Philipp im Rotlichtviertel. Das passte in der Tat so gar nicht zu seinem Bruder. Aus einem der dort ansässigen Etablissements war er bestimmt nicht gekommen, dazu kannte er ihn zu gut. Dorthin wäre er auch ohne Verlobte niemals gegangen. Was also hatte ihn veranlasst, sich in dieses Milieu zu begeben? Wer waren diese beiden Männer, mit denen er offensichtlich Streit gehabt hatte? Überhaupt: Philipp und Handgreiflichkeiten? Derartigen war er stets bewusst aus dem Weg gegangen, denn ebenso wie er selber war sein Bruder überzeugt gewesen, dass mit Gewalt kein Konflikt, ob groß oder klein, zu lösen sei. Offene Fragen, deren Beantwortung das Rätsel um Philipps Ermordung möglicherweise mithelfen könnten zu lösen.

      Da Claude für den Moment keine weiteren Informationen mehr erhalten zu können glaubt, verabschiedet er sich: „Nochmals vielen Dank dafür, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben.“

      „Nichts zu danken, und falls Sie noch Fragen haben sollten, so stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“ Aus ihrem zarten, warmen Händedruck spürt Claude das Vermögen heraus, offenherzige Zärtlichkeit und Liebe geben zu können.

      Längst ist der Abend hereingebrochen, wie er beim Verlassen des Hauses registriert, die Straßenlaternen werfen ihre Lichtkegel auf Bürgersteig und Fahrbahn, beleuchten einzelne Passanten, die zielstrebig an ihm vorbeihasten beziehungsweise ihm entgegenkommen, meist mit hochgestülptem Kragen, da ein frischer Abendwind doch merklich für Abkühlung gesorgt hat.

      Statt eventuell Antworten auf die eine oder andere seiner Fragen erhalten zu haben, türmen sich nunmehr noch mehr ungelöste in seinen Gehirnzellen auf, sich abwechselnd in sein Bewusstsein drängend und einer Beantwortung harrend, dominiert von der alles entscheidenden, quälendsten Frage: ‚Warum Philipp, warum er?’

      Dienstag, 15. April 1997, 8:54 Uhr

      Zum ersten Mal seit er in der Stadt ist, schmeckt es ihm, die ofenfrischen Brötchen und Croissants regen seinen in den letzten Tagen flauen Appetit nachhaltig an, lassen ihn noch einmal in das Körbchen langen. Ein zweites Kännchen Kaffee steht auch schon parat, um seine ungewohnt heftigen Essgelüste zu stillen. Sich in die Zeitung vertiefend, wird das Stimmengewirr der anderen Frühstücksgäste gedanklich ausgeklinkt, die Augen tasten die einzelnen Zeitungsseiten ab, auf der Suche nach einer Meldung, einer Notiz, die im Zusammenhang mit dem Tode seines Bruders steht, stehen könnte - erfolglos. Kaum dass er die sich nähernde Person der Bedienung wahrnimmt, die, sobald sie seinen Tisch erreicht hat, ihn mit der Nennung seines Namens aus seiner gedanklichen Versunkenheit herausreißt: „Herr Duchamp, ein Anruf für Sie.“

      „Für mich?“

      „Ja.“ Verdutzt nimmt er das gereichte schnurlose Telefon entgegen; „Ja, hallo, hier Claude Duchamp.“

