Auf Biegen oder Brechen. Thomas Hölscher

Auf Biegen oder Brechen - Thomas Hölscher


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aber in solchen Phasen fand er keine Ruhe mehr: Alles, was er tat kam ihm sinnlos vor, was er sich vorgenommen hatte, erschien ihm dann zuviel, er würde es niemals schaffen. Er war eben ein Versager. Er hatte soviel Zeit und verbrachte sie fast ausschließlich damit, sich selber Vorwürfe zu machen. Und wenn er das nicht mehr aushielt, besoff er sich wieder, und bereits nach ein paar Schlucken Alkohol war es ihm, als fiele er in ein unendliches Zeitloch, in dem man Ruhe finden konnte und in dem kein Plan unerfüllbar war.

      Der Morgen war jedes Mal schrecklich. Man musste dann einfach wegen des grauenhaften Katers morgens im Bett bleiben, und es war schwierig, dafür zu sorgen, dass wenigstens die Nachbarn nichts merkten. Eines Abends, als er sehr betrunken gewesen war, hatte er sich eine ganze Zeit im Spiegel betrachtet und gefunden, dass er gut aussehe. Er hatte dann in sein Tagebuch geschrieben, dass er gerne jemanden treffen wollte, der so war wie er selber. Er würde sich verlieben. Eine derartige Geschichte hatte er in Stichworten in sein Tagebuch notiert. Jemand läuft ziellos durch die Stadt, und plötzlich läuft er sich selber über den Weg. Dieser Jemand tut alles, um sein Ebenbild wiederzufinden. Den Schluss der Geschichte hatte er offen gelassen.

      Am nächsten Tag hatte er dann diese Seite aus seinen Notizen herausgerissen. Die ganze Vorstellung war ihm furchtbar peinlich gewesen; er hatte sie auf sein Betrunkensein geschoben, andererseits aber immer gewusst, dass das nicht der Wahrheit entsprach. Schließlich wusste er doch aus Erfahrung, dass der Alkohol hemmungslos machte, auch was die Ehrlichkeit der eigenen Person gegenüber betraf.

      Nur ab und zu besuchte er Schwulenkneipen in Essen oder Dortmund. Meistens musste er sich schon vorher betrinken, weil er sich unsicher fühlte und gar nicht wusste, wie er sich dort verhalten sollte. Also betrank er sich auch in diesen Kneipen und wirkte auf andere abweisend und arrogant. Dennoch redeten ihn mehrfach Leute an, die ihn offensichtlich nett fanden. Er empfand sie in der Regel als irgendwie lästig; seinen Vorstellungen entsprachen diese Leute nie, und es lief alles immer nach dem gleichen Schema ab: Er nahm diese Leute mit zu sich, tobte seine Geilheit an ihnen aus und war froh, wenn sie gleich danach wieder gingen. Und schon nach kurzer Zeit befürchtete er, dass man ihn in diesen Kneipen durchschaut und als Säufer abgestempelt hatte, den niemand mehr ernst nahm. Um seine Hemmungen und Ängste zu überwinden und überhaupt noch rauszugehen, musste er von Mal zu Mal mehr trinken. Es machte ihn auch wütend, wenn die flüchtigen Bekannten ihn noch längere Zeit anriefen. Sie sollten ihn doch in Ruhe lassen. Er wollte an nichts mehr erinnert werden, was er irgendwann einmal getan hatte.

      Etwas anderes ließ ihn allerdings nach wie vor nie in Ruhe: dass er selber solche Leute, die ihm gefielen, nie ansprechen konnte. Männer, die er anhimmelte oder einfach geil fand - so wie seinen Ex-Kollegen Milewski -, mied er wie der Teufel das Weihwasser. Es war nicht nur die Furcht, abgewiesen zu werden. Er hatte einfach eine panische Angst vor solchen Männern. Die waren nur zum Anschauen. Da konnte man nur den kürzeren ziehen.

      Am Anfang des Jahres waren seine Ersparnisse fast aufgebraucht, und dann hatte Arbeit hergemusst, irgendeine Arbeit, nur sofort. Eine Zeit lang hatte er sich mit der Tatsache zu trösten versucht, dass er immer noch seinen Wagen verkaufen und in eine billigere Wohnung ziehen könnte. Er fand keine Arbeit, hatte nicht einmal Vorstellungen, wo er suchen sollte. Es gab Tage, an denen er sich kaum noch aus dem Haus wagte, und auch von dieser Angst befreite der Alkohol. Oft ging er angetrunken durch Schalke oder Bismarck; er wusste, dass hier in seiner unmittelbaren Umgebung die Arbeitslosigkeit besonders hoch war. Schon morgens standen Gruppen von Männern vor den Seltersbuden und tranken Bier, oder andere lagen in den Fenstern und stierten auf die Straße. Eine Zeit lang versuchte Börner, so etwas wie Solidarität mit anderen Menschen zu empfinden, die auch keine Arbeit hatten, aber natürlich schaffte er das nicht. Nur konnte er sich irgendwann einreden, dass die Situation nun einmal so schlecht war und man ohnehin nichts daran ändern konnte. Was sich änderte war, dass er nun mit besserem Gewissen saufen konnte.

