Auf Biegen oder Brechen. Thomas Hölscher

Auf Biegen oder Brechen - Thomas Hölscher


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      Um 20 nach 12 hätte man meinen können, der Hauptbahnhof in Gelsenkirchen sei der Drehort für eine ziemlich aufwendige Filmproduktion. Irgendwann gegen 10 nach 12hatte die Einsatzleitstelle in Buer gemeint, der Ost-West-Express nach Warschau und Moskau müsse heute Nacht unbedingt angehalten werden. Der erste Erna-Wagen war genau um 0 Uhr 14 an Ort und Stelle. Es folgten zwei weitere, zuletzt zwei Hundeführer mit Schäferhunden. Die vier Beamten der Bahnpolizei machten noch den ruhigsten Eindruck.

      Mehrfach gab der Bahnhofslautsprecher den etwa 10 bis 15 wartenden Reisenden bekannt, dass der

      Zug einen längeren Aufenthalt in Gelsenkirchen haben würde und dass der Zug zunächst nicht bestiegen werden dürfe. Weshalb nicht, das verschwieg der Lautsprecher. Als der Zug gegen 20 nach 12 auftauchte, schauten etwa 30 Augenpaare gespannt und nervös in Richtung der drei rasch näher kommenden Frontlampen der Lokomotive.

      Der Zug schien unendlich lang zu sein. Schon vorher hatten sich die Hundeführer an den äußersten Enden des Bahnsteigs postiert. Drei große Scheinwerfer beleuchteten den Zug von der Rückseite, und unentwegt gab der Lautsprecher nun die Meldung durch, dass niemand den Zug verlassen oder besteigen dürfe. Die Beamten hatten Mühe, nicht den Überblick zu verlieren.

      Um kurz nach halb eins kam Kommissar Bergermann endlich mit seinem Zeugen. Die Durchsuchung des gesamten Zuges dauerte fast 45 Minuten: Wer von den Fahrgästen noch nicht durch das helle und laute Getue auf dem Bahnsteig geweckt worden war, der wurde es jetzt. Einige Polen, die diesem Zug zu seinem Spitznamen "Polen- oder Persilbomber" verholfen hatten, glaubten, man habe bereits die polnische Grenze erreicht.

      Von Abteil zu Abteil, von Waggon zu Waggon nahm die Sicherheit des Zeugen ab: Er sah in zig verschlafene, fragende und ärgerliche Gesichter; schließlich war er überzeugt, dass er den Täter nicht würde identifizieren können, selbst wenn der im Zug sein sollte. Und in gleichem Maß wuchs Bergermanns Unruhe, bis er schließlich davon überzeugt war, dass diese schwule Tucke zu gar nichts tauge, aber wirklich zu gar nichts.

      Die Aktion brachte nur ein einziges Resultat: Im Hauptbahnhof von Wanne-Eickel hatte der Ost-West-Express mittlerweile eineinhalb Stunden Verspätung.

      Und weil Bergermann nicht mit völlig leeren Händen nach Essen zurückkehren wollte, zeigte er dem Zeugen das Foto, das die Kripo Bochum hatte anfertigen lassen und das in den Zeitungen erschienen war. Und nun hatte der Mann keine Schwierigkeiten, den Täter zu identifizieren: Dieser Mann da auf dem Foto hatte Bernd erschossen, da gab es keinen Zweifel. Bergermann atmete erleichtert auf. Das war doch ein Ergebnis, und nun konnte er unbeschwert nach Essen zurückfahren.

      Auch in Essen war einiges los: Sofort hatten die verfügbaren Beamten die Eingänge besetzt und kontrollierten alle Personen, die den Bahnhof betreten oder verlassen wollten. Sie hatten bald das Gefühl, dass ziemlich viele dunkelhaarige Männer mit Schnäuzer sich um diese Zeit im Bahnhofsbereich aufhielten.

      Als endlich um kurz nach halb eins eine Hundertschaft aus Bochum zur Stelle war, wurde das Szenario bürgerkriegsähnlich. Hauptkommissar Weber war mittlerweile so weit ernüchtert, dass er zumindest vor sich selber zugeben konnte, dass die ganze Aktion sinnlos war: Seit der Tat war nun fast eine Stunde verstrichen, und aus Erfahrung konnte man wissen, dass, wenn der Täter nicht innerhalb der ersten 20 bis 30 Minuten nach der Tat gefasst werden konnte, er über alle Berge war. Und für diese Zeitspanne war schließlich der junge Kollege Bergermann verantwortlich. Außerdem konnte Weber vor anderen aus Prinzip gar nichts zugeben, und so wurde der gesamte Bahnhofsbereich auf den Kopf gestellt. Erst nach halb zwei konnten die aufgehaltenen S-Bahnen nach Dortmund, Düsseldorf, Oberhausen, Hattingen und Langenfeld den Hauptbahnhof verlassen.

