Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher
du schwul bist.
Er musste plötzlich lachen. Der Schwiegermutter würde das Wort schwul nicht über die Lippen kommen. Selbst unter verschärfter Folter nicht.
Dass du homosexuell bist.
Nein, nicht einmal dieses Wort würde sie gebrauchen können.
Na, dass du eben so bist.
Wie denn? Wie bin ich denn? Sag es doch mal! Du würdest mir wirklich sehr damit helfen.
Wieder musste er lachen. Er könnte noch so lange nachfragen, er würde von seiner Schwiegermutter niemals in Erfahrung bringen, wie er war. Und niemals würde es ihn in Wahrheit auch nur im geringsten interessieren.
Er sah auf seine Armbanduhr. Es war kurz vor zwei. Langsam ging er zu seinem Wagen zurück. Es war noch zu früh, um zum Hotel zurückzugehen; er würde es ohnehin nicht wagen, die Frau zu fragen, ob sie über ihren Schwager bereits etwas in Erfahrung hatte bringen können. Und was er ansonsten tun sollte, darüber hatte er nicht die geringste Vorstellung. Er nahm sich schließlich vor, ans Meer zu fahren, und nach kurzer Zeit konnte ihn die Vorstellung sogar beruhigen, stundenlang am Strand spazieren zu gehen.
Es war um diese Uhrzeit nicht einfach, die Stadt zu verlassen. Noch immer strömten die Menschen mit ihren Autos in die schon völlig überfüllten engen Straßen, um an diesem kalten und diesigen Nachmittag die Einkäufe für die Woche zu erledigen. Schließlich hatte er völlig die Orientierung verloren, hielt kurz hinter der Ortsgrenze noch einmal an und nahm die auf dem Beifahrersitz liegende, völlig zusammengedrückte Landkarte zur Hand. Bevor er Michel kennen gelernt hatte, war Holland für ihn nie etwas anderes gewesen als ein Ort, an dem man mit der Familie den Sommerurlaub verbringen konnte; wo es ansonsten noch Pommes frites mit einer Mayonnaise gab, die auch den Kindern auf Anhieb viel leckerer vorgekommen war als die in Deutschland; wo Frau Antje in Tracht und Holzschuhen durch die Gegend lief, um im deutschen Werbefernsehen für Käse aus eben diesem Land zu werben. Diese endlosen und raumfressenden Industriegebiete ringsum die Stadt passten absolut nicht in sein Bild. Nachdem er eine geraume Zeit gereizt die Landkarte betrachtet hatte, fuhr er weiter.
Erst als er die an den Dünen entlanglaufende Straße erreicht hatte, diese nach wenigen Minuten eine weite Linkskurve beschrieb und sein Blick auf den noch rund einen Kilometer entfernten Ort Callantsoog fiel, stimmten sein Vorurteil und die Wirklichkeit wieder überein. Mehr noch: die vielleicht gerade bei diesem nasskalten Februarwetter besonders anheimelnde Atmosphäre des kleinen Badeortes hatte er nicht erwartet.
Hier ist es gezellig, dachte er, als er den Wagen auf dem von kleinen Geschäften umstellten Dorfplatz abstellte. Obschon es zu dieser Jahreszeit und bei diesem Wetter außer ihm offensichtlich kaum einen Menschen hierher verschlagen hatte, waren fast alle Läden rings um den Platz geöffnet.
Gezellig war eines der vielen Wörter, die Michel ihm beigebracht hatte; und hatte er versucht, ein Wort wie gezellig auszusprechen, so hatte Michel immer lachen müssen. Und dann war ihm plötzlich auch noch die Situation vor Augen, in der dieses Wort zum erstenmal aufgetaucht war: Sie saßen zusammen in einem Restaurant irgendwo in der Hoge Veluwe. Mitten in dem Heidegebiet in der Nähe von Arnhem waren sie von einem Unwetter überrascht worden, und vom ersten Augenblick an hatte ihn die Atmosphäre in dem Lokal beruhigt.
Nachdem Michel ihm beigebracht hatte, dass gemütlich gezellig hieß, hatte er das plötzlich seltsam gefunden.
Was ist daran seltsam?
Wenn ein Deutscher es irgendwo gemütlich findet, dann meint er damit seine eigene Stimmung in einer ganz bestimmten Umgebung; das holländische Wort setzt doch wohl voraus, dass man unter Menschen ist, die man in irgendeiner Weise nett findet.
Michel hatten derartige Spitzfindigkeiten ganz offensichtlich nicht interessiert, vielleicht hatte er sie auch wirklich nicht verstanden, jedenfalls hatte er schließlich nur gemeint: Aber gemütlich ist es auf deutsch doch auch nur mit anderen Menschen.
Na, ich weiß nicht. Zumindest habe ich in der letzten Zeit immer das Gefühl, dass es ungemütlich wird, sobald ich auftauche. Manchmal denke ich sogar, ich kann bis ans Ende der Welt laufen, und wenn ich dort ankomme, ist all der Schlamassel schon da, in dem ich stecke.
