Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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brauchbar erschien. Näheres hat er mich nicht wissen lassen, vermutlich weil er mich nicht mit in die Sache hineinziehen wollte, so habe ich es zumindest verstanden, denn als ich von ihm gelegentlich wissen wollte, wofür er all diese Auskünfte benötige, wich er mir stets mit dem Hinweis aus, dass es für mich am besten sei, möglichst wenig zu wissen. Um ehrlich zu sein, fand ich das anfangs reichlich blöd, sein charmantes Wesen ließen mich meine Verärgerung über diese Ausflüchte aber jedes Mal schnell wieder vergessen … höchstwahrscheinlich, weil ich ihn ehrlich mochte, als Freund und Mann. Er war ja nicht gerade unattraktiv!“

      Ihre letzten Worte, Frage und Feststellung zugleich, bestärken Claude darin, Eva-Marie Vertrauen schenken zu dürfen, sie als Partnerin anzusehen, stand sie Philipp doch offensichtlich näher, als sich dieser vermutlich bewusst gewesen war, so dass ihr aller Wahrscheinlichkeit nach ebenso viel an der Aufklärung des Falles liegt wie ihm.

      Claude bestellt noch zwei Espressos und für sich zusätzlich ein Lachsbrötchen, während Eva-Marie, auf ihre Figur und die Abträglichkeit zu späten Essens verweisend, seine Offerte für einen kleinen Imbiss dankend ablehnt. Zu seinem Bedauern ergeben sich aus dem weiteren Gesprächsverlauf keine weiteren konkreten Anhaltspunkte oder neue, verwertbare Erkenntnisse, die ihn einen Schritt weiterbrächten. Unbeantwortet bleibt auch die Frage nach dem Verbleib des erwähnten Notizbuches, das nach Aussage Eva-Maries schwarz und ledergebunden sein soll. So sehr er sich auch den Kopf zermartert, erinnert er sich beim besten Willen nicht daran, ein solches in der Wohnung seines Bruders gesehen zu haben, und dem Päckchen mit den mysteriösen Fotos lag es gleichfalls nicht bei. Wo also war es geblieben? Hatte es der Mörder mitgehen lassen, war es möglicherweise sogar die Ursache für das Verbrechen? Spekulationen über Spekulationen, das verworrene Bild indes wird dadurch kein bisschen deutlicher, vielmehr tauchen immer neue Mutmaßungen auf, die das gedankliche Szenario mitunter bis zur Absurdität grotesk ausgestalten. Ob ihn die Aufzeichnungen der Journalistin weiterbringen werden? Ein Strohhalm, an den es sich zu klammern gilt, sind sie allemal, und so verbleiben sie, als sie das Lokal verlassen, dabei, sich am Sonntagabend hier an gleicher Stelle wieder zu treffen, damit er einen Blick in das entsprechende Material werfen kann. Und als wolle sie seine letzten möglicherweise noch vorhandenen Zweifel ausräumen, gibt sie ihm beim Abschied noch mit auf den Weg: „Denken Sie daran, ich stehe auf Ihrer Seite!“

      Die Nacht von Freitag auf Samstag, der Zeiger der Stundenanzeige kommt der Eins bereits bedenklich nahe, zu dieser Stunde tanzt der Bär im Viertel, zumal der Abend nach dem Platzregen mit relativ lauen Temperaturen aufwartet, was Scharen Vergnügungssüchtiger auf die Straßen lockt, die mit teilweise stark überhöhtem Alkoholspiegel grölend und torkelnd zwischen den weniger exzessiv den Verlockungen Frönenden daherkommen, in ihrem Übermut beziehungsweise ihrer eingeschränkten Zurechnungsfähigkeit den einen oder anderen ihnen in die Quere Kommenden anpöbeln und sich untereinander mit unflätigen Witzen zu stimulieren bemühen. Immer wieder überkommt Claude mit Mitleid gepaarter Ekel angesichts der angeblich mit Verstand ausgestatteten menschlichen Elendskreaturen, die sich wie Platzhirsche bei der Absteckung ihrer Reviere und der Befriedigung ihrer niedersten Triebe von den primitivsten Instinkten und Gelüsten leiten lassen, nicht erkennend, in welch willenlose Wesen sie sich dabei verwandeln, wobei die Hemmschwelle der Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt meist in gleichem Maße sinkt, wie der Alkoholpegel steigt, von den notorischen Schlägertypen, die ihr Selbstbewusstsein einzig und allein aus der Kraft ihrer Muskeln saugen, ganz zu schweigen. Obwohl er es auch aus seiner beruflichen Vergangenheit nur allzu gut weiß, erschüttert ihn das Maß des menschlichen Gefühlselends auch in diesem Augenblick aufs Neue, registriert er mit ernüchterndem Schrecken die Vielzahl jener Gesichter, hinter deren Fassade gefühlsmäßige Eiseskälte hervor starrt, die selbst den winzigsten Anflug von Seelenwärme vermissen lassen, Produkte einer Gesellschaft, die sich emotionaler Regungen in zunehmendem Maße zu schämen scheint und sie daher unterdrückt, negiert, und so gefühlslose, robotergleiche Stereotypen auswirft, die geformt und genormt sind von den Werten einer Werbe- und Konsumwelt, deren von ihr selbst aufgestellten Maßstäbe zu hinterfragen sich kaum einer die Mühe macht, denn Abweichler gelten als Miesmacher, Sonderlinge, die zersetzenden Krebsgeschwüren gleich entfernt gehören. Von der gerade auch in der Werbung so hoch gepriesenen Individualität keine Spur, das Zepter schwingt schon längst nur noch das Diktat des bloßen Konkurrenzdenkens, des Noch-größer, Noch-mehr, Noch-besser als der Nächste, der zum reinen Konkurrent degradiert wird, dessen primäre Eigenschaft als Mit-Mensch, dem dieselben Rechte zustehen, der aber auch die gleichen Pflichten hat wie sein Gegenüber, eben sein Mit-Mensch ist, sorg-, arg- und gedankenlos jenen angeblich glückverheißenden Versprechungen geopfert wird, mit denen Werbestrategen und Politiker die Menschheit tagtäglich einlullen, in dem Bemühen, sie ihrer eigenen Urteilsfähigkeit zu berauben, um sie so zu willenlosen Werkzeugen umzufunktionieren, denen die Notwendigkeit an und für sich dubioser, wenn nicht gar verabscheuungswürdiger Entscheidungen und Handlungen mit noch dubioseren und verabscheuungswürdigeren Argumenten plausibel gemacht werden kann.

