Tödlicher Nordwestwind. Lene Levi

Tödlicher Nordwestwind - Lene Levi


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peinliche Polizeiaktion erinnern bis auf Robert.

      „Herr Rieken, kommen Sie mal bitte!“ Der Kriminaldirektor winkte Robert zu sich ins Büro. Er kannte inzwischen die Obduktionsergebnisse der Rechtsmedizin, da Robert ihm diese am Vorabend auf seinen Schreibtisch gelegt hatte. Jetzt wollte er dringend weitere Details erfahren. „Ich stehe erst am Anfang meiner Ermittlungen und kann Ihnen noch nichts Konkretes sagen. Wir werden zunächst versuchen, die Identität des Mannes zu klären.“ Robert wendete sich ab und verließ das Büro. Über das Tattoo und die rätselhafte Uhrverzierung wollte er mit seinem Chef noch nicht sprechen.

      Auch Jan wartete bereits voller Anspannung im Büro. Er hatte die neu eingerichtete Pinnwand entdeckt, konnte sich aber noch kein genaues Bild von diesem Fall machen. Er hatte die Kaffeemaschine angeschmissen, denn er wusste, dass Robert nichts mehr hasste, als die lauwarme braune Brühe, die der Automat draußen auf dem Flur ausspuckte. Jan betrachte das Foto des Toten auf der Pinnwand und konnte einen Anflug von Ekel nur schwer unterdrücken, als Robert endlich zur Tür hereinkam.

      Robert zog seine Jacke aus und hängte sie über die Lehne des Schreibtischsessels und sagte: „Ah, gut, dass Sie schon hier sind.“

      Jan brachte nur ein schwaches ‚Moin‘ heraus.

      „Wie Sie vielleicht schon herausgefunden haben, handelt es sich hier um einen Mordfall. Wir müssen zunächst die genaue Identität des Toten ermitteln. Und genau diesen Job werden Sie heute als Erstes erledigen.“

      Als Robert keine weitere Erklärung abgab, sagte Jan: „Ihr Kaffee steht auf dem Schreibtisch.“

      Robert löffelte reichlich Zucker in das Getränk und kippte dann so viel Milch hinein, dass sein Mitarbeiter sich fragte, warum er sich überhaupt mit einem koffeinhaltigen Getränk abgab.

      „Sie wissen jetzt, was zu tun ist?“, fragte Robert. Er ließ sich in den Sessel zurücksinken, nahm einen Schluck des heißen Getränkes und atmete aus. Jan blickte seinen Vorgesetzten etwas ungläubig an. Diese Art von rigoroser Zielstrebigkeit hatte er zuvor bei ihm noch nie erlebt. Robert bemerkte Jans leichte Irritation und setzte deshalb gleich nach: „Durchforsten Sie die ganze digitale BKA-Vermisstenkartei. Alle hierzu relevanten Informationen entnehmen Sie dem Untersuchungsbericht: Alter des Toten, Haarfarbe, Körpergröße, angenommener Todeszeitpunkt etc. Falls Sie jemanden finden, der in unser Suchraster passt, kopieren Sie das Ergebnis und übergeben ein Exemplar an Kriminaldirektor de Boer. Mich werden Sie telefonisch darüber auf dem Laufenden halten. Ich werde unterdessen versuchen, die einzige Spur zu verfolgen, die ich im Augenblick habe.“

      Jan atmete erleichtert auf. Er befürchtet schon, ins Gerichtsmedizinische Institut geschickt zu werden, um vor Ort an der Leichenschau teilzunehmen, so wie er es auf der Polizeiakademie gelernt hatte. Aber dieser unangenehme Kelch ging an ihm offensichtlich vorüber. Er nickte nur zufrieden und setzte sich vor seinen PC. Robert steckte sich die Plastiktüte mit der Armbanduhr in eine der Innentaschen seiner Jacke, warf sie sich über die Schulter und verließ eilig das Büro.

      ***

      Die Geschäftsführerin des Juweliergeschäftes, Inga von Beckerath, eine schlank gehungerte Mittvierzigerin im schwarzblauen Stretch-Hosenanzug, an dessen beiden Beinöffnungen zwei Stilettos herausragten, erwartete Robert bereits eine Stunde später in ihren Geschäftsräumen in der Bremer Innenstadt. Sie war sehr neugierig auf die Uhr.

      „Sie haben vollkommen recht, Herr Kommissar, normalerweise setzt der Hersteller in jedes Uhrengehäuse eine Seriennummer ein. Damit verfolgen wir im Zentralregister alle Wartungen und Reparaturen. Das gehört einfach mit zum Service von Jaeger LeCoultre und ist fester Bestandteil unserer Firmenpolitik.“

      Robert schien zuerst nicht zu wissen, was er sagen sollte, erwiderte jedoch schließlich: „Ich habe mir die Uhr bereits mehrfach angesehen, konnte aber bisher keine Nummer entdecken. Vielleicht handelt es sich bei dieser Armbanduhr doch um eine Fälschung?“

      Sie musterte ihn von oben bis unten.

