Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher


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er langsam die über den Dünenkamm zum Strand führende Treppe emporstieg, dachte er wieder an Michel. Ich will nicht so werden wie du. Ich finde dich ekelhaft: auch dieses Gesicht Michels würde er nie vergessen.

      Und plötzlich kam ihm sein Verhalten ganz unglaublich vor. Er hatte den Jungen auf die übelste Weise beleidigt, ihn gedemütigt, und doch war er davon ausgegangen, dass Michel nichts anderes zu tun wisse, als zu Hause sehnsüchtig auf ihn zu warten. Ohne Michel nach dem Streit auch nur ein einziges Mal gesprochen zu haben, war er gestern nach Arnhem gefahren. Nun ging es ihm schlecht genug, nun sollte der andere ihm gefälligst helfen. Er nahm sich vor, die Frau im Hotel bei seiner Rückkehr gleich wieder nach Michel zu fragen, sie für den Fall, dass sie noch nichts unternommen hatte, eindringlich zu bitten, ihm bei der Suche nach dem Jungen zu helfen. Und wenn er ihr dafür die ganze Wahrheit erzählen müsste, er würde Michel finden. Und sich entschuldigen.

      Es war gerade Ebbe, und da außerdem der Wind vom Land blies, hatte sich das Wasser weit zurückgezogen. Die zum Küstenschutz aus schweren Steinen ins Meer hinausgebauten Buhnen lagen größtenteils trocken und kamen ihm vor wie die Kaimauern eines ausgestorbenen Hafens. Bis auf zwei Menschen, die er noch als kleine bewegliche Punkte in der Ferne wahrnehmen konnte, war der Strand menschenleer.

      Er ging dicht am Wasser entlang, und schon nach kurzer Zeit hatte ihn die Monotonie der schwachen Brandung eingelullt, die schreckliche Unruhe vergessen lassen, ihm einen anderen Rhythmus aufgezwungen. Nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, dass weit und breit kein Mensch zu sehen war, blieb er sogar stehen und häufte zunächst mit bloßen Händen, später mit einer angespülten Holzplanke den Sand zu einem ansehnlichen Berg auf, den er anschließend noch mit einem Graben umgab. Es musste bald die Flut einsetzen, und wie einem kleinen Kind machte es ihm plötzlich Spaß, zuzuschauen, wie lange seine Sandburg den Wellen widerstehen würde, sich seinen Phantasien hinzugeben angesichts dieses bescheidenen Schauspiels, an dessen Ausgang es letztlich ohnehin keinen Zweifel geben konnte. Erst als er in der Ferne Menschen auftauchen sah, ging er schnell weiter. Es war kurz vor vier, als er beschloss, den nächsten Strandaufgang zu benutzen, um anschließend durch die Dünen nach Callantsoog zurückzukehren.

      Der Dünenstreifen war an dieser Stelle allerdings wesentlich breiter als in der Nähe des Ortes, zudem verliefen die Wege nicht parallel oder in rechtem Winkel zum Strand, sondern waren hier derart verschlungen angelegt, dass er nach kurzer Zeit bereits nicht einmal mehr wusste, ob er überhaupt in die richtige Richtung ging. Um sich zu orientieren, verließ er schließlich den Weg und lief durch tiefen nachgebenden Sand eine der Dünen hinauf.

      Von oben waren weder das Meer noch sonst irgendein Anhaltspunkt zu sehen. Ringsum breitete sich scheinbar endlos die Dünenlandschaft aus, die ihm plötzlich wie eine geeignete Kulisse für die zahlreichen Karl-May-Filme vorkam, von denen er in den späten 60er Jahren nicht einen einzigen versäumt hatte. Erschöpft ließ er sich in den kalten und feuchten Sand fallen.

      Durch laute und übermütig klingende Stimmen wurde er plötzlich aus seinen Gedanken gerissen. Auf dem Weg unterhalb seines Sitzplatzes sah er einen Pferdekarren mit vier jungen Leuten vorbeikommen. Der Karren wurde von einem stämmigen Ackergaul gezogen, der von zwei Mädchen auf dem vorderen Teil des Wagens angetrieben wurde. Auf dem hinteren Teil des Wagens saßen mit dem Rücken zur Fahrtrichtung ein Mädchen und ein junger Mann. Das Mädchen zog ein kleines weißes Pferd am Zügel hinter dem Karren her, ein nervös und zerbrechlich wirkendes Tier, das ab und zu versuchte, an dem Gefährt vorbeizulaufen, und dabei jedesmal das Mädchen fast von dem Wagen zog.

      Augenblicklich hatte ihn dieses Mädchen an Vera erinnert.

