Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher


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weniger hatte sagen können, aus welchem Grund er sich den nächsten Tag überhaupt noch antun sollte.

      Es war Dienstag, der 6. Februar 1996.

      2

      Genau so hatte er sich dieses Zimmer vorgestellt. Ein Bett, ein klappriger Kleiderschrank, ein kleines Tischchen, dessen gesamte Oberfläche von einem alten Fernseher eingenommen wurde, Toilette und Dusche in einem winzigen Anbau. Es war zwar sauber, dennoch machte alles einen alten, verbrauchten Eindruck und roch muffig nach Feuchtigkeit und Schimmel. Die Stadt lag zu weit vom Meer entfernt, als dass sich hier eine typische Bleibe für Touristen lohnen konnte. Von seinem Fenster aus sah er auf die menschenleere Fußgängerzone von Schagen.

      Es würde nicht lange dauern, und es musste ihn in diesem Kabuff der große Katzenjammer überfallen.

      Schon die Anmeldung war auf eine Art und Weise verlaufen, die er bereits wieder als für sich selber typisch empfand. Er war eine Zeit lang noch durch die ihm unbekannten Straßen gefahren und hatte darin schließlich keinen Sinn mehr gesehen. Wo sollte er die Suche nach Michel beginnen? Er hatte nicht die geringste Vorstellung davon. Und nachdem er zweimal im strömenden Regen die Fußgängerzone durchquert hatte, war er schließlich in dieses alles andere als seriös wirkende Hotel gegangen. Die mürrische Frau an der Rezeption schien völlig überrascht gewesen zu sein, dass sich überhaupt ein Gast in dieses Etablissement verirren konnte.

      Do you have a single room for one night? Für ein paar Augenblicke hatte der Gebrauch der fremden Sprache in ihm ein unerwartetes und undefinierbares Glücksgefühl hervorgerufen. Wie der erste Schritt weg von seiner erbärmlichen Existenz, die er keine Sekunde länger mehr ertragen wollte. Und nachdem die Frau ihn informiert hatte, wieviel ein Zimmer mit Dusche und Toilette pro Nacht kostete, hatte sie nach seinem Pass gefragt, als könne man jemandem wie ihm auf keinen Fall trauen.

      Ach, Sie sind Deutscher, hatte sie dann auch schließlich in fast akzentfreiem Deutsch gesagt, und es hatte für ihn geklungen wie: Sagen Sie das doch gleich, und verstellen Sie sich nicht.

      Er schaltete den Fernseher ein und stellte fest, was er ohnehin vermutet hatte: das Gerät war nicht verkabelt, er konnte durch das Hantieren an der Senderwahl lediglich drei niederländische Programme in schlechter Bildqualität empfangen und schaltete das Gerät wieder aus. Er sah auf seine Armbanduhr; es war kurz vor neun.

      Und dann erschrak er darüber. Obschon er todmüde war, war es auf jeden Fall viel zu früh, um schon ins Bett zu gehen, und plötzlich türmte sich die zur Verfügung stehende Zeit vor ihm auf wie ein bedrohlicher Berg.

      Nervös lief er im Zimmer auf und ab. Auf der kleinen Konsole neben dem Bett entdeckte er ein Radio; er schaltete das Gerät ein, aber die seichte Unterhaltungsmusik machte ihn aggressiv, so dass er es sofort wieder ausschaltete. Er warf sich auf das Bett und starrte an die Zimmerdecke.

      Jetzt mussten sie längst zu Abend gegessen haben. Wahrscheinlich hatte Lisa die Jungen schon ins Bett geschickt, machte den Abwasch in der Küche und ließ dabei den Fernseher im Wohnzimmer laufen. Andauernd würde sie auf die Uhr schauen und sich fragen, ob Vera wenigstens heute einmal pünktlich um 22 Uhr zu Hause war. Seit sie Jochen kennengelernt hatte, war sie kaum noch zu Hause.

      Der Gedanke an Jochen war ihm mehr als unangenehm. Das habe ich wirklich nicht erwartet, hatte auch Lisa nach Jochens Besuch zugegeben. Der junge Mann hatte sein Abitur gemacht, absolvierte gerade eine Lehre als Bankkaufmann, und obschon er fast vier Jahre älter war als Vera, hatte Lisa ihn als den idealen Schwiegersohn bezeichnet. Sie hatte es wie im Scherz gesagt, es aber doch genau so gemeint. Dann hatte sie nur gelacht: Na, warten wir mal ab. Ihm war seit jenem Abend nicht mehr zum Lachen gewesen, wenn er an Jochen nur dachte.

      Was würde Lisa eigentlich den Kindern sagen, wenn sie fragten, wo er blieb? Schließlich gab es zwischen den Zwillingen und ihm feste Rituale, ohne die sie nicht dazu zu bewegen waren, ins Bett zu gehen. Habt ihr Papa schon einen Kuss gegeben?

