Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher


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Wagen brauchen meine Eltern ohnehin nicht.

      Hast du deinen Eltern schon irgend etwas erzählt?

      Bist du verrückt?

      Es dauerte noch lange, bis sie sich endlich verabschiedet hatten.

      Übrigens, Gerd?

      Ja?

      Ich liebe dich.

      Ich dich auch, Lisa.

      Er legte den Hörer auf den Apparat zurück, und dann war es wieder um seine Fassung geschehen: er warf sich auf das Bett und heulte los wie ein Schlosshund.

      Een vieze, vuile flikker: Er selber hatte Michel einmal gefragt, was man eigentlich sagen musste, wenn man einen Schwulen auf holländisch beleidigen wolle.

      Een vieze, vuile flikker.

      Aber warum willst du das denn wissen?, hatte Michel ihn völlig entgeistert gefragt. Das ist doch ein schrecklicher Ausdruck. Hier bei uns kannst du jeden anzeigen, der dich so nennt. Das ist nämlich Diskriminierung.

      Außer sich vor Wut schlug er plötzlich mit der geballten Faust gegen die Wand. Seine Geduld mit Michel war einfach zu Ende. Lisa sollte endlich kommen, oder er würde verrückt werden.

      Es war kurz nach halb sechs, und regungslos sah er aus dem Fenster auf die nassen, dunklen Straßen, durch die sich noch immer viele Menschen zwängten, die sich wegen des nun wieder einsetzenden Regens zumeist dicht an den Hauswänden hielten. Alle diese Leute, dachte er plötzlich, wussten, was sie zu tun hatten, kannten ihren Platz in der Gemeinschaft, betrachteten Diskriminierung allerhöchstens als juristisches, aber auf gar keinen Fall als existentielles Problem; und dann kam ihm dieser Gedanke widerlich vor, wie bodenloses Selbstmitleid, zu dem er kein Recht mehr hatte und das zu nichts anderem mehr führen konnte als dazu, den Ekel vor sich selber noch zu vertiefen.

      Er wusste, dass er nun Alkohol brauchte, und augenblicklich sah er sich in einem unerträglichen Dilemma: Ohne Alkohol würde er den Rest des Tages nicht überstehen, davon war er völlig überzeugt, aber nichts würde ihn dazu bringen, diesen Raum noch einmal zu verlassen, unter Menschen zu gehen, die seine Erbärmlichkeit sofort bemerken und ihn auslachen mussten. Um fünf vor sechs verließ er das Zimmer, war an der Rezeption bemüht, jegliches Geräusch zu vermeiden, ließ wie ein Dieb die Tür hinter sich behutsam ins Schloss fallen und lief durch den strömenden Regen zu dem Eingang des Supermarktes, den er bereits heute Morgen ganz in der Nähe des Hotels ausfindig gemacht hatte. Es erschreckte ihn dann, dass in niederländischen Supermärkten ganz offensichtlich keine harten alkoholischen Getränke zu kaufen waren, und nach langem, unschlüssigem Hin und Her, das ihn zunehmend verunsicherte und peinlicher wurde, je länger er unentschlossen vor dem riesigen Angebot alkoholischer Getränke stand, nahm er schließlich zwei Weinflaschen aus dem übervollen Regal und ging zur Kasse. Es kam ihm vor, als grinse die Verkäuferin an der Kasse ihn schamlos an, weil auch sie seine Hilflosigkeit schon längst durchschaut haben musste. Nirgendwo sah er Tragetaschen, und da er die Verkäuferin nicht danach fragen wollte und für den kurzen Weg keine Jacke angezogen hatte, lief er schließlich mit den beiden Flaschen unter den Armen zurück zum Hotel. Dort angekommen blieb er einen Augenblick atemlos stehen, glaubte wieder die Blicke aller Passanten auf sich gerichtet und betrat schließlich das Gebäude. Sollte die Frau nun an der Rezeption sitzen, würde er vor Scham in den Erdboden versinken. Als sie nicht dort saß, war er davon überzeugt, dass sie ihn längst von einem Fenster aus gesehen hatte oder ihn nun aus dem Hinterzimmer oder mit Hilfe einer hier irgendwo versteckten Kamera beobachtete.

      Auch im Zimmer wollte sich seine Unruhe nicht legen. Weshalb hatte er heute Morgen die Frau überhaupt angesprochen? Was, wenn sie nun doch noch irgendetwas für ihn in Erfahrung gebracht hatte, ihm dies unbedingt noch mitteilen wollte und womöglich an seine Zimmertür klopfen würde? Er würde den ganzen Abend angstvoll jedes Geräusch in diesem Zimmer vermeiden, das wusste er, nur weil er zu jeglichem Kontakt zu seiner Umwelt ganz offensichtlich nicht in der Lage war. Dann wurde er aggressiv, weil sich im Zimmer nichts fand, um die Flaschen zu öffnen, und als es ihm schließlich mit äußerster Gewalt gelang, die Korken in die Flaschen zu pressen, schoss aus einer der Flaschen ein Schwall Rotwein und ergoss sich auf den ausgetretenen und schmuddeligen Teppichboden.