      Er war unsagbar erleichtert gewesen, als zu Beginn des Jahres ein alter Bekannter der Eltern, der in Essen eine gut gehende Anwaltspraxis führte, ihm angeboten hatte, zunächst als Aushilfe in seiner Praxis zu arbeiten. Er sollte, so hatte der Bekannte der Eltern in einem persönlichen Gespräch gesagt, sich zum Sommersemester für Jura immatrikulieren. Bei seiner Vorbildung bei der Polizei habe er die besten Voraussetzungen für dieses Studium; er könne sich durch die Arbeit in der Praxis genügend Geld zum Leben verdienen, und was dann noch möglich sei, werde man nach Börners juristischem Staatsexamen sehen. Was der Mann gesagt hatte, vor allem, dass er, Börner, eine neue Perspektive brauche, hatte Börner natürlich überzeugt. Es konnte ihn ja auch nur überzeugen. Dennoch hatte er den Mann - einen Dr.Klausener - von Anfang an nicht gemocht. Schon weil er ein guter Bekannter der Eltern war und Börner wusste, weshalb er diesen Job bekommen hatte. Die Sorge seiner Eltern um ihn fand er unerträglich, und wenn er überhaupt einmal Kontakt zu ihnen hatte, ließ er sie jedes Mal merken, dass sie ihm auf den Geist gingen.

      Seit das Semester vor zwei Wochen begonnen hatte, war Börner an drei Vormittagen an der Uni in Bochum, ansonsten arbeitete er jeden Tag in dem Büro des Anwalts in Essen. Die Arbeit dort empfand er als das mit Abstand Langweiligste, was ihm je untergekommen war. Das Schlimmste aber war, dass es bei Rechtsanwälten offensichtlich als völlige Verrücktheit angesehen wurde, wenn es jemandem - aus welchen Gründen auch immer - um so etwas wie Wahrheit ging. Es ging um Taktiken und Strategien, die Leute vor einer Bestrafung bewahren sollten, wenn sie irgendeinen Mist gemacht hatten. Vor einer, wie Börner inzwischen glaubte sagen zu können, gerechten Bestrafung. Für ihn waren schon nach einem knappen Monat alle Rechtsanwälte selber Verbrecher. Er würde alles das auf keinen Fall lange mitmachen, aber im Augenblick brauchte er Geld, und das konnte er dort verdienen. Natürlich wusste er noch nicht, was er stattdessen machen wollte; aber diese Arbeit auf

      keinen Fall.

      Gereizt überflog er die Seiten der Tageszeitung. Auf der dritten Seite weckte das Bild eines gut aussehenden Mannes sein Interesse: Es ging um einen Mordfall in Dortmund, und dieser Mann war das Opfer. Er war auf offener Straße erschossen worden. Börner bedauerte das aufrichtig: Mit einem solchen Mann kann man doch Sinnvolleres tun, dachte er und grinste über seinen dämlichen Einfall. Vielleicht würde er das Bild ausschneiden. Mehr fiel ihm bei solchen Männern doch sowieso nicht ein.

      3

      Schon seit den frühen Morgenstunden stand vor der Spielhölle auf der Brückstraße am nördlichen Rand der Bochumer Innenstadt ein junger Mann, dessen Interesse offensichtlich einem auf der gegenüberliegenden Straßenseite gelegenen Herrenfachgeschäft galt. Er schien dieses Interesse auch gar nicht verbergen zu wollen; denn selbst als es gegen kurz nach acht leicht zu regnen anfing, blieb der junge Mann ruhig an seinem Platz stehen. Erst als ihm seine dunklen Haare völlig durchnässt in die Stirne fielen, zog er die Kapuze seiner kurzen Regenjacke über den Kopf.

      Gegen viertel vor neun waren auch die braunen Schnürschuhe des jungen Mannes völlig durchnässt. Der Betrieb auf der Straße begann nun lebhafter zu werden: Es waren vor allem Lieferwagen, die von hier in die untere Kortumstraße fuhren, um die dortigen Kaufhäuser zu versorgen. Die Kaufhäuser öffneten in der Regel erst um neun Uhr; relativ wenige Menschen passierten um diese Zeit die Straße, zumeist liefen sie dicht an den Häuserfronten entlang, um dem heftiger werdenden Regen zu entgehen.

      Es fiel auf, als aus dem der Spielhölle gegenüberliegenden Haus ein Mann trat. Er war mittelgroß, schlank, um die vierzig, hatte dunkle Haare, einen Vollbart und war modisch gekleidet. Auch er lief schnell in die zu dem Herrenfachgeschäft führende Passage, und es sah so aus, als wolle auch er dem Regen entgehen. Dann hantierte er ungeschickt mit einem Schlüssel an der Eingangstür des Geschäfts.

      Langsam verließ der junge Mann vor der Spielhalle seinen Platz. Bevor er die Straße überquerte, schaute er gewissenhaft nach links und rechts. Als er am Eingang der Passage stehenblieb, hatte der mit dem Türschloss beschäftigte Mann ihn immer noch nicht zur Kenntnis genommen. Leise und fragend nannte der junge Mann einen Namen, und es war nicht nur die in der Passage hervorragende Akustik, die seine Stimme klar und deutlich hörbar machte.

      Der Mann an der Ladentür hatte sie jedenfalls gehört und sich umgedreht; nicht erschrocken, eher gereizt, da sich das Schloss nicht öffnete und er in Eile war. Er


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