      ‚In welchem Sumpf magst du nur herumgestochert haben?’, quält es Claude bei dem Gedenken an seinen Bruder immer und immer wieder. ‚Und warum hast du mir nicht eher Bescheid gegeben, du wusstest doch, dass wir an einem Strang ziehen!’ Doch Vorwürfe, Wenn und Aber helfen nicht weiter, lediglich die Auffindung weiterer Steine des Puzzles bringen ihn unter Umständen der Lösung des Rätsels Stück für Stück näher. ‚Vielleicht sind ja Eva-Maries Aufzeichnungen solch ein Stein’, beschwichtigt er seine Unruhe, seine insgeheime Unzufriedenheit ob seiner bisherigen Recherchen, die zwar einige vage Anhaltspunkte, noch aber, wenn er ehrlich ist, keine wirklich konkreten Ergebnisse gebracht haben. ‚Bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als morgen wiederum in jenes Milieu einzutauchen’, bilanziert er, ein Milieu, das ihm zunehmend Unbehagen bereitet, die selbst auferlegte Verpflichtung seinem Bruder gegenüber lässt ihm indes keine andere Wahl.

      Samstag, 26. April 1997, 9:37 Uhr

      „Guten Morgen, Herr Duchamp“, fängt Frau Bernadetti ihn an der Eingangstür ab, und noch ehe er den Haustürschlüssel aus der Jackentasche angeln kann, zückt sie bereits den ihren und hält ihm nach dem Öffnen die Tür auf, um ihm so Zeit zu geben, den Regenschirm auszuschütteln, der an diesem Vormittag angesichts der vom Himmel herabstürzenden Fluten von ausgesprochener Notwendigkeit ist. Erst als er in den Hausflur tritt, wird er der bis zu den Waden durchnässten Hose gewahr, die vom Spritzwasser, das entlang seines Weges auf Straßen und Bürgersteigen pralle Blasen auf den sich rasch bildenden Pfützen tanzen ließ, in Minutenschnelle vollgesogen war und sich nunmehr kühlend um seine Waden legt. Als merkwürdig empfindet er es in diesem Zusammenhang, dass seine Schuhe und Strümpfe nicht gleichfalls völlig durchnässt sind, sich seine Strümpfe vielmehr nur ein klein wenig feucht-klamm anfühlen, mehr aber auch nicht. „Scheußliches Wetter, nicht wahr. Typisch April!“, stöhnt die gleichfalls nicht ganz den Wetterunbilden ungeschoren entkommene junge Frau, die, so schließt Claude aus ihrer prall gefüllten Einkaufstasche, offensichtlich von ihrem samstäglichen Wochenendeinkauf zurückkehrt. „Gegen den Regen wäre noch nicht einmal etwas zu sagen, aber dass es gleich wieder derart abkühlt. Pfui, garstig! Da bleibt man am besten zu Hause.“

      „Stimmt. Da weiß man die Behaglichkeit einer warmen Stube erst richtig zu schätzen“, pflichtet er ihr bei, ihr die schwerer als gedachte Einkaufstasche abnehmend und die Treppe hinauf folgend.

      „Gibt es zwischenzeitlich eigentlich neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit dem Mord an Ihrem Bruder?“, fragt sie ihn auf halber Höhe zum ersten Stockwerk über die Schulter hinweg, wobei sie mit der Rechten ihr vom stürmischen Wind zerzaustes Haar einigermaßen glattzustreichen versucht, was ihr aber nur unzureichend gelingt.

      Da er sie nicht von allen Einzelheiten in Kenntnis setzen möchte, flüchtet sich Claude in eine pauschal gehaltene Ausrede: „Nein, nichts Wesentliches, lediglich ein paar vage Hinweise und Vermutungen, die bislang allerdings allesamt ohne greifbares Ergebnis geblieben sind.“

      „Das tut mir leid.“ Ihre Anteilnahme ist echt. „Hoffentlich fassen sie den Kerl beziehungsweise die Kerle noch, die Ihren Bruder auf dem Gewissen haben.“

      „Ja, hoffentlich.“ Claudes fühlt sich mit einem Male deprimiert,


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