Die Rache der Zarentochter. Tatana Fedorovna
Blut klebt nun auch an deinen Händen“, flüsterte sie und blickte uns schaurig verschwörerisch an. „Das Leid ist nicht mehr aufzuhalten.“
Sie klang, als verabschiedete sie sich schon jetzt von ihren Kindern – für immer.
Wir waren noch mehr verängstigt. Panik erfüllte endgültig unsere Herzen. Dieser Tag gehörte zu den Schlimmsten.
„Ich will noch nicht sterben!“, bat der Zarewitsch ängstlich.
Ich strich ihm tröstend über sein tropfnasses Haar und konnte die eigenen Tränen nicht länger zurückhalten.
„Olga?“ Aljoscha sah mich fragend und um Hilfe bittend an. Die Situation überforderte ihn, obwohl er durch seine Krankheit schon oft an der Schwelle des Todes gestanden hatte.
„Ich passe auf dich auf“, flüsterte ich in sein Ohr und benetzte ihn nun auch noch mit meiner Trauer.
„Niemand soll dir jemals Leid zufügen. Dann bekommt er es mit mir zu tun!“
Aljoscha lächelte dankbar und drückte meine Hand.
Auch aus Vaters unermesslich traurigen Augen ergossen sich in einem dünnen Rinnsal Tränen in seinen Bart. Er war sich seiner eigenen Unfähigkeit bewusst, fand jedoch keinen Ausweg.
In der Tür erschien ein Staatssekretär. Irritiert nahm er die Tränen im Gesicht des Zaren wahr.
„Majestät, Sie werden erwartet!“
Meine Mutter winkte meinen Vater ab.
„Geh nur zu den Verrätern, berate dich mit ihnen! Du hast mich enttäuscht! Lecke dem Gesindel ordentlich den dreckigen Arsch!“
Wir schauten sie pikiert über die ungewöhnlich deftige Wortwahl an. Die Welt war wirklich aus den Fugen geraten.
Papa wischte sich mit dem Uniformärmel die Tränen ab und erhob sich schwerfällig. Einige seiner Orden schepperten dabei traurig. Das Geschehen wirkte unwahr, verloren, wie hinter einem Schleier.
Unser Vater schien mir um Jahre gealtert. Sein Gang war nicht mehr der eines russischen Zaren. Ein erschöpfter alter Mann zog ein letztes Mal in eine nicht zu gewinnende Schlacht. Sein Schwert war aus Holz, das seiner Gegner aus Stahl. Er hatte jedoch keine Wahl. Sein aufgesetztes Lächeln, das uns Kinder ermutigen sollte, war eine offensichtliche Lüge. Angst schnürte mir die Kehle zu. Papa würde uns nicht mehr beschützen können. Das wurde mit unmittelbar klar.
Mama sah mir in die Augen und musterte dann meine Erscheinung. Sie hatte offensichtlich einen Entschluss gefasst. Ein eigenwilliger Funke leuchtete in der Trübnis ihres Blickes auf.
„Geht jetzt bitte!“, forderte sie uns Mädchen auf. Nur den Zarewitsch drückte sie noch fester an sich.
Was sollten wir tun? Wir erhoben uns.
Mama wandte sich unerwartet direkt an mich: „Olga, halte dich bereit. Komm bitte allein in zwei Stunden zu mir. Ich muss noch etwas Wichtiges mit dir zusammen erledigen. Sei pünktlich!“
Das Elixier
Als ich nach exakt zwei Stunden zurückkehrte, war Mama ganz allein im Raum. Auch der Zarewitsch war inzwischen fort. Im Vorraum fielen mir zehn schwer bewaffnete Kosaken unserer Leibwache mit entschlossenen Gesichtern auf. Ihr Hiersein in so großer Zahl war ungewöhnlich. Niemand von ihnen wagte ein Geräusch zu machen. Sie wirkten wie große Schaufensterpuppen. Die Stille war geradezu gespenstisch. Es lag Spannung in der Luft. Was bedeutete das alles? Normalerweise hielten die Leibwächter sich überhaupt nicht in diesem Teil des Palastes auf.
Ohne ein Wort zu sagen und scheinbar ihre letzte Willenskraft zusammennehmend, erhob Mama sich mühsam, jedoch entschlossen von dem samtenen Sofa, auf dem sie geruht hatte. Sie winkte mir. Ich folgte ihr wortlos. Was sollte ich auch sagen? Die Kosaken eskortierten uns schweigend. Tür für Tür öffnete sich. Wir stiegen über verborgene Treppen und durch Geheimtüren tiefer und tiefer. Wohin gingen wir überhaupt? Noch nie war ich in diesem im Untergrund verborgenen Teil des Palastes gewesen. Unser Palais war ohnehin recht groß, vielleicht eine der größten Residenzen der Welt.
