Die schwarze Macht. Elise Lambert

Die schwarze Macht - Elise Lambert


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alle gefangen nehmen, sind stark. Erinnern dieses gelebte und am Ende gelittene Leben, bedeutet: Wiederholen! Heraufholen! Es heißt: Noch einmal!

      Das soll nicht wertend und Bilder machend geschehen, als hätten wir das Leben wie einen in sich abgeschlossenen Gegenstand vor uns, so als hätten wir Überlebenden über ein gelebtes Leben zu urteilen, gar Prädikate zu erteilen. Wir sind mit ihm nicht fertig. Roberts Leben ist zu Ende, doch noch nicht fertig geworden, dass wir sagen könnten und sagen dürften, so oder so sei er, sei es gewesen.« Er blickte die Anwesenden an. »Ich möchte es anders herum versuchen. Das Leben ihres Mannes, liebe Mrs. McIntire, das sich Ihnen in den nahezu dreizehn Jahren Ihrer Ehe füreinander und miteinander erschloss, dem Sie in den eigenen und gemeinsamen Interessen Gestalt gegeben haben, ist von jener Hoffnung getragen gewesen, die auch in der Todesanzeige ihren Ausdruck fand: Gern miteinander alt zu werden.

      Von Roberts Leben zu reden heißt: von ihrem Leben reden. Von den Stationen seines Weges, von Orten und den Menschen … und unterschiedlich im jeweiligen Erleben. Für Sie, liebe Mrs. McIntire, sind es die ...« Professor Lamondt sprach noch eine weitere Viertelstunde, ehe mit den Worten endete: »Das macht sein Gedächtnis aus, vor Gott und uns Menschen. Es mag uns als ein unabgeschlossenes Leben, ein Lebensfragment, erscheinen, das unser Gedenken beansprucht … und das sich allein Gott, dem Schöpfer und Richter, vollenden wird: seiner Gnade empfohlen. So hält sich im Abschiednehmen das Vergehende gegenwärtig und zugleich wird das Zukünftige am Vergehenden präsent.«

      Er hielt inne, faltete seine Rede zusammen und steckte sie in das Jackett, ehe er vom Pult zurücktrat und dem Pfarrer Platz machte.

      »Liebe Trauergemeinde«, begann der Geistliche, nachdem er dem Professor dankend die Hand geschüttelt hatte, »lassen Sie uns beten: Herr, unser Gott, Du gibst uns Menschen das Leben und dann nimmst Du es wieder. Du verbirgst es eine Zeit im Geheimnis des Todes, um es dereinst gereinigt ans Licht zu bringen als unser ewiges Leben. Sieh Du uns heute an und höre uns an diesem Ort, an dem wir jetzt versammelt sind, weil Robert McIntire von uns gegangen ist. Nimm Du unser Erschrecken, unsere Trauer auf in Deinen Frieden. Nimm alle unsere Gedanken über den, dessen Sterben und Tod wir beklagen und über uns selbst, hinein in die Erkenntnis Deines guten Willens mit ihm und uns. Herr, unser Gott, lehre uns bedenken, dass auch wir sterben müssen.« Er gab den Trauernden ein Handzeichen aufzustehen, und begann das Vater Unser, in welches alle einstimmten. Das Amen war gerade verklungen, als er die Anwesenden segnete: »Der Herr segne und behüte uns. Er erhelle unser Dunkel. Er lasse uns seinen Weg erkennen. Er habe mit uns Erbarmen und bleibe uns zugewandt.«

      Nach Abschluss der Andacht folgten die Trauernden dem Sarg hinaus zum Gottesacker, warfen Blumen ins Grab, gefolgt vom einem Schäufelchen Erde und drückten der Witwe McIntires und den Eltern ihr Mitgefühl aus. Nach und nach löste sich die Gruppe der Trauernden auf. Einige von ihnen trafen sich noch zu einem gemeinsamen Essen in einem nahe gelegenen Restaurant. Auch Professor Lamondt war eingeladen, doch er hatte beschlossen sich, nach dem Abschluss des traurigen Ereignisses, auf den Heimweg zu machen, und entschuldigte sich entsprechend.

      Lamondts Weg führte ihn am Institut vorbei. Aus einem ihm unerklärlichen Grund änderte er seine Entscheidung, lenkte seinen Wagen auf den für ihn vorgesehenen Parkplatz und stieg aus. Irgendetwas trieb ihn förmlich in das Gebäude hinein, eine Gefühlsregung, die er sich selbst nicht erklären konnte. Auf dem Weg über den Campus zur Tür bemerkte er das alte, schon leicht vom Rost angefressene Fahrrad von Shelly Wright.

      Die junge Frau musste ein schweres Schicksal ertragen. Ihr Mann war seit zwei Jahren aufgrund eines schweren Unfalls querschnittsgelähmt und bezog nur eine kleine Rente. Lamondt wusste, dass sie deshalb gleich mehrere Putzstellen angenommen hatte, um den winzigen Etat etwas aufzubessern. Sie imponierte ihm, denn trotz dieser widrigen Lebensumstände hatte Shelly ihr freundliches Wesen nicht verloren.