      Er mochte keinen Wein, wegen des hohen Säuregehalts würde sein Magen dagegen rebellieren und er sich wahrscheinlich im Lauf der Nacht übergeben müssen. Er stürzte die ersten Schlucke gierig hinunter und nach wenigen Minuten spürte er, wie die Wirkung des Alkohols einsetzte und seine Aufregung sich legte. Aus Erfahrung wusste er, dass dieses Gefühl der Entspannung anhalten würde bis zum Einschlafen, man sich bei der ausreichenden Menge an Alkohol nicht einmal mehr Gedanken machen musste um den richtigen Zeitpunkt.

      Irgendwann nahm er auch die Geräusche im Haus, auf die er zunächst ängstlich fixiert war, nicht mehr wahr. Es kam ihm plötzlich absurd vor, in einem dunklen Raum zu sitzen, er schaltete das Licht ein, und dann hielt er es für besser, den roten Flecken auf dem Teppichboden noch heute zu entfernen. Als dies nicht gelang, war ihm auch das gleichgültig. Fast befriedigt nahm er dann zur Kenntnis, dass seine Augen offensichtlich bereits nicht mehr in der Lage waren, ein einheitliches Bild der Stehlampe auf dem Nachttischchen neben dem Bett zu erzeugen. Als auch die zweite Flasche geleert war, wusste er, dass es für ihn hier und heute nichts mehr zu tun gab. Vielleicht, dachte er noch, musste er sich noch darum kümmern, häufig genug seine Blase zu entleeren, weil das Bettnässen in einem Hotel wohl der Gipfel der Entwürdigung sein musste. Für Sekunden nur erschrak er, als er daran dachte, bei Lisas Ankunft am nächsten Tag womöglich immer noch betrunken zu sein. Dann löschte er das Licht und legte sich auf das Bett.

      An Schlaf war nicht zu denken. Einen Augenblick dachte er daran, nun zumindest noch die genaue Uhrzeit in Erfahrung zu bringen, weil Lisa doch morgen kommen würde; doch dann war ihm auch das gleichgültig. Er lag schließlich regungslos auf dem Bett und starrte auf das schmuddelige Viereck der Zimmerdecke, auf die irgendeine aggressive Neonreklame von außen ihre unregelmäßigen Lichtblitze warf und die plötzlich zur Leinwand wurde für Bilder, auf deren Auftauchen und Verschwinden er nicht mehr den geringsten Einfluss hatte: Michel saß vor ihm auf dem Fußboden, fasste sich an den Hinterkopf und starrte dann völlig ungläubig auf seine Hand, die voller Blut war. Ich will nicht so werden wie du, weil ich dich ekelhaft finde. Dein Mitleid will ich bestimmt nicht, sagte Michel und lächelte nun wieder, aber gemeinsam kriegen wir das schon hin. Und als der Junge ihm seine blutverschmierte Hand hinhielt, die ihn fast berührte, wandte er sich mit Widerwillen ab. Erst als Michel plötzlich einen Fotoapparat in der Hand hielt und im Begriff war, den darin enthaltenen Film zu belichten, warf er sich auf den Jungen, versuchte, ihn mit allen Mitteln von seinem Vorhaben abzubringen. Es kam zu einem Handgemenge, und er hörte, wie er die Lampe auf dem Nachttisch zu Boden warf. Dann stand Michel vor ihm und hielt triumphierend den herausgerissenen Film hoch. Voller Hass stürzte er sich auf Michel, riss ihm den Film aus der Hand und stellte mit rasendem Puls und größter Genugtuung fest, dass Michels Vorhaben gescheitert war.

      Er hielt den schmalen Streifen mit den Bildern gegen das Licht. Er sah nichts, aber er wusste ohnehin, dass die Bilder eine Wiese zeigten, ein paar schmuddelige kleine Ponys, und da war Klaus Ferner.

      Und wieder die verschlissene blaue Cordhose, die sich über eines der kleinen Pferde spreizte, sich schließlich immer fester und unerbittlicher in den weichen Rücken des kleinen Tieres presste, den Hals immer energischer zwischen die Oberschenkel zog, als gelte es dort etwas, wenn nicht zu verbergen, so doch auf jeden Fall nur so weit deutlich werden zu lassen, dass man sich jederzeit davon noch distanzieren konnte.

      Das ist geil, sagte Klaus Ferner, saugeil, als habe es da noch den geringsten Zweifel geben können.

      Macht dir das Spaß?

      Und nun lachte Klaus Ferner. Na klar! Der ist genauso wie du. Mit dem kann man machen, was man will. Er lehnte den Oberkörper leicht zurück und warf übermütig die Beine nach vorn. Deutlich war jetzt die Wölbung in der blauen Cordhose zu sehen. Ich liebe schwule Gäule, die genießen das. Meinst du nicht auch?

      Vieze, vuile flikker, sagte plötzlich der grobschlächtige Kerl vom heutigen Nachmittag. Soll ich dir mal ein Foto von mir schenken? Und weil der Mann ganz dicht vor ihm stand, ihn fast berührte, konnte


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