      „Sehen Sie, kaum ein berühmtes Uhrenmodell bleibt heutzutage vor einem billigen Imitationsversuch verschont. Solche gefälschten Uhren gibt es ja inzwischen bedauerlicherweise von jedem Markenprodukt in großen Mengen. Manche dieser Exemplare sind sogar kaum von einem Original zu unterscheiden. Nur bei einer Reverso kann dies nicht passieren. Entweder wirkt das Imitat so plump, dass es sich auf den ersten Blick als solches sofort entlarvt, oder sie gelingt so perfekt, dass solch eine Uhr letztlich teurer wäre als das Original selbst. Also lässt sich Ihre Frage wahrscheinlich ganz schnell beantworten, Herr Kommissar. Zeigen Sie mir mal bitte das gute Stück.“

      Robert fingerte das Asservat aus der Plastiktüte und legte es auf ein mit dunkelrotem Samt bezogenes Tablett, so dass die Juwelierin einen ersten oberflächlichen Blick drauf werfen konnte.

      „Also, ich würde sagen, es ist eine Reverso Gran` Sport Duo für Herren, Kaliber 851, automatisches Uhrwerk, Gehäuse: Stahl, drehbar, Saphirglas, Armband: Stahl mit Faltschließe, Funktionen: Tag, Stunde, Minute, Sekunde aus der Mitte, 50 Meter wasserdicht, 4 Leuchtpunkte.“ Dann unterbrach sie sich, um Luft zu holen. „Leider ist das Saphirglas defekt. Ein Umstand, den ich mir übrigens nicht ganz erklären kann, denn Saphirglas ist fast so hart wie ein Diamant.“

      Inga von Beckerath, die die ganze Zeit sprachlich über den spitzen Stein gestolpert war, setzte sich nun eine Lupenbrille mit verstellbarer LED-Lampe auf und betrachtete die Details der Uhr.

      „Sehen Sie? Die Nummer ist etwas versteckt.“ Sie begann mit geübten Griffen, den Chronografen genauer zu untersuchen. „Sie befindet sich unterhalb der Gehäuseseite, genau dort, wo das Armband aufliegt. Ich werde jetzt ganz einfach das Blockiersystem lösen und das Gehäuse umklappen.“

      Die Fachfrau sah jetzt fast wie ein stiläugiges Alien aus. Doch schon im nächsten Augenblick veränderte sich schlagartig ihr Gesichtsausdruck und sie tastete eifrig mit schlanken Fingern nach dem Rädchen am Brillenrand, um damit die Brennschärfe zu justieren.

      „Moment mal.“ Ein merkwürdiger Schimmer huschte über ihr Gesicht. „So etwas Einzigartiges habe ich ja noch nie gesehen!“

      Hastig streifte sie die Lupenbrille von ihrer Nasenspitze.

      „Diese Uhr ist keine Fälschung, Herr Kommissar. Zur Glanzzeit des Art déco gelang der Firma Jaeger LeCoultre mit der Reverso eine wahrlich uhrmacherische Meisterleistung. Normalerweise wird jedes Exemplar mit einer Seriennummer ausgeliefert. Bei dieser Uhr ist das jedoch nicht der Fall, denn es handelt sich hierbei zweifelsfrei um eine streng limitierte Sonderanfertigung.“

      Er betrachtete sie eindringlich, wollte nichts Falsches von sich geben und sagte dann doch unverblümt: „Wollen Sie etwa auf die kitschige Verzierung anspielen?“

      Für einen kurzen Moment herrschte eisige Stille. Im gleichen Augenblick bemerkte Robert, dass er mit seiner unüberlegten Äußerung in ein Fettnäpfchen getreten war. Die Fachfrau gab sich brüskiert.

      „Von wegen kitschige Verzierung!“ Sie biss sich unentschlossen auf die Lippe und schüttelte den Kopf. Dann betrachtete sie erneut die Uhr durch das Vergrößerungsgerät. „Sehen Sie. Auf Wunsch eines Kunden wurde wahrscheinlich die Rückseite dieser Armbanduhr mit einer ganz exquisiten Juwelierarbeit verziert. Im firmeneigenen Studio in Le Sentier erschaffen spezialisierte Künstler bis heute solche kostbaren Miniaturen. Sie verwenden dabei oft auch lupenreine Edelsteine, Emaille-Ziselierungen und 585er-Goldeinfassungen. Dabei übertreffen die Preise für aufwendige Juwelierarbeiten schnell den Wert der restlichen Uhr. Dies scheint hier der Fall zu sein.“

      Robert versuchte seine letzte ungeschickte Bemerkung auf einen geringeren Kollateralschaden zu reduzieren und sagte jetzt etwas kleinlaut: „Und ich dachte als Laie, es wäre nur billiger Strass. Ich bitte dies zu entschuldigen.“

      „Sehen Sie selbst! Dieser Smaragd zum Beispiel, der in die Mitte der Miniatur eingefügt wurde, blickt auf eine lange Geschichte zurück. Der Edelstein, der wie der Aquamarin zur Mineralfamilie Beryll gehört, war schon zur Zeit der ägyptischen Pharaonen ein beliebtes Statussymbol. Er wirkt hier wie ein grünes Auge neben den vielen anderen Edelsteinen und Diamantsplittern.“

      Robert,


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