Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher
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Thomas Hölscher
Die Reise nach Ameland
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Inhaltsverzeichnis
1.
Der Regen war mittlerweile noch stärker geworden.
An vielen Stellen hatten sich auf der Bahn große Mengen Wasser gesammelt, das nicht mehr ablaufen konnte und das Fahren mit hoher Geschwindigkeit lebensgefährlich machte. Die Autos zogen dichte Wasserfahnen hinter sich her, und wenn er einen Lastwagen überholte, war ihm für Sekunden jede Sicht genommen. Dennoch verringerte er die Geschwindigkeit nicht.
Er würde nicht mehr anhalten, dachte er; nun hatte er diesen Schritt getan, und es gab kein Zurück mehr. Und plötzlich schämte er sich wegen der trotzigen Endgültigkeit, die in diesem Satz lag; es kam ihm so vor, als sei dieser fast kindische Trotz mittlerweile das einzige, was seine Person noch zusammenhielt.
Am Morgen war er nach Arnhem gefahren, um Michel aufzusuchen, fest entschlossen, einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen. Wenn es hart auf hart kommt, dann bin ich jederzeit für dich da, das hatte Michel ihm schließlich nicht nur einmal gesagt. Er lachte gereizt: Jederzeit für dich da! Was hieß das denn schon? Gar nichts. Ein Satz, geäußert in der unverbindlichen Atmosphäre einer Kneipe, dummes, bierseliges Gerede, das zu gar nichts verpflichtete. Das hatte er heute morgen schließlich erlebt.
Schon seit Tagen hatte er vergeblich versucht, Michel telefonisch zu erreichen. Zunächst wie gewohnt nur von der Arbeit aus; aber schließlich war ihm diese Vorsichtsmaßnahme albern vorgekommen, und er hatte auch von zu Hause aus Michels Nummer gewählt. Allerdings nur nachts, wenn Lisa längst schlafen gegangen war.
Michel konnte ihn nicht anrufen. Er hatte ihm seine Telefonnummer natürlich nicht gegeben. Selbst als Michel einmal von „deiner Wohnung in Essen“ gesprochen hatte, hatte er nicht widersprochen. Allein die Vorstellung, dass Michel seine Privatadresse kannte, war ihm einfach unerträglich gewesen. Er selber hatte schließlich viel mehr zu verlieren als Michel, davon war er immer überzeugt gewesen.
Dass Michel in Arnhem wohnte, das hatte er hingegen bereits am Tag ihres Kennenlernens erfahren. Schon von der Autobahn war das riesige Hochhaus zu sehen, das Michel bei ihrem ersten Treffen, fast entschuldigend oder als schäme er sich dafür, als kippenhok, als Hühnerstall, bezeichnet hatte.
Wie immer so hatte auch heute morgen die Haustür offen gestanden, war er über den Außenbalkon in der dritten Etage bis zur Wohnungstür gelaufen. Und dann hatte er zunächst geglaubt, sich im Stockwerk geirrt, irgendwo in dem riesigen Betonkasten die Orientierung verloren zu haben, hatte den Irrtum auf die schlaflose Nacht, den Alkohol und die Auseinandersetzung mit Lisa geschoben. Dabei war von Beginn an ein Zweifel ausgeschlossen gewesen: das neue Namensschild mit dem fremden Namen war nämlich viel kleiner gewesen; und deutlich waren noch die Umrisse des Schildes mit dem vertrauten Namen auf dem grauen Beton zu erkennen gewesen: M.Rijnders. Dennoch war er völlig konsterniert weitergelaufen, hatte schließlich die Namensschilder in mehreren Etagen überflogen, und erst, als er davon überzeugt gewesen war, dass nun alle Leute in dem riesigen Gebäude auf sein seltsames Verhalten aufmerksam geworden sein mussten, hatte er das Haus verlassen, war in seinen Wagen gestiegen und in die Innenstadt gefahren.
Eine halbe Stunde lang war er wie ein geschlagener Hund durch die Straßen der Arnhemer Innenstadt gelaufen, dann hatte er es nicht mehr ertragen können. Nach all dem, was zwischen ihnen geschehen war, zog man doch nicht einfach aus, verschwand man nicht einfach sang- und klanglos in der Versenkung, ohne dem anderen auch nur Aufwiedersehen gesagt zu haben. Seit ihrem letzten Treffen waren nicht einmal sechs Wochen vergangen, und schließlich hatte er sich sogar noch einmal einreden können, wegen seiner Übermüdung irgendwo in dem riesigen Haus ganz einfach die Orientierung verloren zu haben.
Dem war aber nicht so gewesen. Noch immer hatte er an der vertrauten Stelle das Schild mit dem fremden Namen vorgefunden. Nach langem Zögern hatte er endlich mehrfach auf den Klingelknopf gedrückt. Den Klang der Schelle, die bis auf den Außenbalkon zu hören war, hatte er jedenfalls sofort wiedererkannt.
Und dann war da diese Farbige gewesen.
Entschuldigen Sie bitte die Störung. Ich suche einen gewissen Michel Rijnders. Er hat bis vor kurzem hier gewohnt.
Die Frau hatte ihn nur ängstlich angesehen. Sorry, hatte sie schließlich in staccatohaftem Englisch gesagt, I don't speak Dutch. I know I have to learn it but I don't speak Dutch. Not yet.
Dann hatte auch er sein Schulenglisch bemüht, aber es war zu dem gleichen Ergebnis gekommen.
I don't know. I can't help you.
How long have you been living here?, hatte er noch mehrfach gefragt, aber jedesmal hatte die Frau nur ängstlich die Schultern gehoben. Sorry, but I can't help you.
Er war wieder zu seinem Wagen zurückgelaufen und ohne weiter nachzudenken einfach losgefahren. Es war ein Automatismus gewesen, und erst als er auf der Autobahn das Hinweisschild auf die Grenze erblickt hatte, war er umgekehrt.
Es gab kein Zurück mehr. Soviel war jedenfalls sicher. Nach der vergangenen Nacht gab es kein Zurück mehr. Du musst dich einfach selber unter Zugzwang setzen, hatte Michel gesagt; du musst nach außen gehen, einen Punkt erreichen, von dem aus es nur noch vorwärts gehen kann. Und dann wirst du selber erstaunt sein, wie schnell diese Entwicklung gehen wird.
Noch einmal lachte er ironisch auf. Diesen Punkt hatte er inzwischen ganz offensichtlich erreicht.
Es konnte in Arnhem kein Krankenhaus