Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher


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Häuschen mit kleinen Gärtchen und ebenso kleinem Horizont, tausendmal unerträglicher als eine Mietwohnung im letzten Proletenviertel irgendeiner Ruhrgebietsstadt. Und die steigenden Zinsen in den letzten Jahren hatten die Begleichung ihrer finanziellen Verbindlichkeiten zu einem immer größeren Problem werden lassen.

      Allein schon wegen dieses Kredites hatte er wochenlang den Gedanken, Lisa sitzenzulassen, nicht einmal im Traum zulassen können. Du lässt sie doch gar nicht sitzen!, hatte Michel ihm mehrfach dazwischen gefunkt. Du gibst euch beiden nur eine neue Chance. Euch beiden! Und plötzlich glaubte er, seine Wut auf Michel nicht mehr beherrschen zu können. Natürlich hatte er Lisa nun sitzen lassen. Mit drei Kindern, mit einem Berg von Schulden, mit seinem maßlosen Geständnis. Und vor allem mit ihrer bodenlosen Enttäuschung. Was er für sich als Freiheit einforderte, würde ihr schließlich an zusätzlichen Pflichten aufgebürdet. Plötzlich liefen ihm Tränen über das Gesicht, und dann geschah augenblicklich wieder dieses Umschalten in seinem Kopf, das er in den letzten Wochen so oft bei sich festgestellt hatte: mitten in einem Gefühlsausbruch war er schlagartig nicht mehr wütend, verzweifelt oder jähzornig, sondern nur noch ein distanziert interessierter Beobachter, der seine ganze Aufmerksamkeit auf einen Menschen richtete, der wütend, verzweifelt oder jähzornig war. Und auch nun fragte er sich sofort, wie er die Situation bewerten sollte, die er da beobachtete: als Gefühlsausbruch, den er sich schon lange einmal hätte erlauben sollen, weil er Erleichterung brachte, oder als erneute Bestätigung für seine abgrundtiefe Erbärmlichkeit. Mit dem Ärmel der Jacke wischte er sich über das Gesicht und sah gereizt auf die Uhr im Armaturenbrett. Es war kurz vor fünf. Sie war nun also längst wieder zu Hause, würde sich über Kai und Sven ärgern, die sich zankten oder die Schularbeiten nicht machen wollten, würde Vorkehrungen für das gemeinsame Abendbrot treffen, und um kurz vor sechs würde sie seine Prinzessin ins Auto setzen und zum Ballettunterricht bringen. Wie immer würde sie Vera zur Eile antreiben müssen, würde die mit ihrer pubertären Schnippigkeit Lisa provozieren, bis endlich seine beiden Weiber unter unverbindlichem Gezanke das Haus verlassen hatten.

      Inzwischen hatte er Utrecht erreicht. Auf der rechten Seite hob sich in der Ferne deutlich die hell angestrahlte Silhouette des Domes gegen die tiefhängenden Wolken ab. Obschon der Regen nun etwas nachgelassen hatte, machte es ihm Mühe, sich auf die Hinweisschilder über den hell erleuchteten Fahrspuren zu konzentrieren. Dann bog er auf die Bahn in Richtung Amsterdam ab.

      Seine Prinzessin? Er spürte, wie ganz langsam wieder diese unglaubliche Aversion gegen seine doch angeblich über alles geliebte Tochter in ihm hochstieg. Es war eine Abneigung, die ihn in den letzten Wochen manchmal vor sich selber hatte erschrecken lassen. Was erlaubst du dir eigentlich deiner Mutter gegenüber für einen Ton? Jede noch so kleine Belanglosigkeit hatte er plötzlich zum Anlass genommen, die Auseinandersetzung mit Vera zu suchen. Du bist mir auch mit 15 Jahren nicht zu alt für eine Tracht Prügel. Augenblicklich hatte er sich für diesen Satz zu Tode schämen wollen, und seine plötzliche Hilflosigkeit hatte ihn dann tatsächlich um Haaresbreite etwas tun lassen, was er noch nie getan hatte: ein Kind mitten ins Gesicht zu schlagen. Du musst dich etwas zusammenreißen, hatte Lisa ihm dann am Abend vor dem Fernseher auch vorwurfsvoll gesagt; sie ist nun mal in einem schwierigen Alter und meint das alles nicht so. Und gerade weil er wusste, dass Lisa natürlich recht hatte, hatte er ihr widersprochen; und gegen alle Vernunft hatte er sich seit jenem Abend schließlich sogar einreden wollen, dass die beiden Frauen sich eigentlich nur Scheingefechte lieferten, insgeheim aber etwas ausheckten, das über kurz oder lang ihn treffen musste. Mehr noch: das ihn bloßstellen, der Lächerlichkeit preisgeben, ruinieren musste.

