Handover. Alexander Nadler

Handover - Alexander Nadler


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geschweige denn in einer emotionalen Extremsituation wie dieser.

      Sein angeschlagener Gefühlszustand entgeht Florine keineswegs, wie ihr Versuch, ihn in dieser Situation nicht allein zu lassen verdeutlicht: „Übrigens, haben Sie schon gefrühstückt? Ich mache mir jetzt eine schöne Tasse Kaffee und etwas zu essen. Wenn Sie Lust haben, können Sie mir Gesellschaft leisten, ich würde mich freuen.“

      „Danke, das ist sehr nett von Ihnen, aber ich habe schon eine Kleinigkeit gefrühstückt, außerdem muss ich noch ein paar Dinge in Philipps Wohnung in Ordnung bringen.“ Dass er eigentlich nur gekommen ist, um noch einmal nach dem besagten Notizbuch zu suchen, will er der jungen Dame nicht unterbreiten, gleichwohl er sich bei seiner Ablehnung aus für ihn unerklärlichen Gründen nicht ganz behaglich fühlt.

      Doch so leicht gibt sich diese nicht geschlagen: „Ach was, ich mache Ihnen ein Angebot: Da ich mir am Samstag meist ein reichliches Frühstück genehmige und mir dafür das Mittagessen spare, werde ich uns etwas richtig Herzhaftes zubereiten. Das wird noch ein Stündchen oder so dauern, inzwischen können Sie ja schon mit Ihrer Arbeit beginnen, und sobald das Essen fertig ist, rufe ich Sie. Abgemacht?“

      Einerseits schätzt Claude ihre Offerte sehr, andererseits möchte er sich nicht aufdrängen, möglicherweise gar falsche Erwartungen erwecken. „Ich möchte Sie nicht unnötig belasten...“

      „Papperlapapp, keine Ausflüchte“, fährt sie ihm scherzend ins Wort. „Lassen Sie sich doch einmal ein wenig verwöhnen, so oft ist das in letzter Zeit sicherlich nicht vorgekommen. Habe ich recht?“

      Und wie recht sie hat, doch damit will er nicht hausieren gehen. „Also gut“, willigt er schließlich ein, während sie bereits vor Philipps ehemaliger Wohnung angelangt sind, „rufen Sie mich, wenn es soweit ist. Aber lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Eigentlich ist er froh, nicht den ganzen Tag allein zubringen zu müssen, zumal eine entscheidende Wetterbesserung für den heutigen Tag nicht in Sicht ist und er daher auch keinerlei Lust verspürt, seine Nachforschungen außer Haus fortzusetzen.

      „Also bis dann“, verabschiedet sich Frau Bernadetti für den Moment, ihre Tasche wieder an sich nehmend und sich in Richtung ihrer Wohnung wendend.

      Wie sehr ihm das Schmuddelwetter aufs Gemüt geschlagen hat, merkt Claude, als er im Flur der Wohnung seines ermordeten Bruders steht und ihn das eigenartige, bislang nie gekannte Gefühl beschleicht, die Gangwände würden allmählich zusammenrücken und ihn zu erdrücken drohen, woraufhin er schnurstracks ins Wohnzimmer eilt, dessen lichte Weite ihn freier durchatmen lässt, auch wenn der Ort des schrecklichen Verbrechens ihm nach wie vor Unbehagen bereitet. Unkoordiniert schweifen seine Blicke für einige Augenblicke mal dahin, mal dorthin, saugen sich dann am Wandschrank fest, in dem er seine Suche nach dem verschollenen Büchlein aufzunehmen beschließt. Die einzelnen Fächer und Schubläden sorgfältig durchgehend, mag sich nicht finden, wonach er fandet, woraufhin er sich den Wandregalen zuwendet, ehe er alle anderen möglichen geheimen Versteckmöglichkeiten im Raum inspiziert, jedoch mit demselben negativen Ergebnis, was seine Suche sodann in die anderen Räumlichkeiten der Wohnung verlagert. Doch so sehr er sich auch müht, kaum einen Gegenstand unverrückt lässt, das Gesuchte bleibt unauffindbar, in der Küche ebenso wie im Büro und im Flur, der seine anfänglich empfundene Bedrohlichkeit zwischenzeitlich verloren hat, denn zu sehr ist er mit der Sucherei beschäftigt, als dass er sich nunmehr noch durch derartige irrationale Einflussnahmen weiterhin psychisch beeindrucken ließe.

      Zweimaliges Klingeln an der Wohnungstür lässt ihn seine Suche unterbrechen. Wie vermutet, meldet seine jugendliche Nachbarin den Abschluss der Vorbereitungen für das gemeinsame Brunch, dessen geruchsmäßigen Verlockungen bis an Philipps Ex-Wohnung herüber wabern und ihm die Unterbrechung seiner Stöberei leicht machen.

      „Riecht ja verdammt gut!“

      „Ich hoffe, es schmeckt Ihnen auch so gut“, freut sie sich über seine Vorschusslorbeeren.