      „Guten Morgen, Herr Duchamp“, schallt ihm eine sonore Stimme entgegen. „Mein Name ist Clemens, Rainer Clemens, ich bin Chefredakteur des Brennpunkt. Ich habe gestern erst von dem tragischen Tod Ihres Bruders erfahren. Diesbezüglich möchte ich Ihnen zunächst mein Beileid aussprechen.“ Die eintretende Pause ist zu kurz, als dass Claude seine Gedanken sammeln und mit einer Zwischenfrage einhaken könnte. „Ich weiß nicht, inwieweit Sie in die Angelegenheiten Ihres Bruders eingeweiht sind, jedenfalls hat er mit mir vor knapp zwei Wochen Kontakt aufgenommen und behauptet, er habe brisantes Material gesammelt, das er mir zukommen lassen wolle, sobald er seine Recherchen abgeschlossen habe. Worum genau es dabei ging, hat er mir allerdings nicht gesagt, nur dass es für Wirbel und einen deftigen Skandal sorgen werde. Da ich Ihren Bruder von früher kenne und weiß, dass er kein Aufschneider ist, habe ich seine Andeutungen ernst genommen. Und er klang wirklich sehr ernst, beinahe besorgt. Nur wie gesagt, worum es ging, darüber hat er nichts gesagt. Daher wollte ich nun von Ihnen gerne wissen, ob Sie möglicherweise eine Ahnung haben, was Ihr Bruder damit gemeint haben könnte?“

      So überraschend der Anruf selbst für ihn ist, so unvermutet kommen für Claude die gemachten Andeutungen des Mannes am anderen Ende der Leitung. „Nein, tut mir leid, Philipp hat mir gegenüber nichts Derartiges erwähnt, auch kann ich mir nicht vorstellen, was er damit gemeint haben könnte.“ Philipps Anruf, seine kümmerlichen Hinweise, aus denen jedoch unmissverständliche Besorgnis herauszuhören gewesen war, all dies erscheint für Claude mit einem Schlag in einem völlig neuen Licht, viel realer, weniger spekulativ als bisher. Doch davon will er Clemens nichts mitteilen, schließlich weiß er selbst noch viel zu wenig von der ganzen Sache - und ungelegte Eier sind nun einmal nicht seine Sache. „Was hat Ihnen mein Bruder denn gesagt? Gar nichts Konkretes?“ Insgeheim kennt er die Antwort im Voraus, doch möchte er sich Sicherheit verschaffen, aus Angst, einer Spur, mag sie auch noch so vage sein, nicht genügend nachgegangen zu sein.

      „Nein, nichts. Deswegen rufe ich Sie ja an, ich dachte, möglicherweise habe er Ihnen mehr erzählt als mir. Nur eben äußerst brisant muss das Ganze sein, daran ließ Ihr Bruder keinen Zweifel. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, könnten Sie mich informieren, falls Sie etwas herausfinden. Es muss dabei unter anderem um Fotomaterial gehen. Schauen Sie doch einmal das Archiv Ihres Bruders durch, vielleicht stoßen Sie dort auf etwas.“

      „Möglich. Sobald ich Zugang zu der Wohnung habe, werde ich mich umschauen. Sollte ich dabei auf etwas stoßen, so lasse ich es Sie wissen.“ Nachdem sich Claude Clemens' Rufnummer notiert hat, erkundigt er sich bei diesem danach, woher er denn die seine habe.

      „Ach wissen Sie, als Journalist hat man da so seine Kontakte zur Polizei. Schließlich braucht die uns auch einmal wieder.“

      Claude ist enttäuscht über die leichtfertige Verletzung seiner Privatsphäre von Seiten der staatlichen Ordnungshüter. „Haben Sie der Polizei auch von dem Anruf, der Ihnen gemachten Offerte erzählt?“

      „Nein, wo denken Sie hin, wir lassen uns die Story doch nicht klauen. Denen habe ich nur gesagt, dass es um ein Interview mit Ihnen gehe. Ihr Bruder war schließlich kein Unbekannter, meines Erachtens nach sogar einer der größten seiner Branche, hinzu kam noch sein großes soziales Engagement, mit dem er gleichfalls immer wieder für Aufsehen sorgte, denken Sie doch nur an sein Eintreten für unterdrückte Völker und Minderheiten am Rande einer der letzten UN-Menschenrechtsdebatten. Damals ist er sicherlich dem einen oder anderen auf den Schlips getreten.“ Längst in Gedanken versunken, nimmt Claude


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