Die kuriosen Abenteuer der J.J. Smith 01: Oma Vettel. M.E. Lee Jonas
sich.
»Florence! Oh, freut mich dich kennenzulernen oder wieder kennenzulernen. Also, wo wir jetzt das Wichtigste geklärt haben. Kannst du mir vielleicht sagen, wo ich hier bin? Und was heißt eigentlich: So habe ich es immer getan?«, stammelt sie verwirrt.
Florence, das Sonnentrichterorakel, schließt bekennend die Augen und beginnt, feierlich zu erzählen.
»Jezabel, du bist zu Hause! Besser gesagt, in deinem Hort. Das ist der privateste Ort eines jeden Zauberwesens. Hier werden die Dinge aufbewahrt, die niemand außer dir wissen darf. Es ist quasie deine heilige Stätte. Weißt du, für jeden Besitzer eines Hortes gibt es ein bestimmtes Fleckchen Erde, an dem er sich am sichersten fühlt. Nach diesem Vorbild gestalten die Zauberreichbewohner ihren Hort. Deinen hast du an deinem 6. Geburtstag errichtet. Es ist der Garten deiner Großmutter. Das kannst du jedoch jederzeit ändern! Dieser wunderschöne Garten ist ein rein geistiger Ort und kann von niemandem außer dir betreten werden. Es sei denn, jemand würde einen Zwangszauber benutzen. Das wäre allerdings gegen das Gesetz und würde mit der Eliminierung bestraft. Hier werden alle deine Erinnerungen, Gefühle und Erlebnisse aufbewahrt. Der Stein, den du da so krampfhaft in deinen Händen hältst, ist der Wächter dieses Hortes und ohne ihn kommst du nicht hierher.
Vor etwa acht Jahren hat er dich erwählt, aber du hast ihn abgelehnt. Niemand außer dir kann ihn benutzen, da er deine Vergangenheit bewahrt und damit deine Persönlichkeit. Ohne ihn bist du nichts, außer ein gewöhnliches Wesen. Deshalb nennt man ihn auch das zweite Herz der Zauberwesen. Schau, dahinten, neben der Himbeerhecke, da steht eine Marmorsäule, auf der sich ein Granitsteinring befindet. Dort kannst du ihn ablegen. So kannst du hierbleiben, ohne ihn ständig tragen zu müssen. Na los! Leg ihn auf den Kreis. Ich denke, er hat dir viel zu erzählen!«
J.J. schüttelt ungläubig den Kopf.
»Zauberwesen? Ich bin ein Zauberwesen? Na klar! Willst du mich auf den Arm nehmen? Eine bessere Geschichte ist dir wohl nicht eingefallen? Wo gibt's denn so was? Was kommt als Nächstes? Wahrscheinlich besitze ich auch noch übernatürliche Kräfte?«
Sie legt den Kopf in den Nacken und kichert albern los. Das Sonnentrichterorakel sieht beschämt zur Seite.
»Es gibt keinen Grund, beleidigend zu werden. Es sind natürliche Kräfte, die du besitzt, da sie dir angeboren wurden. Weshalb sollte ich mir etwas Derartiges ausdenken? Und wieso ist der Gedanke, dass du ein Zauberwesen bist, so abwegig? Immerhin sprichst du gerade mit einer Blume!«
J.J. starrt betroffen auf den Stein, in ihren Händen und schluckt.
»Es tut mir leid, Florence. Ich wollte dir nicht zu Nahe treten. Aber versteh doch bitte, dass das was du da sagst, ziemlich kurios für mich klingt.«
»Aber die Dinge, die mir in den letzten Wochen passiert sind, waren auch kurios und angsteinflößend.«
Sie geht zur Marmorsäule und hebt ihren Stein über den Granitkreis.
»Aber wie kann er meine Erinnerungen aufbewahren, wenn ich ihn mit sechs Jahren abgelehnt habe?«, fragt sie plötzlich und zieht ihn ruckartig zurück.
Florence seufzt und überlegt einen Augenblick. Die Aufgabe des Sonnentrichterorakels ist, J.J. diesen Ort zu erklären. In die ungeklärten Familienangelegenheiten darf es sich jedoch nicht einmischen.
»Du hast den Stein berührt, als deine Großmutter ihn dir überreicht hat. In dem Moment wurden all deine Erinnerungen gespeichert. Mittlerweile sind es die der letzten dreizehn Jahre und elf Monate. Nur Mut! Er kann dir alle wichtigen Fragen beantworten. Es sind nur deine Erinnerungen!«
J.J. atmet tief durch und setzt den Stein mit einem Ruck auf die Marmorsäule. Als er auf dem Ring sitzt, schießt ein zartes Licht empor, aus dem kleine, funkelnde Sterne tanzen. Daraufhin ertönt ein tiefer, vibrierender Summton, so als würde man leicht an einer Gitarrensaite zupfen. Der Ton breitet sich in großen Wellen aus und dringt tief in J.J. ein. Sie geht einen Schritt zurück und dreht sich verunsichert zu Florence.
