SCHULD-LOS. Dorothée Linden

SCHULD-LOS - Dorothée Linden


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nachdem Lore gestorben war, wäre es möglicherweise das letzte Mal, dass er Zugang zu dem Haus haben würde, sollten sie es tatsächlich verkaufen. Sein Asylheim, wie er es früher des Öfteren für sich genannt hatte. Er bog links ein in die Straße, die zum Rhein hinunterführte. Die rechte Straßenseite war komplett zugeparkt, er musste sich mit einem entgegenkommenden Fahrzeug über die anzusteuernde Lücke einig werden. Auf der linken Seite das Restaurant „Rheinstube“. Das war bei ihnen damals durchgefallen. Schon im Eingangsbereich hatte es mehr als abgestanden gerochen und die olfaktorische Schmerzgrenze bei weitem überschritten. Dagegen waren sie beim Italiener schräg gegenüber sehr lecker beköstigt worden, wenn er mit Lore und Vera so manches Mal dort eingekehrt war. „Sankt Sebastianus“. Konrad hatte ihm damals erzählt, dass man sich mit so einer Minigemeinde gar nicht erst abgeben solle. Deshalb waren sie immer bis nach Malkum geradelt. Dort gab es schon etwas angemessenere Dimensionen, hatte Konrad befunden. Nicht so eine schiefe Mutter-Gottes-Figur, außerdem genügend Platz für Chor und Orgel. Das hatte auch Martin eingeleuchtet.

      Hinter der nächsten Kurve hatte sich inzwischen ein Malermeister niedergelassen, wie Martin dem Schild im Vorgarten entnahm. Früher waren dort die Möltgens zu Hause gewesen, mit zwei Söhnen, so um die 16, 17 Jahre alt. Die Eltern hatten einen Gasthof in Güderich gehabt. An den Wochenenden arbeiteten sie beide im Betrieb und kamen oft erst in den frühen Morgenstunden nach Hause oder blieben ganz dort. Die Typen hatten deshalb ziemlich oft sturmfrei gehabt.

      Im Sommer waren da drüben höchst interessante Feste gestiegen. Vera und er hatten sich oft im obersten Stockwerk im Wäschezimmer aufgehalten und sich in das weit geöffnete Fenster gesetzt. Von dort hatten sie den vollständigen Überblick über das, was bei den Möltgens im Garten so ablief und waren über die Phasen der Feten gut im Bilde. Sie hatten mit der Zeit eine Regelmäßigkeit festgestellt, mit der der Abend seinen Lauf nahm. Von ihrem Posten aus beobachteten sie, ob die Sache nach einem unabgesprochenem Schema abging oder ob es Ausreißer gab. Bis zehn Uhr war eigentlich nie so richtig was zu sehen. Diese Phase schien einzig dazu gut zu sein, so richtig in Fahrt zu kommen. Es wurden Apfelkorn, Asti Spumante, Altbier aus der Flasche und Colamixgetränke herumgereicht. Das konnten sie durch ihr Fernglas gut erkennen. Die Musik war dröhnend laut und schallte bis zum Rhein hinunter. Hardrock, E-Gitarre, rauchige Stimmen. Manchmal überstand einer der Gäste schon diese erste Phase nicht und erleichterte sich in der Ecke bei den großen Wacholderbüschen. Ab zehn wurde die Musik noch weiter aufgedreht. Beschwerden aus der Nachbarschaft waren erstaunlich selten, auch wurde eigentlich nie die Polizei gerufen, selbst wenn die Bässe durch die Nachbarschafft wummerten. Bei Ostwind wurde der Schall hingegen zum Rhein hinunter getragen, und da war ja keiner mehr um die Zeit. Einzelne Spaziergänger mochten sich allenfalls amüsieren über die verrückte Jugend, und jenseits des Rheins wurde der Lärm ganz sicher von den Wiesen und Böschungen des anderen Ufers geschluckt. Bei „Heinz Jupp“, dem Lokal schräg gegenüber, konkurrierten schon bald die grölenden Kerle, die sich nach etlichen Zechrunden alter Kameradenlieder erinnerten. Was natürlich im musikalischen Gesamteindruck wenig Harmonie versprach. Bei Möltgens unten im Garten drehten sie inzwischen Zigaretten.

      „Joints“, klärte Vera ihn auf. „Davon wird man richtig high, man darf sich nur nicht erwischen lassen.“

      Martin fragte sich, woher sie das nun schon wieder wusste. Was die Wirkung betraf, war ihre Einschätzung ganz augenscheinlich zutreffend. Bald standen die ersten Jungs in Grüppchen auf dem Rasen, tief in die Knie gehend, den Oberkörper schräg nach hinten geneigt. Sie waren mit einer imaginären E-Gitarre, einer schicken „Gibson“ womöglich, ausgestattet, die linke Hand am Griffbrett, die rechte in die Saiten schlagend. Trotz der Kippe im Mundwinkel schafften sie es, dumpfe Bamm-bam-bamm-Laute auszustoßen. Im Rhythmus der Bässe, die aus den Boxen auf der Terrasse dröhnten, zuckten ihre Körper, schon in Ekstase. Das Ganze endete in der Regel damit, dass sich überall verteilt Pärchen bildeten, die sichtbar aneinander rumfummelten und sich schließlich auf die Suche nach einem bequemeren Plätzchen begaben. Mehr konnte man leider nicht sehen vom Posten oben im Fenster. Es war inzwischen stockdunkel, und die Liebespaare hatten sich unter Sträucher oder auf die Matratzen im Partykeller - das war Veras Vermutung - zurückgezogen. Martin erinnerte sich, dass es nur einmal eine echte Abweichung von diesem Verlauf gegeben hatte. Einer der Gäste hatte ein paar größere Jungen mit angeschleppt. Vera und er hatten die Neuen eine ganze Weile durchs Rohr beobachtet, bis Vera sagte:

      „Die machen Geschäfte!“

      „Wie, Geschäfte? Was für Geschäfte denn?“

      „Na, die wollen den Kleinen Stoff verkaufen. Hasch, Heroin und so Zeugs.“

      „Au Scheiße“, sagte Martin, der gerade mit dem Fernglas dran war, um das Geschehen näher zu inspizieren. „Der mit der dicken Brille hat ein Klappmesser springen lassen. Komm, wir rufen die Polizei.“

      „Bist Du wahnsinnig? Am Ende werden die allesamt abgeführt, die ganze Gesellschaft, und wir sind die Verräter.“

      „Stimmt auch wieder“, sagte Martin. „Dann lass uns überall die Lichter anmachen, vielleicht vertreibt sie das.“

      „O.k.“, sagte Vera.

      Sie verließen ihren Posten und knipsten in allen Zimmern auf der Ost- und der Südseite des Hauses die Lampen an, nur in ihrem Beobachtungsraum nicht. Sie schauten aus dem Dunkel über das Fenstersims nach drüben. Etwas geblendet von der Flut des Lichts konnten sie immerhin gerade noch erkennen, dass sich die Geschäftemacher verzogen, und kurz darauf hörte man sie auf ihren Motorrädern rasch davonfahren. Danach war es ruhiger geworden, und die Party hatte ihren Lauf genommen.

      Martin riss sich aus seinen Gedanken und schaute über den Zaun. Zu Pyramiden akkurat geschnittene Buchsbäume zierten den Vorgarten und verhinderten einen Blick auf den Eingangsbereich. In diesem Ambiente wurden sicher keine wüsten Partys mehr gegeben. Aber die Zeiten hatten sich sowieso geändert. Der neueste Trend kam mit Kopfhörer-Partys daher. Leon hatte ihnen neulich beim Abendessen erzählt, dass auf einer Silent-Disco im In- oder Outdoorbereich jeder einen Funk-Kopfhörer trage, der von einem DJ mit zwei alternativen Musikstücken beschickt werde. Dazu werde getanzt. Als Ella und er schwallartig mit Argumenten kamen, wie bescheuert das denn sei, hatte Leon nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: „Ist eben so.“

      Bei Möltgens jedenfalls war immer gut was los gewesen. Bis sie eines Tages von jetzt auf gleich verschwunden waren. Es waren zwei Lastwagen vorgefahren, sie hatten ihr ganzes Hab und Gut darin verstaut, und dann waren sie weg gewesen. Niemand konnte sagen, wohin es sie verschlagen hatte.

      Martin klingelte und schloss die Tür auf. Vera kam ihm entgegen und umarmte ihn. Sie trug eine enge Jeans und ein rotes T-Shirt, darüber ein kariertes Flanellhemd, das ihr viel zu groß war. Die Ärmel hatte sie hochgekrempelt.

      „Schön, Dich zu sehen“, sagte er. „Weißt Du eigentlich, was aus den Möltgens geworden ist? Ich habe eben an unsere Beobachtungen oben vom Fenster aus denken müssen.“

      „Bamm bam bamm“, machte Vera und mimte die Phantom-E-Gitarristen nach. Sie lachten.

      „Oh, und dann die Sache mit dem Klappmesser“, sagte Vera. „Nein, keine Ahnung, was aus denen geworden ist. Man hat in der Straße getratscht, dass es mit dem Gasthof wohl bergab gegangen sei. Nein, Genaues kann ich Dir nicht sagen. Aber die Neuen sind die echten Langeweiler. Da rührt sich überhaupt nie was. Nur, wenn ich bei geöffneter Tür am Klavier sitze, was ja wirklich nur selten vorkommt, ich bin ja praktisch nie da, ist er flink dabei, der Alte. ‚Fenster zu!‘, brüllt er dann, ,das ist ja nicht zum Aushalten nicht.‘“

      „Dem kann man doch sicher mal die Meinung sagen.“

      „Ach, das lohnt sich nicht für die paar Male. Und jetzt ist die Zeit ja auch zu Ende.“

      „Es ist wunderbar hier, Vera. Ihr könnt das Haus nicht weggeben. Wer soll sich das überhaupt leisten können? Es ist ein Vermögen wert.“

      „Lass uns nicht darüber streiten“, sagte Vera. „Vielleicht hat Mutter es ja Dir vermacht, Du warst immerhin Mamas Liebster.“

      „Mach Dich nicht lustig über mich. Heißt das, Ihr wisst gar nicht, ob es ein Testament gibt und


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