      Und dann ärgerte der nun völlig nüchterne Weber sich, dass er auf das Naheliegendste nicht sofort gekommen war. Bergermann hatte ihm doch von Beginn an etwas von einem Schwulen-Mörder erzählt. Wo also sollte man eher eine Antwort auf die Frage nach dem Motiv, dem Täter usw. finden als bei den Schwulen? Und was lag näher, als die Bahnpolizei um Einsicht in die sogenannten 'Rosa Listen' zu bitten? Diese Listen existierten zwar offiziell gar nicht, weil sie nämlich illegal waren, aber was sollte es! Die effektivsten Hilfsmittel der Polizei sind doch immer die, die es offiziell gar nicht gibt.

      Die Bahnpolizei überprüfte die Personalien von Personen, von denen man vermutete, dass sie dem schwulen oder auch dem Strichermilieu angehörten, und registrierte diese Leute. Und bei einer hinreichend großen Zahl von Überprüfungen im Bahnhofsbereich - vor allem auf den Klos - verdichtete sich ein Verdacht dann sehr schnell zur Gewissheit, und ein Mensch war Homo, Prosti oder sonstwas.

      Nur kein Mensch mehr.

      Besonders gut gefiel Hauptkommissar Weber der Name für solche bahnpolizeilichen Recherchen: 'Maßnahmen zur Verhinderung der Belästigung von Reisenden'. Das war nicht nur legal, das war schließlich die Aufgabe der Bahnpolizei.

      Dieser Bergermann, dachte Weber nun, hätte ihn doch auch eher auf diese Idee bringen können! Aber wahrscheinlich hatte der wieder seine moralischen Skrupel! Die jungen Kollegen zierten sich meistens wie Jungfern aus dem Mädchenpensionat, wenn es darum ging, sich für den effektivsten Ermittlungsweg zu entscheiden. Datenschutz war das neueste Lieblingswort dieser Rotärsche.

      Aber diese Flausen vergingen einem, je länger man bei der Polizei arbeitete. Das wusste Hauptkommissar Weber aus Erfahrung.

      Die rosa Listen, die Personenfeststellungen bei der augenblicklichen Fahndung und die Befragung der eigenen Kartei mussten einfach etwas bringen. In den nächsten Tagen würden einige Schwule dumm aus der Wäsche gucken, wenn sie plötzlich in ihrem Briefkasten eine Vorladung der Kripo fanden. Natürlich würde es den üblichen Protest von Schwulengruppen geben; vielleicht würden auch einige progressive Zeitungsfritzen in das gleiche Horn tuten. Aber es war Webers Lieblingsspruch, dass ihm irgendetwas so egal sei, als wenn in China ein Sack Reis vom Regal fällt.

      Die Idee des jungen Bergermann, einem wahnsinnigen Mörder dicht auf den Fersen zu sein, hatte also einiges in Bewegung gesetzt. Konkret erreicht worden war aber noch nichts. Oder doch: Die Gewissheit, dass die Morde in Dortmund und Bochum von dem gleichen Täter verübt worden waren wie der in Essen; und die Vermutung, dass auch die anderen Opfer Schwule waren. Nur dazu hätte es nicht eines solchen Riesenaufwands bedurft, und natürlich wollte die Presse gerade dafür eine Erklärung. Die Verantwortlichen waren letztlich noch froh, als die Presse von mangelhafter Kooperation zwischen den Polizeibehörden der einzelnen Städte schrieb: Der wirkliche Grund für das Scheitern der Aktion konnte unmöglich in der Presse erscheinen. Es hätte ohnehin niemand glauben können.

      Der Streifenwagen von zwei Gelsenkirchener Beamten hielt in der besagten Nacht von Samstag auf Sonntag auf dem breiten Parkstreifen an der Zeppelinallee in Höhe des Stadtgartens. Die Zeit zwischen Mitternacht und drei Uhr war die schlimmste Spanne des Nachtdienstes, und den Beginn des Einsatzes am Hauptbahnhof hatten die beiden Beamten schlichtweg verpennt.

      Die Tatsache, dass er von der Polizei aufgehalten wurde, hatte der junge Mann, der aus dem breiten, zum Ehrenmal führenden Weg in die Zeppelinallee einbog, also dem Umstand zu verdanken, dass die beiden Beamten eine Art Alibi brauchten für ihr zu spätes Erscheinen am Einsatzort. Der Mann wäre ihnen auf der menschenleeren Straße ohnehin aufgefallen, aber trotz seiner zerrissenen Hose und der verschmierten Kleidung hätte er sie normalerweise nicht interessiert: Man konnte sich nicht um jeden Betrunkenen kümmern.

      Jetzt war es etwas anderes. Die Beamten waren erstaunt, dass der junge Mann gar nicht betrunken war, und auf die Frage, weshalb er so übel zugerichtet aussehe, antwortete der, er sei in Rotthausen von ein paar Halbstarken belästigt worden, sei weggelaufen und dabei hingestürzt. Da der junge Mann tatsächlich sehr erschöpft und noch sehr aufgeregt war, schien den Beamten die Antwort plausibel. Einen Ausweis hatte der junge Mann nicht dabei, und da auch die Zeit drängte, ließen die Beamten den Mann weitergehen mit dem Ratschlag, sich mit kriminellen Elementen nicht anzulegen.

      Die beiden Beamten würden in der Hierarchie der Ordnungshüter nicht weiter nach oben kommen: Von den Morden in Bochum und Dortmund hatten sie noch nichts gehört. Dass es heute Abend ebenfalls


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