SCHULD-LOS. Dorothée Linden

SCHULD-LOS - Dorothée Linden


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Augen, Mund, Nase – ein Gesicht. Nicht einmal an ihrem Geruch konnte man sie voneinander unterscheiden. Der Duft hinter den Ohren - identisch.

      Dennoch wusste ich genau, ob ich Frank rechts und Konrad links in meinen Armen hielt oder umgekehrt. Ich liebte sie beide von ganzem Herzen und versuchte, ihnen eine geborgene Kindheit zu geben. Kurt nahm seine Söhne zur Kenntnis, nicht viel mehr. Ab und zu maulte er, wenn sie in seiner seltenen Anwesenheit im Haus nicht seinen Regeln gehorchten. Das Wichtigste war für mich: Er schlug sie nicht. Immerhin.

      Als die beiden aufs Gymnasium sollten, folgte ich der Empfehlung, sie in verschiedene Klassen zu stecken. Die Folge war tatsächlich, dass sie im Lauf der Zeit etwas freier voneinander wurden und ihre eigenen Züge entwickelten.

      In jenem Sommer stellte ich fest, dass ich erneut schwanger war. Wieder wuchs ein Kind in mir heran, das Ergebnis einer der groben, brutalen Nächte jener Wochen. Ich war hin- und hergerissen. Eine Abtreibung war verboten, und ich weiß auch nicht, ob ich das überstanden hätte. Man konnte das in Holland machen lassen, aber ich hatte Angst davor. Mein Vater war inzwischen verstorben. Mutter hatte sich schnell in ihre Rolle eingefunden, allein zurechtzukommen. Sie verwaltete das Familienvermögen mit glücklicher Hand und half mal hier, mal dort.

      Es war an der Zeit, sich ihr endlich einmal anzuvertrauen. Ihre Reaktion überraschte mich. Sie war außer sich vor Wut. Nur wenige Stunden nach unserem Telefongespräch war sie persönlich zur Stelle. Sie wartete tagelang an unserer Seite, bis Kurt endlich auftauchte, übermüdet und verwahrlost nach fast einer Woche zielloser Beutezüge. Sie schrie ihn an, schimpfte mit Ausdrücken, die ich ihr im Leben nicht zugetraut hätte. Sie setzte ihn kurzerhand vor die Tür. Einfach so. Mit einer Autorität, die keinen Widerspruch duldete, lauthals zeternd und hinter ihm her fluchend. Er sei ein brutaler Verbrecher, von ihrem Geld hätte er die längste Zeit genommen. Keinen Pfennig würde er der Familie jemals wieder rauben. Das schien ihn zu überzeugen, denn dann war er weg. Anstandslos. Mit zwei eilig zusammengepackten Taschen und sonst nichts. Ich war perplex von Mutters Ausbruch, erleichtert und zutiefst dankbar. Vera gebar ich in friedlicher Atmosphäre. Die Jungen bestaunten das kleine Wesen, und wir hatten erst einmal Ruhe.“

      Tante Lore seufzte und schloss ihren Bericht mit Martins Erscheinen in der Familie: „Als wir Dich aufgenommen haben, war ich sehr glücklich, dass mein Mädchen endlich einen Freund und Gefährten haben würde. Die Brüder waren ja um so vieles älter“. Sie hielt einen Moment inne. Erneut legte sich ein finsterer Blick auf ihre Miene.

      „Du gehörst zu unserer Familie. Das weißt Du, das wissen alle.“

      Martin war froh, dass sie gleich weitersprach. Er hätte keinen passenden Kommentar zu ihren Schilderungen geben können.

      „Du bist Bestandteil dieser Familie“, wiederholte sie, „aber eben doch nicht mein eigenes Kind. Ich hätte Dich gerne adoptiert, aber dafür hätte ich die Zustimmung Deines Vaters gebraucht.“

      „Worauf will sie eigentlich hinaus?“, fragte sich Martin und rutschte unruhig auf dem Art-Deco-Sessel hin und her.

      „Ich bin gleich soweit. Ich erzähle Dir das alles nicht einfach so, sondern aus einem ganz bestimmten Grund“, sagte sie. Sie kannte ihn wirklich gut.

      „Ich habe mich beraten lassen, und es geht nur so, wie ich es Dir jetzt schildern werde.“ Sie nahm drei Umschläge aus einer Mappe, die sie die ganze Zeit schon neben sich liegen hatte. Die Angelegenheit wurde immer kryptischer.

      „Da Du nicht mein leibliches Kind bist, wirst Du keinen Anspruch auf mein Erbe haben.“

      „Aber, Tante Lore!“

      „Nun warte doch erst einmal“, sagte sie und streckte ihm einen der Umschläge entgegen. „Das ist für Dich! Ich habe dazu folgende Bitte, hör mir genau zu. Du darfst niemanden von unserer Unterredung erzählen und auch niemandem von diesem Umschlag und seinem Inhalt, auch nicht Deiner Frau. Und Du sollst ihn – wenn Du es aushalten kannst – erst nach meinem Tod öffnen. Verwahre den Umschlag sicher, am besten in einem Schließfach.“

      Sie entnahm der Mappe einen kleinen Schlüssel.