      Dass sie ihm nicht nur Brötchen, Wurst, Käse und Marmelade vorsetzen würde, war ihm spätestens bei den seine Geruchsnerven wohlig umschmeichelnden Düften klar geworden, trotzdem verschlägt es ihm, als er das kombinierte Wohn-Esszimmer betritt, für einige Sekunden die Sprache angesichts dessen, was die Dame des Hauses aufgetafelt hat, wobei er sich fragt, wie sie all dies in wenig mehr als einer Stunde auf den Tisch zu zaubern imstande war. Nicht nur die offenfrische Pizza, deren würziger Geruch er als denjenigen identifiziert, der ihm bereits an Philipps Wohnungstür so verlockend um die Nase gestrichen ist und der man auf den ersten Blick ansieht, dass sie nicht aus dem Tiefkühlregal stammt, sondern in liebevoller Handarbeit entstanden ist, auch die drei verschiedenen Salate, von denen jeder knackfrischer und appetitlicher aussieht als der andere, die fachgerecht zubereiteten Garnelen, diversen Brötchen- und Brotsorten, das Sortiment an fein aufgeschnittenen Käse- und Wurstsorten, das halbe Dutzend Gläschen erlesener Konfitüren, und nicht zuletzt der überreich beladene Obstteller, sie alle machen Claude mit einem Schlag klar, dass er seine Gastgeberin bislang unterschwellig völlig falsch eingeschätzt, unterschätzt hat. Derart haushälterische Fähigkeiten hat er ihr nicht zugetraut, muss er sich einerseits beschämt eingestehen, andererseits ist er für diese so unerwartete Lektion dankbar, gemahnt sie ihn doch erneut, sich vor voreiligen Schlussfolgerungen und Qualifikationen zu hüten. Irgendwie findet er sein Kompliment stereotyp, doch fällt ihm aufgrund seiner Verblüffung in diesem Moment nichts Besseres ein: „Das schaut ja alles sehr verführerisch aus! Wie haben Sie das alles in der kurzen Zeit herrichten können? Sie sind ja eine wahre Hexenmeisterin!“

      „Jeder hat so seine Stärken und Fähigkeiten“, wiegelt sie ab, sich über sein Kompliment freuend. „An und für sich mache ich so etwas gerne, nur fehlt mir meistens die Zeit, und für mich allein lohnt es sich nicht groß aufzutafeln. Aber wenn ich Freunde da habe, dann tobe ich mich in meiner Küche schon einmal so richtig aus.“ Ihre Stimme lässt keinen Zweifel daran, dass sie in solchen Fällen mit Herz und Seele an die Sache rangeht, sie andere diesbezüglich zu verwöhnen versteht.

      „Nur keine falsche Bescheidenheit.“ Claude kann nicht umhin, ihr die Wahrheit zu gestehen: „Um ehrlich zu sein, das habe ich Ihnen nicht zugetraut. Ich weiß, das klingt albern, doch habe ich Sie scheinbar völlig falsch eingeschätzt.“

      Seine Offenheit gefällt ihr: „Wenn es Sie beruhigt: Sie sind nicht der erste.“

      „Ich hoffe, Sie sind mir jetzt nicht böse.“

      „Im Gegenteil, Ihre Ehrlichkeit gefällt mir. Ich mag Leute, die sagen, was sie denken, fühlen. Heuchler gibt es eh schon mehr als genug.“

      Die Beklemmung, die ihn den Morgen über begleitet hat, hat sich während des kurzen Dialogs verflüchtigt, niedergerungen von einer beinahe euphorisch zu nennenden Stimmungslage, die ihn dazu veranlasst, ihr das Du anzubieten: „Ich bin nicht so sehr für Förmlichkeiten. Ich heiße Claude.“

      „Florine.“ So kurz ihre Einwilligung zu seiner Offerte ausfällt, so unmissverständlich gibt das verschmitzte Lächeln in ihren Mundwinkeln zu verstehen, dass sie insgeheim darauf gehofft hat. „Jetzt aber mal ran, ... Claude“, noch fällt es ihr nicht ganz leicht, ihn mit dem Vornamen anzusprechen, „sonst wird die Pizza kalt!“

      Während sie sich nach und nach durch all die dargebotenen Leckereien hindurchkosten, umweht vom duftenden Aroma frisch gemahlenen und aufgebrühten Kaffees, plätschert das Gespräch so dahin, gegenseitig geben sie sich stichpunktartig Einblick in ihr bisheriges Leben, über ihre beruflichen Tätigkeiten. Je länger sie so miteinander plaudern, umso stärker spürt Claude, wie sehr ihm ihre beinahe mütterliche Fürsorge, mit der sie ihn zu verwöhnen trachtet, guttut, ihm das Gefühl wohliger Behaglichkeit vermittelt, ein Gefühl, das er so schon lange nicht mehr empfunden hat. Doch spürt er gleichzeitig auch, dass es nicht mehr werden wird, er gegenwärtig nicht bereit ist, irgendeine engere Beziehung aufzubauen, was Florine allerdings gar nicht zu erwarten scheint, vielmehr geht es auch ihr, so zumindest sein Eindruck, lediglich um einen gemütlich verbrachten regenverhangenen Samstag, dessen fahlgraue Melancholie alleine nur schwer zu ertragen ist.

      Unweigerlich muss ihre Unterhaltung jedoch


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