Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher


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Jungen gegeben habe, dann sei es gerade diese Primitivität, die Selbstverständlichkeit, mit der dieser Kerl einfach so war, wie er war, ohne Wissen über sich, ohne Alternative zu sich selber.

      Wenn du nicht mehr weiter weißt, dann wirst du immer arrogant und zynisch, hatte Michel nur geantwortet.

      Er musste plötzlich loslachen. Wahrscheinlich wurden die meisten Menschen ironisch und zynisch, wenn es um die Erinnerung an die erste große Liebe ging; und ebenso wahrscheinlich taten sie das nur, weil sie diesem Gefühl nie mehr so schutzlos ausgeliefert sein wollten.

      Dann kamen ihm seine Ideen augenblicklich pathetisch und geradezu albern vor. Erste große Liebe! Was hatte das mit Klaus Ferner und ihm zu tun? Michel hatte das einmal gesagt: also war doch dieser Klaus deine erste große Liebe.

      Du warst und bist meine erste und einzige große Liebe, das hatte er Lisa immer wieder gesagt und es immer auch genau so gemeint.

      Das ist nur typisch für verheiratete Schwule, hatte Michel lapidar dagegen gehalten. Ich sage dir doch, du musst Leute treffen, die auch in deiner Situation sind. Die meisten verheirateten Schwulen sind bei der allerersten Frau hängen geblieben, weil sie bei der die Erfüllung ihres größten Wunsches gefunden haben: nie mehr schwul sein zu müssen. Er verspürte plötzlich eine unglaubliche Wut auf Michel; anscheinend konnte er dem nur gefallen, wenn er in diesem erbärmlichen Sumpf saß, in dem er sich lächerlich und unmöglich gemacht hatte und aus dem ihn nur ein gewisser Michel Rijnders retten konnte.

      Dass irgendeine dumpfe Form von Sexualität das alles bestimmende Element in seiner Beziehung zu Klaus Ferner gewesen war, daran gab es natürlich nichts zu deuteln. Aber er selber hatte dabei die Regie geführt, hatte Versuchsabläufe minutiös geplant und durchgeführt wie bei einem Tierversuch, und niemals war dabei irgendetwas eindeutig gewesen; ganz im Gegenteil: ein Wort wie schwul oder homosexuell hätte augenblicklich alles beendet.

      Irgendwann hatte er diesen Jungen eben nicht nur wahrgenommen, sondern diese Person mit ganz bestimmten Bedeutungen verbunden, die aber in dem Maße, wie sie zwingender und fordernder wurden, auch immer weniger greifbar geworden waren, weil ihnen einfach die Worte gefehlt hatten. Wahrscheinlich hatten sie - bewusst oder unbewusst - diese Worte auch gemieden wie der Teufel das Weihwasser; denn schon der geringste Versuch, die Sprachlosigkeit zu überwinden, war Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre häufig noch rigoros abgeblockt worden: Als er einmal Klaus Ferners Eltern gegenüber diesen als seinen besten Freund bezeichnet hatte, für den er alles tun würde, war ihm dessen Vater, ein Polizeibeamter, ziemlich unwirsch über den Mund gefahren und hatte den Rahmen des Möglichen abgesteckt: Sagen wir mal, ihr beide seid gute Kumpel. Mein bester Freund, das klingt mir zu feminin.

      Wieso hatte der Kerl so etwas überhaupt gesagt?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf, und dann verdrängte er diese Frage, weil sie ihm peinlich war.

      Wenn überhaupt, dann war ihr Verhältnis eher zufällig und scheinbar ohne jede Absicht auf den Punkt gebracht worden. Aber eben nur scheinbar; denn hinter allem, was passiert war, hatte er selber gestanden und die Fäden gezogen.

      Hast du nicht auch oft Bock darauf, 'nem Mädchen mal unter die Bluse zu fassen?, hatte Klaus Ferner ihn einmal gefragt, als sie noch spätabends nebeneinander auf der Bank des Spielplatzes gesessen hatten.

      Nein, habe ich nicht.

      Ach, hör doch auf! Du traust dich bloß nicht.

      Nein, ich habe dazu einfach keine Lust.

      Du bist doch 'ne impotente Sau.

      Warum willst du es denn?

      Na, du stellst vielleicht Fragen! Wenn ich nur daran denke, so warme Titten anzufassen, kriege ich schon 'ne Latte.

      Dabei hatte sich Ferner in den Schritt gefasst, aber trotz der Dunkelheit hatte er selber nicht einmal gewagt, den Händen des anderen zu offensichtlich mit seinen Blicken zu folgen. Bei einem flüchtigen Blick aus den Augenwinkeln war alles nebulös geblieben genau wie Schwanz, Latte, schwul, einen Steifen kriegen nur Worthülsen blieben, die im eigenen Kopf zwar ständig neue Bilder produzierten, in der Wirklichkeit aber kaum etwas auf den Punkt brachten, weil man über so etwas nicht wirklich auch nur redete.