»Wenn du bereit bist, kannst du dir jetzt deine Erinnerung zurückholen«, spricht das Sonnentrichterorakel ruhig.
J.J. wartet einen Moment, aber es passiert nichts.
»Und was jetzt?«, fragt sie schnippisch.
Florence seufzt.
»Ach ja, richtig. Vergessenszauber heißt, alles zu vergessen! Auch wie das Lythargium funktioniert. Du musst dir vorstellen, was du sehen möchtest. Zum Beispiel deinen ersten Geburtstag. Dann entscheidest du, wie du diesen Rückblick wahrnehmen willst. Möchtest du sie nur sehen, stell dir eine Kinoleinwand vor oder einen dieser modernen Fernsehapparate. Du kannst deine Erlebnisse so zurückrufen, wie du es möchtest. Du kannst dich auch direkt in eine Erinnerung schleusen und dich mitten in dem Szenario bewegen. Aber davon würde ich dir im Moment noch abraten! Deine Erinnerungen sind noch nicht vollständig und du könntest dich in solch einer Szene verirren. Das ist dir leider schon einmal vor acht Jahren passiert. Fang lieber langsam an. Na los! Probiere es aus!«
J.J. schließt die Augen und seufzt.
»Das hört sich alles ganz schön gruselig an. Okay, ich muss jetzt einfach nur die Nerven behalten! Vielleicht ist es ja doch nur ein Traum.«
Sie atmet tief durch und sagt dann ganz schnell:
»Zeig mir meinen ersten Geburtstag auf einer riesigen Kinoleinwand!«
Etwas Besseres fällt ihr in diesem Moment nicht ein.
Da erscheint dort, wo gerade noch die Himbeerhecken standen, eine gigantische Kinoleinwand, die von zwei schweren, roten Samtvorhängen eingesäumt wird. So wie die in den richtigen Kinos. Vor Schreck tritt sie einen Schritt zurück und sieht sich ängstlich um. Florence und die Bäume sind noch da, aber die Blütenschaukel hat sich in einen mondänen Kinosessel verwandelt. Sie zögert einen Moment und setzt sich vorsichtig in den Sitz, der erstaunlich bequem ist, sodass sie sofort entspannt. Erwartungsvoll wartet sie, was nun passiert.
Als der Garten sich verdunkelt, atmet sie tief durch und starrt gespannt auf die Projektionsfläche. Eine leise Klaviermusik ertönt und sie kann den Geruch von frischem Popcorn wahrnehmen. Da erhellt sich endlich die Leinwand. Vor Aufregung rutscht J.J. tiefer in den Sitz. Sie überlegt, ob sie nicht doch lieber weglaufen soll, da sie vor dem, was sie jetzt sehen wird, auch Angst hat.
Da erscheinen die ersten Bilder und ziehen sie augenblicklich in ihren Bann. Am Anfang bilden tanzende Buchstaben den Satz »Josie Jezabel Smiths erster Geburtstag!«
Als sie verblassen, geht der Film los:
Ein kleines, fröhliches, blond gelocktes Mädchen mit einer glitzernden Krone auf dem Kopf steht vor einer mehrstöckigen Geburtstagstorte. Es ist aufgeregt und klatscht unentwegt in seine Händchen. Es winkt in die Kamera und zeigt wie in einem Werbespot auf die gigantische Geburtstagstorte, auf der winzige Ballerinas um Schlösser aus bunter Sahnecreme tanzen. Fanfarenbläser stehen auf der Spitze und feuern in regelmäßigen Abständen knallbunte Bonbons aus Kanonen ab. Das Mädchen springt aufgeregt herum und versucht sie alle aufzufangen.
J.J. kann sich nicht wirklich daran erinnern. Aber diese Aufregung kommt ihr sehr vertraut vor.
Plötzlich dreht sich das kleine Mädchen um und starrt J.J. direkt in die Augen, so als könne sie sie sehen. Eine Stimme, die J.J. vertraut scheint, lenkt das Mädchen im Film ab.
»So, kleine Prinzessin. Schau mal hierher!«
Das kleine Mädchen macht einen Luftsprung und jauchzt. Die Kamera schwenkt mit und zeigt eine Reihe erwachsener Personen. J.J. lehnt sich nach vorn, da sie ihren Augen nicht traut. Zwischen den Menschen tummeln sich sehr seltsame Wesen. Und da kommt eine junge, blonde Frau ins Bild und nimmt das Geburtstagskind auf den Arm. Sie stellt sich vor die Runde und herzt das Geburtstagskind, das gerade einem gruseligen Wesen einen Luftkuss zuwirft.
»Das ist meine Mama«, flüstert J.J. traurig.
Ein großer, schlanker, dunkelhaariger Mann geht lächelnd auf die beiden zu und stellt sich neben sie. Dann singen Alle ein fröhliches Geburtstagsständchen.