Zuweilen versuchte eine der dort platzierten und im Geheimen ihren Dienst leistenden Wachen uns sogar den Weg zu verweigern.
Mama drohte dann stets: „Ich bin die Zarin! Tritt zur Seite oder du stirbst sofort!“ Unsere Leibwache fasste dann jedes Mal zur besseren Verdeutlichung die Gewehre fester. Meine Mutter und die Männer wirkten zu allem entschlossen. Die Kosaken würden schießen. Man konnte sich auf sie verlassen. Das fühlte ich genau, denn ich stand selbst einem Reiterregiment seit meinem sechzehnten Lebensjahr als Hauptmann vor und kannte die Soldaten. Das kleine Kommando bereitet mir große Freude und war ein Privileg, welches ich Vater abgetrotzt hatte, nachdem die Besetzung durch die Erkrankung des Zarewitsch vakant war. Zarensöhne erhielten stets ein eigenes Kosakenregiment, um sich als Befehlshaber zu üben. Meine Ernennung als Prinzessin war ein Bruch mit der alten Konvention und zeigte, wie aufgeschlossen mein Vater war. Ich ritt inzwischen verdammt gern und konnte es mit so manchem männlichen Rekruten aufnehmen. Einer der Feldwebel trainierte mich sogar drei Mal die Woche in asiatischer Kampfkunst, die er in China erlernt hatte. Er bezeichnete mich als seine talentierteste Schülerin. Vielleicht lag das daran, dass ich als Mädchen und Tochter des Zaren doppelt ehrgeizig war. Vater nahm meine Fortschritte mit Erstaunen zur Kenntnis. Mutter hatte meine militärischen Avancen zuerst abgelehnt, aber bei Ausbruch des Krieges dann doch stillschweigend gebilligt. Zumindest kritisierte sie mich nicht mehr.
So drangen wir im Laufe einer Stunde bis in die Gänge unterhalb der sogenannten geheimen Schatzkammern vor, wie Mama mir nebenbei erklärte. Auch hier gab es noch Wachen. Wir kamen zu einem Tunnel, von dessen Existenz wohl nur ganz wenige Eingeweihte wussten. Er verlief recht steil nach unten. Feuchtigkeit tropfte von der niedrigen Decke. Es roch unangenehm modrig. Wir waren inzwischen so tief, dass ich Furcht hatte, dass die Erdmassen über uns herunterbrechen und uns begraben könnten.
Mama hielt inne und wendete sich der Eskorte zu. „Wenn ihr jemals erzählt, dass ihr hier wart, werden eure Familien sterben!“ So rigoros hatte ich sie nie zuvor erlebt. Für mich war sie immer meine Mama, jetzt gab sie sich als die wirkliche Zarin in der Tradition Katharinas der Großen und zeigte zudem, dass in ihr auch noch das kämpferische blaue Blut ihrer germanischen Vorfahren pulsierte. Es übernahm in dieser Krisensituation die Regentschaft. Ich musste davon etwas abbekommen haben, gestand ich mir spöttisch ein.
Die Leibwachen zuckten mit keiner Wimper. Auf die Kosaken war seit Jahrhunderten Verlass.
Wir kamen nun zu einem Raum, dessen eiserne Tür mit großen Schlössern verriegelt war. Er war wohl unser Ziel. Davor standen erneut zwei bewaffnete Posten, die uns erstaunt anblinzelten. Hierher kam sonst wohl nie jemand außer ihnen selbst.
„Tretet beiseite!“, befahl meine Mutter herrisch und zog ein Schlüsselbund aus ihrer Tasche.
„Das dürfen wir nicht!“, beharrte einer der beiden trotzig auf seinem Befehl.
„Ihr wisst, wer ich bin?“ Meine Mutter sah sie wütend an. Sie duldete heute keinen Widerspruch.
Beide nickten eifrig.
„Ich bin hier das Gesetz und mein Befehl steht im Moment über jedem anderen. Ihr widersetzt euch eurer Zarin.“
Sie nickte den Männern zu: „Erschießt sie!“
Die Kosaken senkten eifrig die Gewehre, um dem Befehl gleich nachzukommen.
„Nein, wir gehorchen!“, bat der arme Kerl entsetzt mit erschrocken aufgerissenen Augen und fiel auf die Knie.
„Gnade! Bitte! Ich war verwirrt von eurem ungewohnten Anblick hier“, stammelte er. „Ich bin nur ein gewöhnlicher Dummkopf!“
Mama blickte kurz auf unsere Begleiter: „Nehmt ihnen zur Sicherheit die Waffen ab, aber verschont sie noch einmal!“
„Widersprich niemals wieder deiner Zarin!“, forderte sie