      Wenn Ferner diese Wörter benutzte, dann nur weil er gewusst haben musste, dass sie sein Gegenüber in Verlegenheit brachten, da es keine wirklichen Antworten geben konnte; weil er ein instinktives Gespür dafür hatte, dass diese Wörter im Kopf seines Gegenübers Bilder produzierten, die den immer mehr unter Druck setzten, damit der endlich etwas tat, von dem ein Klaus Ferner sich anschließend völlig empört distanzieren konnte.

      Wenn ihm selber lange unverständlich geblieben war, weshalb er trotz immer häufiger und immer ungenierter vorgetragener Demütigungen zu jeder Sekunde geradezu eifersüchtig die Nähe von Klaus Ferner gesucht hatte, so war ihm damals völlig unklar geblieben, was den anderen eigentlich an ihm hatte interessieren können. Im Nachhinein ließen sich natürlich plausible Erklärungen finden: nicht trotz, sondern gerade wegen aller Demütigungen war dieser Kerl immer attraktiver für ihn geworden; denn obschon ein Wort wie schwul oder Homo zwischen ihnen tatsächlich nicht ein einziges Mal gefallen war, musste Klaus Ferner natürlich die Macht gespürt haben, die er letztlich über ihn besessen hatte. Die kleinste Kleinigkeit wie das Berühren ihrer Oberschenkel, wenn sie nebeneinander auf der Couch in der Küche von Ferners Eltern saßen, hatte ihn schon in die schlimmste Verlegenheit bringen können. Und je unabsichtlicher von Ferners Seite alles ausgesehen hatte, um so mehr hatte es gewirkt.

      Irgendwann hatte ihnen beiden diese Absichtslosigkeit wohl nicht mehr gereicht, und er hatte bestimmte Situationen ganz bewusst herbeigeführt, Rituale gezielt inszeniert, die das zum Ausdruck bringen sollten, für das sie niemals Worte gefunden hatten.

      Sie saßen zusammen in seinem Zimmer und hörten die Beatles-Songs, deren Texte er heute noch auswendig hersagen konnte, obschon sie doch so offensichtlich nicht für jemanden wie ihn geschrieben waren, sondern exklusiv für Jungen, die gerne mal einem Mädchen unter den Pullover fassen wollten. Irgendwann fingen sie an herumzubalgen, schließlich war daraus ein regelrechter Ringkampf geworden. Wer zuerst auf dem Rücken liegt hat verloren. Er selber hatte diese Regel aufgestellt, und natürlich hatte er als erster auf dem Rücken gelegen.

      Ich habe gewonnen!

      Ich ergebe mich aber nicht.

      Und dann hatte Ferner endlich auf ihm gesessen.

      Ergibst du dich jetzt?

      Nein, ich ergebe mich nie.

      Ferner war weiter auf seinem Oberkörper nach vorne gerutscht und hatte die Knie auf seine Oberarme gesetzt. Jetzt denn?

      Er wusste nicht mehr, wie lange er sich zwischen den weit gespreizten Oberschenkeln in der blauen Cordhose genüsslich irgendwelchen Torturen wie Muckireiten und ähnlichen Scherzen unterzogen hatte. Auf jeden Fall war irgendwann die Beule in der blauen Cordhose, die schließlich sogar sein Kinn erreicht hatte, einfach nicht mehr zu übersehen gewesen. Ihn hatte der Anblick und die Tatsache, dass er sie ganz offensichtlich hatte sehen sollen, völlig irritiert.

      Ich verstehe wirklich nicht, warum du mir das überhaupt erzählst, hatte Lisa ihn gestern an dieser Stelle unterbrochen, und in ihrer Stimme hatte die Entrüstung darüber mitgeschwungen, dass eine derartig belanglose Peinlichkeit irgendetwas bedeuten, anscheinend sogar der Höhepunkt seiner skurrilen Anekdote über einen pubertären Ausrutscher sein sollte.

      Ihn hatte ihr offensichtliches Unverständnis und Desinteresse nur wütend gemacht. Klaus fand das eben geil, und ich auch.

      Was soll denn daran geil sein? Ich finde es einfach widerlich, wenn jemand einem anderen bewusst wehtut.

      Du vielleicht, aber wir fanden das eben geil! Klaus hat sogar einen steifen Schwanz gehabt.

      Mein Gott! Jetzt werde doch nicht auch noch ordinär. Das ist ja nur noch peinlich.

      Und damit war diese Geschichte für Lisa endgültig beendet gewesen. Er hatte nichts mehr gesagt, und sie hatte nichts mehr davon hören wollen. Er hätte ihr die Geschichte ohnehin nicht weiter erzählen können.

      Mit


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