      Sie war auf keinen Fall älter als 16, eher noch 15, hatte lange hellbraune Haare und den gleichen zarten Körperbau wie Vera, die sie auch heute noch am liebsten bei ihrem Spitznamen riefen: Floh. Unser Floh. Sie trug eine Reithose, große, plumpe Gummistiefel und eine gelbe Regenjacke, und auch diese Kleidung schien ihm nun geradezu typisch zu sein für die Art und Weise, auf die auch Vera es verstand, sich nach Lisas Ansicht geradezu zu verunstalten. Vera war immer ein ausgesprochen hübsches Kind gewesen; aber auf ihr Äußeres hatte sie ebenso wie er selber nie den geringsten Wert gelegt. Erst in den letzten Wochen hatte er sich immer häufiger gefragt, ob diese offensichtliche Nachlässigkeit oder sogar Gleichgültigkeit bei ihr echt oder nicht doch schon längst ganz bewusste Strategie war. Mittel zum Zweck eben, und als er nun in das Gesicht des Mädchens sah, fragte er sich, ob Vera nicht noch viel zu jung für die Beziehung zu Jochen war, viel zu jung eigentlich für jede Beziehung, und dann kam ihm dieser Gedanke plötzlich peinlich vor, geradezu ungeheuerlich, wie das dumme Gerede eines Spießers, der sich völlig überflüssigerweise in die Angelegenheiten eines fremden Menschen einmischt. Trotz ihres eher zerbrechlichen Äußeren hatte Vera schließlich immer schon gewusst, was sie wollte, und wie zur Bestätigung nahm er nun wahr, dass auch das Mädchen auf dem Karren es trotz des jetzt fast hämischen Lachens der anderen immer wieder verstand, das ängstliche Pferd, das sie am Zügel hielt, zu beruhigen und zum Weitergehen zu bewegen.

      Vera war allerdings nie von dieser Schwärmerei für Pferde angesteckt worden, die er dem Mädchen auf dem Karren unterstellte und die anscheinend ganze Generationen junger Mädchen befiel wie Masern oder Windpocken. Und dann war ihm plötzlich fast zum Lachen zumute: Es gab da doch ein Ereignis, das allerdings schon Jahre zurück lag und geschehen war, als Vera 6 oder 7 Jahre alt gewesen war. Ganz genau konnte er sich plötzlich an diese Episode erinnern: Es war in dem Jahr gewesen, als Vera eingeschult worden war. An einem warmen Sommertag waren sie zu einem Ausflugslokal gefahren. Man hatte dort für die Kinder Ponys mieten können, und kaum hatte Vera die kleinen Tiere entdeckt, hatte sie so lange gequengelt, bis sie schließlich mit einem der kleinen Tiere durch den Wald gelaufen waren. Und von dem Tag an hatte Vera sich zu Weihnachten ein Pferd gewünscht. Natürlich hatten sie sofort mit amüsierter Einfühlungsgabe versucht, Vera von diesem Wunsch an das Christkind abzubringen und insgeheim gehofft, sie würde alles das ohnehin in ein paar Tagen vergessen haben; aber dem war nicht so gewesen. Je näher das Weihnachtsfest gerückt war, um so mehr hatte sich Veras Wunsch verfestigt und sogar konkretisiert: Am liebsten ein weißes. Aber die Farbe ist eigentlich nicht so wichtig. Und im gleichen Maße hatten sich Lisas und seine Reaktionen entschiedener und ärgerlicher gezeigt, bis Lisa eine erneute Erinnerung an den einzigen Weihnachtswunsch ihrer Tochter völlig gereizt mit dem Satz abgetan hatte: Du hast doch wohl einen Vogel!

      Genutzt hatte es gar nichts. Als habe sie ihren Eltern zum ersten Mal als Boten an das Christkind zur Überbringung der Weihnachtswünsche nicht mehr getraut, hatte Vera einen Wunschzettel geschrieben und vor die Tür ihres Kinderzimmers gelegt: Liebes Christkind. Ich will ein Pferd haben. Es muss gar nicht groß sein, und am liebsten ein weißes. Lisa hatte den Zettel gefunden und zusammen hatten sie sich über die vielen Rechtschreibfehler fast totgelacht und waren zu der Entscheidung gekommen, dass diesem Wunsch nun doch entsprochen werden musste. Am nächsten Tag hatten sie in der Stadt ein sündhaft teures Steifftier gekauft und sich von dem Augenblick an auf die Bescherung gefreut.

      Es war eine Katastrophe geworden. Wahrscheinlich hatte Vera ihre maßlose Enttäuschung am Heiligen Abend mit Rücksicht auf die Eltern noch zu verbergen versucht, aber am nächsten Morgen lag das Plüschtier mit einem Zettel versehen vor ihrer Zimmertür: Liebes Christkind, so eins nicht. Ich will nur ein echtes. Er spürte, wie ihm die Erinnerungen die Tränen in die Augen trieben und schnell wandte er seine ganze Aufmerksamkeit wieder seiner augenblicklichen Umgebung zu.

      Keine fünfzig Meter von ihm entfernt blieb der Wagen plötzlich stehen, und sofort fragte er sich, ob die jungen Leute ihn bereits gesehen hatten oder nicht. Als es deutlich war, dass sie ihn ganz offensichtlich noch nicht wahrgenommen hatten, glaubte er sofort, sich den anderen nun unbedingt durch irgendwelche Auffälligkeiten bemerkbar machen zu müssen.

      Der junge Mann und das Mädchen sprangen vom hinteren Teil des Wagens, mit einem Satz saß das Mädchen auf dem weißen Pferd, das augenblicklich losschnellte, und nach wenigen Galoppsprüngen waren die beiden hinter der nächsten Wegbiegung verschwunden.

      Es fiel ihm sofort auf, dass die anderen drei Leute ganz offensichtlich nur wenig Interesse füreinander hatten. Die beiden Mädchen, noch Kinder von 11 oder 12 Jahren, machten sich am Geschirr des anderen Pferdes zu schaffen, während der Mann mit in die Hüften gestemmten Armen auf dem


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