      „Ich habe schon eins gemietet, auf Deinen Namen. Du musst bei der Bank noch eine Unterschrift hinterlegen und künftig die Gebühren selbst bezahlen. Für dieses Jahr habe ich das im Voraus erledigt.“

      „Was ist in dem Umschlag?“, fragte Martin. „Ich möchte nicht, dass Du Dich verpflichtet fühlst, mir irgendwas zu geben. Du hast schon so viel für mich…“

      „Basta“, fiel sie ihm ins Wort. „Du bist mir wie ein eigener Sohn. Ich mache das ganze Trara auch nur, weil ich keinen Streit und keine Auseinandersetzung will, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe Dir lang genug erklärt, dass und warum ich Streit nicht leiden kann und Frieden brauche.“

      Martin kramte fieberhaft in seinen rudimentären Kenntnissen erbrechtlicher Zusammenhänge. Er kam aber nicht weit. Schon wedelte Lore mit dem nächsten Umschlag, der mit „2“ beschriftet war. „Ich habe endlich alles geregelt und ein Testament errichtet. Es liegt beim Notar. Ich habe mit ihm besprochen, dass er meinen Kindern dieses Testament nach meinem Tod persönlich zur Kenntnis bringen soll. Sobald Du von der Testamentseröffnung erfährst, liest Du bitte den Brief, der in diesem Umschlag steckt. Auch ihn musst Du sehr sorgfältig verwahren.

      Schau nicht so, ich habe meine Gründe. Und ich habe keine Freude, diesen etwas umständlichen Weg einzuschlagen. Natürlich hätte ich das alles auch dem Notar auftragen können. Aber ihn geht das nichts an. Reine Familiensache.“

      Martin hatte den Eindruck, schon lange nicht mehr so verqueres Zeug gehört zu haben. Das war doch gerade der Job des Notars. Und Schweigen seine oberste Pflicht. Aber er sagte besser nichts. Wenn sie schon mal einen Gefallen von ihm erbat, dann war das eigentlich in Ordnung. Außerdem wirkte sie so entschlossen. Aber reichlich merkwürdig und ein bisschen verschroben hörte sich das schon an.

      „Dieser dritte Umschlag betrifft den schmerzlichsten Teil der Angelegenheit.“

      „Du meine Güte, was würde denn noch alles kommen“, dachte Martin, der anfing, sie für ein klein wenig verrückt zu halten.

      „Ich hoffe sehr, dass er erst gar nicht benötigt wird. Im Umschlag „2“ steht die Anweisung, ob, wann und unter welchen Umständen Du diesen dritten Umschlag öffnen musst. Ich brauche nicht zu wiederholen, dass Du auch ihn ganz besonders und sicher verwahren musst. Es befindet sich ein weiteres Kuvert darin, mit einer Erklärung von mir, die, so der Herrgott es will, niemals gelesen werden muss. Du bist solcherlei Dinge kundig. Deswegen glaube ich, diese Dokumente in die richtigen Hände zu geben. Ich bin froh, dass wir das endlich erledigt haben. Und sieh zu, dass Du alles in Sicherheit bringst.

      Ich schlage Dir die Zimtschnecken in Papier, Du hast ja gar nichts davon genommen.“

      Sie war aufgestanden, mit der Schale in der Küche verschwunden und kurz darauf mit einem Päckchen Alufolie zurückgekommen. So weitschweifig sie bis dahin gewesen war, nun war die Veranstaltung ganz offensichtlich beendet. Martin hatte sich pflichtschuldig französisch verabschiedet, Küsschen rechts, Küsschen links – wer hatte eigentlich diese Nationalspezialität aus Frankreich hierher verschleppt? – und die Tür hinter sich zugezogen.

      VI

      Frank sah Katja schon, noch bevor sie ihn erblicken konnte. Er hatte kurz abgewogen, ob er das Wochenende in Paris hätte stornieren sollen, so kurz nach Mutters Tod. Andererseits: Die Geschäfte gingen weiter, Vera würde das schon machen. Er hatte seiner Schwester dafür versprochen, das mit der Testamentseröffnung zu erledigen, wenn er Konrad endlich mal erreicht haben würde. Als Katja ihn endlich in der Menge der wartenden Abholer ausfindig gemacht hatte, winkte sie freudig. Er nickte nur. Sie kam durch die Absperrung, lief mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zu, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf den Mund.

      „Ich hoffe, Du hattest einen angenehmen Flug?“

      „Oh, wie schön Dich zu sehen! Paris, oh Paris. Es war eine so gute Idee, dass wir uns in Paris und nicht in Berlin treffen“, sagte sie.

      Ihr


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