Michel hatte ihn angelacht. Ich kann mir vorstellen, dass du dich im Augenblick nicht sonderlich wohl fühlst in deiner Haut. Du bist bei dir selber nicht zu Hause. Aber das kriegen wir schon wieder hin.
Michels Worte waren ihm an jenem Tag seltsam nahegegangen, und er hatte wie ein verliebter Pennäler dessen Hand unter dem Tisch gedrückt.
Nur wenig später hatte er dann eine Vorstellung gegeben über das, was er mit seiner Ungemütlichkeit gemeint hatte. Er hatte Michel abgefertigt wie einen dummen Jungen. Es hat einfach keinen Sinn, wenn du jetzt über die verlorene Zeit trauerst, hatte Michel ihn nur trösten wollen; über den Umweg, den du gemacht hast, um endlich so zu werden, wie du immer schon warst oder sein wolltest.
Er hatte Michels Hand augenblicklich losgelassen. Es gab für mich keinen Umweg, und es gab auch keine verlorene Zeit. Ich habe Lisa ganz bewusst geheiratet, ich habe ganz bewusst drei Kinder haben wollen, und vielleicht gerade weil das alles oft auch mit vielen - sagen wir mal - Unannehmlichkeiten verbunden war, kenne ich überhaupt nicht dieses Gefühl, das man heutzutage als midlife-crisis bezeichnet. Und dann war er auch noch philosophisch ausschweifend geworden. Die meisten Leute ersticken eben heute irgendwann an der Menge ihres nicht-gelebten Lebens. Diese Karrieretypen, die immer nur geschuftet haben und plötzlich spüren, dass sie zum alten Eisen gehören. Oder die emanzipierten Schranzen, die ihr ganzes Leben lang schreien, dass ihr Bauch ihnen gehört, obschon niemand jemals das Gegenteil behauptet hat; und mit 45 stellen sie dann anscheinend ganz überrascht fest, dass es jetzt wohl doch ein Schoßhündchen sein muss, weil es für Kinder zu spät ist.
Oder nimm doch nur deine Bekannten in den Schwulenkneipen! Ich habe nicht die geringste Lust dazu, so zu werden wie diese Leute. Die jungen Kerle, die jeden Abend nur noch schön sind, weil sie den Arsch nie voll genug kriegen; die alten Säcke, die ihr verkorkstes Leben durch albernes Getue nicht wahrhaben wollen; und die besoffenen Tunten, für die das Leben anscheinend nie mehr sein wird als eine Prunksitzung des Kölner Karnevals.
Michel hatte ihn nach diesem zynischen Ausbruch fassungslos angesehen. Und dann hatte der Junge auf eine Weise reagiert, die ihn völlig überrascht hatte: Du hältst mich bestimmt für dumm?, hatte er gefragt. Für ganz dumm und oberflächlich.
Er hatte augenblicklich widersprechen, sich entschuldigen wollen; aber statt dessen hatte er nur in Michels Gesicht geschaut, das ihm plötzlich hilflos, geradezu flehend vorgekommen war: Sag bitte, dass es nicht so ist! Sag, dass du mich nicht für dumm und oberflächlich hältst! Und dann hatte er nicht widersprochen. Vielleicht aus Wut nicht. Wahrscheinlich aus einem anderen Grund.
Geblieben war nur dieses Bild, diese eine Sekunde, in der man einen Menschen bis auf den Grund seiner Seele durchschaut zu haben glaubte, weil man dem anderen wehgetan und ihm keine Chance mehr gelassen hatte, sich zu verstellen. Ein ganz tiefes Gefühl von Mitleid, das er selber niemals so bezeichnet hätte, weil er wusste, dass es in seinem Fall von jemandem geäußert worden wäre, der zu wirklichem Mitleid gar nicht fähig war; der es einfach brauchte, ein Gegenüber völlig klein zu machen, um von der eigenen Erbärmlichkeit abzulenken.
Erst Tage später hatte er sich bei Michel entschuldigt.
Ich will, dass wir zusammen sind, weil wir uns lieben, hatte Michel nur gesagt. Dein Mitleid ist jedenfalls das Letzte, was ich brauche.
Mit Lisa hatte er solche Situationen oft erlebt. Einmal hatte er Lisa sogar eine Ohrfeige verpasst, und noch heute konnte er aus seiner Erinnerung dieses Bild hervorkramen wie aus einem Fotoalbum: Lisas fassungsloses Gesicht, als sie neben Veras Kinderbett stand und mit der linken Hand ihre Wange hielt. Und noch heute konnten auch die grauenhaften Schuldgefühle bei Bedarf wiedererweckt werden und die Scham, wegen der alleine man sich dem anderen gegenüber verpflichtet fühlen musste. Nun kam ihm dieser seelische Mechanismus vor wie die inszenierten Bilder verhungernder Kinder mit ausgestreckter Hand und großen Kulleraugen, mit denen man etwa vor Weihnachten in den Kirchen Mitleid erwecken wollte bei den Spendensammlungen für die dritte