      Natürlich hatte er immer ganz genau gewusst, dass alles das nicht stimmte. Weder Lisa noch Vera hatten irgend etwas getan, geschweige denn ausgeheckt, was zu seiner augenblicklichen Situation geführt hatte. Das war einfach geschehen, und die einzige Frage, die ihn in den letzten Wochen beschäftigt hatte, war die, ob ihn diese Entwicklung wirklich überrascht oder ob er nicht immer schon alles gewusst hatte. Ganz verschwommen war das alles zunächst noch, nebulös, dann wurde es immer deutlicher und unausweichlicher: Wie oft hatte er in den letzten Wochen solche Phrasen gedroschen, um sich zumindest anderen mitzuteilen, wenn man selber schon sein eigenes Leben nicht mehr verstand! Und bei Michels Kneipenbekanntschaften hatte das auch funktioniert, sie hatten schließlich sogar geglaubt, sein weinerliches Getue auf den Punkt bringen zu können: dein Leben ist im Augenblick ein Tanz auf dem Vulkan. Auch dieser Satz war zuerst von Michel in Umlauf gebracht worden; aber er selber hatte diese griffige Formulierung gerne aufgenommen zur Umschreibung seiner Situation. Mein Leben ist im Augenblick ein Tanz auf dem Vulkan, hatte er anderen nicht nur einmal gesagt, als ändere eine neue Begrifflichkeit irgend etwas an der völlig überraschenden Unerträglichkeit der eigenen Existenz.

      In den letzten Wochen waren dann seine Angst vor dem Ausbruch des Vulkans und die Unterstellungen gegen die Tochter, diesen Ausbruch ganz bewusst erzwingen zu wollen, in gleichem Maße gestiegen. Schon die kleinste Bemerkung von Veras Seite, manchmal nur ein vermeintlich höhnisches Grinsen, hatte ihn außer sich geraten lassen.

      Es gab für ihn nicht den geringsten Anlass, seine Tochter zu hassen; das wusste er genau; aber das hatte seine maßlose Wut auf Vera immer nur noch steigern können. Und jedesmal war er sich dann schäbig vorgekommen, wenn er im nachhinein auch noch nach Gründen für sein Verhalten gesucht hatte. Er benahm sich wie sein eigener Psychiater, der Erklärungen suchte, um die bodenlose Unfähigkeit eines Patienten aus dessen Vergangenheit zu erklären und zu entschuldigen. Wie ein schlechter Psychiater zudem, der auch gegen besseres Wissen das sagte, was der Patient hören wollte, aus Angst, einen Kunden zu verlieren.

      Wie konnte ein Mann so schäbig sein, seine 15jährige Tochter zu hassen, weil er bodenlos eifersüchtig auf sie war! Das war die ganze Wahrheit, die kein Psychiater wegtherapieren konnte.

      Am zweiten Weihnachtstag hatte Vera ihnen den neuen Freund vorstellen wollen, den angeblich endgültigen, die große Liebe, den Mann für den Rest des Lebens. Ausgegangen war die Idee von Lisa: Bring ihn doch mal mit! Ich möchte schließlich auch gerne wissen, mit wem sich meine Tochter herumtreibt.

      Erwartet hatten sie beide eine Neuauflage des von Vera Gewohnten: irgendeinen pickeligen Gymnasiast mit gammeligem Outfit, Brillianten im Ohr, Ring in der Nase, schlechtem Benehmen und einer Jeans, bei der der Arsch in den Kniekehlen hing. Mit Jochen hatten sie absolut nicht gerechnet. Vor allem er nicht. Jochen hatte ihn völlig auf dem falschen Fuß erwischt.

      Der Alkohol hatte ein übriges getan. Ohne Unmengen von Alkohol hätte er das Weihnachtsfest nicht ertragen können; aber für die Begegnung mit Jochen war der Dauerrausch offensichtlich die schlechteste aller Lösungen gewesen. Stundenlang hatte er auf den jungen Mann eingeredet, ihn pausenlos mit dem peinlichsten Blödsinn vollgequatscht. Und schon kurz nachdem Jochen sich nach dem Abendessen verabschiedet und mit Vera zusammen das Haus verlassen hatte, waren seine Phantasien angefangen, die ihn einfach nicht mehr losließen. Sag mal, was ist denn eigentlich mit deinem Alten los?, fragte Jochen in diesen Phantasien, und wenn diese Phantasien glimpflich verliefen, beließ er es bei der Bemerkung: Der hat ja echt 'ne tolle Macke!

      Der Regen hatte inzwischen aufgehört, die ersten Hinweisschilder auf Amsterdamer Stadtteile tauchten auf.

      Es war seltsam: seit ein paar Monaten verband sich der Name Amsterdam bei ihm mit einer ganz tief sitzenden Angst. Mehrfach hatte Michel ihn gebeten, doch mal mit nach Amsterdam zu kommen; da spiele die wirkliche Musik, nicht in Arnhem, und erst recht nicht im Ruhrgebiet. Mit Händen und Füßen hatte er sich gegen diese Vorschläge gewehrt.

      Früher hatte diese Stadt etwas ganz anderes für ihn bedeutet. Und auch für Lisa.

      Schon dreimal hatte er mit Lisa und den Kindern den Sommerurlaub in Holland verbracht. Oben im Norden, kurz vor den Helder, hatten sie einen Bungalow gemietet. Beim letzten Mal, es musste vor zwei Jahren gewesen sein, hatten sie Bekannte gebeten, auf die Kinder aufzupassen, und er war für einen Abend mit Lisa allein nach Amsterdam gefahren. Es war ein unvergesslicher Abend geworden; sie waren in mehreren Lokalen gewesen, hatten erstaunt festgestellt, dass diese Stadt für sie beide einmal das gleiche bedeutet hatte, und allem Augenschein zum Trotz war für einen Abend lang John Lennon noch nicht tot gewesen, hatte noch Sergeant Pepper`s Lonely Hearts Club Band gespielt, hatten Jimmy Hendrix und Jennis Joplin gezaubert, und erst als die anderen Gäste einer Kneipe


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