      In einer Ecke des Flurs sah er den Putzwagen stehen, den sie immer hinter sich herzog. Es machte auf ihn den Eindruck, als ob sie gerade erst gekommen wäre. Seltsam war nur, dass man so gar nichts von ihr hörte. Das hatte er noch nie erlebt, denn Shelly liebte es sehr, bei der Arbeit zu singen.

      Ihn beschlich ein unheimliches, dunkles Gefühl, als er durch den Korridor ging.

      »Shelly!?«, rief er mit lauter Stimme.

      Er bekam keine Antwort. Schnell lief er von Zimmer zu Zimmer, aber sie war nirgends zu entdecken. Er wollte schon aufgeben, als ihm die Bibliothek einfiel. Zu seiner Verwunderung sah er den Schlüssel in der Tür stecken. Als er die Hand auf den Türdrücke legte, um zu öffnen, zögerte er aus einem ihm unklaren Grund …

      Sein 6. Sinn warnte ihn.

      Er befreite sich von dem Gedanken, öffnete und ging hinein. Im selben Augenblick fiel sein Blick auf den Shellys Rücken. Sie saß in einer seltsam verkrümmten Haltung an einem der Leseplätze. Ihr Oberkörper lag auf der Tischplatte, und ihr rechter Arm hing so weit herunter, dass er fast den Boden berührte.

      Lamondt spürte, wie ein würgendes Gefühl in ihm hochstieg, als er mit einigen hastigen Schritten näher herantrat.

      »Shelly!«, sprach er sie laut an und rüttelte ein wenig an ihren Schultern. »Was ist los mit dir?«

      Als sie sich nicht bewegte, hob er behutsam ihren Kopf ein wenig an, sah ihr Gesicht und erschrak. Es hatte die Farbe von weißem Carrara-Marmor, und es lag ein Ausdruck darin, der ihn unwillkürlich schaudern ließ. Er griff nach ihrem Handgelenk und fühlte den Puls. Nichts. In ihr steckte kein noch so kleines Lebenszeichen mehr, jede Hilfe kam zu spät. Müde lehnte er sich gegen den Tisch und holte sein Handy heraus.

      Kapitel 8

      Seit der Beerdigung Robert McIntires und dem ungewöhnlichen Tod Shelly Wrights war knapp eine Woche vergangen. Abgespannt saß Prof. Lamondt an seinem Schreibtisch im Institut. Er sah auf die Uhr. Es war zehn nach vier, und er beschloss für heute Schluss zu machen, früher nach Hause zu gehen und sich einmal richtig auszuschlafen. Mit einem stillen Seufzen fuhr er den Laptop vor sich herunter. Die letzten Tage hatten ihm mehr zugesetzt als er sich selbst eingestehen mochte. Er hatte sich aufrichtig gefreut zu erfahren, dass es zumindest Lauren etwas besser ging. Sie war bereits gestern aus dem Krankenhaus entlassen worden und direkt im Anschluss, in Begleitung ihrer Mutter, zur Erholung nach Brighton gefahren. Kurz zuvor war sie noch bei ihm gewesen und hatte ihn über den Stand ihrer Arbeiten in Kenntnis gesetzt. Es war ihm aufgefallen, dass sie immer noch einen eigenartig verängstigten Gesichtsausdruck hatte. Gerade so, als ob sie einen starken Schock erlitten hätte, hatte er nachdenklich bei sich gedacht. Wenn nur die rätselhaften Todesfälle nicht gewesen wären – sie beschäftigten ihn mehr, als ihm lieb war. Drei Tote unter ungeklärten Umständen innerhalb weniger Tage. Und auch Lauren wäre nicht mehr am Leben, hätte ihre Mutter sich nicht gerade noch rechtzeitig gefunden. Es war schon sehr seltsam. Bei ihr und den Toten war ein jäher und hochgradiger Blutverlust festgestellt worden, und nichts hatte dessen Ursache erklären können. Auch die eingehende Obduktion der Leichen hatte nichts zur Klärung beigebracht.

      Das schrille Läuten seines Telefons schreckte ihn in seinem Grübeln auf.

      »Professor Lamondt!«, meldete er sich.

      »Detective Inspector McGinnis, Scotland Yard!«, kam es knapp und präzise zurück. »Ich rufe Sie wegen der mysteriösen Todesfälle in Ihrem Institut an. Chief Inspector Blake und ich würden uns gern mit Ihnen darüber unterhalten. Wir benötigen dringend einige Auskünfte. Wäre es möglich, dass wir noch heute bei Ihnen vorbeikommen?«

      »Aus London?«, erkundigte sich Lamondt verdutzt.

      »Nein, wir sind bereits vor Ort«, erwiderte McGinnis, ohne ihm zu erklären, dass er und Blake eine kriminalistische Vortragsreihe in Edinburgh abhielten.

      »Okay. Selbstverständlich«,


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