      Nein.

      Dann mal los!

      Nein, du musst mitkommen.

      Manchmal gaben sie schon Ruhe, wenn er sie in ihr Zimmer gebracht hatte, sie in ihr Etagenbett gekrochen waren, er dann rief: Alle Mann an Bord? und das Licht ausschaltete; meist aber nicht. An manchen Abenden schafften sie es, ihn drei- oder viermal noch auf ihr Zimmer zu lotsen. Manchmal platzte ihm auch der Kragen: Jetzt bin ich es aber leid! Ihr geht jetzt ins Bett, oder es gibt was auf den Hintern! Da die beiden wussten, dass es ohnehin nie was auf den Hintern gab, war für besonders hartnäckige Abende Lisa immer die letzte Instanz. Jetzt schick du doch mal die Kinder ins Bett! Und wenn Lisa sagte: Schluss, dann war aus einem ihm letztlich unerfindlichen Grund Schluss.

      Was würde Lisa den Kindern sagen? Wie würde sie ihnen erklären, dass er nicht mehr nach Hause kam? Wenn sie denn überhaupt fragten, dachte er, und dann packte ihn endgültig das heulende Elend. Er warf sich herum und presste sein Gesicht fest in das Kopfkissen.

      Irgendwann kommt dieser Punkt ohnehin, hatte Michel gesagt; und je länger du die Entscheidung hinauszögerst, desto schlimmer wird es.

      Es fiel ihm sofort auf, dass er nun anscheinend schon zu schwach war, sich über diese Bemerkung von Michel aufzuregen.

      Du weißt doch gar nicht, was es heißt, Kinder zu haben. Du kannst dir das doch gar nicht vorstellen.

      Was soll ich jetzt sagen? Ich weiß es auch nicht. Ich weiß nur, dass du die Kinder nicht als Vorwand benutzen kannst.

      Als Vorwand wofür?

      Um Dinge nicht zu tun, die du eigentlich tun musst.

      Ach, du hast doch gar keine Ahnung.

      Die Kinder mussten den Streit zwischen Lisa und ihm einfach mitbekommen haben. Vera auf jeden Fall. Aber um Vera machte er sich auch keine Gedanken; sie war seit eh und je eine enorm starke Persönlichkeit gewesen, die immer gewusst und auch getan hatte, was sie wollte. Lisas Tochter eben. Aber bei Kai und Sven war das anders. Die beiden hatten bereits auf der Grundschule große Probleme, und die Zwillinge würden das alles überhaupt nicht begreifen können. Wie soll ich denn 8jährigen Kindern erzählen, dass ihr Papa schwul ist! Kannst du mir das vielleicht mal erklären.

      Ein Patentrezept gibt es dafür bestimmt nicht. Du musst es einfach versuchen.

      Ach hör doch auf! Du hast gut reden.

      Im Nachhinein konnte man tatsächlich das Gefühl haben, als hätten sich die Gespräche zwischen Michel und ihm fast ausschließlich um die Kinder gedreht, ein Thema, bei dem er sich Michel gegenüber immer überlegen hatte fühlen können und das jedesmal in fruchtlosen und überflüssigen Streitereien geendet hatte. Ach, du hast doch überhaupt keine Ahnung.

      Na gut, wenn du meinst.

      Er hatte Hunger. Seit dem gestrigen Tag hatte er nichts mehr gegessen. Für einen Augenblick hatte er die Idee, nun noch das Hotel zu verlassen, irgendwo in der Stadt ein Restaurant oder auch nur eine Pommesbude zu suchen; aber er wusste sofort, dass er genau das nicht tun würde. Wenn Lisa nun da wäre, hätte sie schon längst die Initiative ergriffen. Ich sterbe vor Hunger, hätte sie gesagt; komm lass uns irgendwo noch etwas essen. Es war keine Bequemlichkeit, dass er nun nicht losging; es war schon immer so gewesen, dass Lisa sämtliche Dinge des täglichen Lebens regelte. Vor allem solche, die ihm selber aus irgendwelchen Gründen unangenehm waren.

      Warum soll ich das denn immer machen? Irgendwann hatte Lisa aufgehört, ihm diese Frage zu stellen.

      Ach nun mach schon, stell dich doch nicht so an!

      Selbst Michel war schon seine Ungeschicklichkeit und oft sogar Hilflosigkeit bei ganz alltäglichen Dingen aufgefallen. Waren ihm zum Beispiel die Zigaretten ausgegangen, dann hatte er Michel in den Tabakladen geschickt; waren sie in einem Restaurant gewesen, hatte immer Michel für sie beide die Bestellung aufgeben müssen. Mit der ihm fremden Sprache hatte das nie etwas zu tun gehabt. Langsam begreife ich, warum du geheiratet hast, hatte Michel ihn einmal ausgelacht. Du bist ja wirklich völlig unselbstständig.

      Langsam begreife


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