Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher

Die Reise nach Ameland - Thomas Hölscher


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sein, eher jünger, trug eine Jeans, einen dicken Pullover, dessen unterer Teil in die Hose gesteckt war, und schwarze Schnürstiefel. Auch der Haarschnitt unterstützte das fast militante Äußere: die Haare waren so kurz geschnitten, dass man aus der Entfernung nicht einmal sagen konnte, ob man nun die Farbe der Haare oder die der Kopfhaut wahrnahm.

      Wahrscheinlich will der Kerl etwas von dem Mädchen, ging es ihm plötzlich durch den Kopf, und die beiden Kinder stören ihn nur dabei. Sofort war ihm dieser Gedanke peinlich, vor allem erstaunte ihn die Aggressivität, die das Bild des jungen Mannes ganz offensichtlich in ihm auslöste. Als Freund von Vera würde er diesen Kerl niemals dulden. Und wieder kam ihm dieser Gedanke albern vor, peinlich und unangebracht wie jede Einmischung in die Angelegenheiten anderer Menschen, um deren Angelegenheiten man sich nicht zu kümmern hatte.

      Der Kerl war ordinär, dachte er, ordinär und ansonsten gar nichts. Und dann machte es ihm plötzlich einen seltsamen Spaß, sich seinen Gedanken hinzugeben. Der Kerl war ordinär im wahrsten Sinne des Wortes. Er war nicht hässlich, sah vielleicht sogar ganz gut aus, aber er hatte kein Gesicht, das ihn aus der Menge herausgehoben, an das man sich nach einer zufälligen Begegnung mit ihm noch erinnert hätte. Und schließlich glaubte er sogar, dieses kantige und schroffe Gesicht bringe bestenfalls das Geschlecht des Kerls zum Ausdruck, seine brutale Animalität, und entbehre ansonsten aber auch jeder individuellen Charakteristik. Dieser Kerl sollte nur seine Finger von Vera lassen. Und als das Mädchen auf dem weißen Pferd zurückkehrte, die Gruppe passierte und in der anderen Richtung davonpreschte, wusste er, dass der Mann ihn bemerkt hatte: für Sekunden waren dessen Blicke nicht dem vorbeireitenden Mädchen gefolgt, sondern an ihm hängengeblieben, und für Bruchteile von Sekunden hatten sich ihre Blicke sogar getroffen.

      Der Körper des Jungen war allerdings perfekt, fast zu perfekt, unterstützte den Eindruck des Animalischen, der ihn von Beginn an beunruhigt hatte; und dann kam ihm auch dieser Gedanke vor wie etwas, das man nur widerwillig einräumen musste. Dieser junge Mann war ganz anders jedenfalls als der verhaschte und in sich gekehrte Woodstock-Typ in Sandalen, der zu seiner Zeit in den 70er Jahren angesagt gewesen war, einsam, selbstverliebt und unnahbar. Und plötzlich kam der Junge ihm geradezu gigantisch aufgeblasen vor. Der Kerl war ein Riese, Produkt des Körperkultes einer geistlosen Zeit, dachte er, der selbst dann noch nicht mit sich zufrieden sein durfte, wenn durch die Torturen in Fitness-Studios und die Einnahme von Hormonpräparaten die Arme aussahen wie Telefonmasten, die Oberschenkel Baumstämmen glichen und die Arschbacken das Format von Medizinbällen erreicht hatten. Die Art und Weise, wie die Kleidung die Körperformen auch noch betonte und hervorhob, kam ihm nun geradezu schamlos vor. Die Aufgeblasenheit platzte fast aus allen Nähten. Jochen hatte auf seine Nachfrage hin irgendwann gesagt, dass er regelmäßig in ein Fitness-Studio gehe.

      Und dann war es plötzlich überdeutlich: Sekundenlang hatte der junge Mann zu ihm hergesehen, hatte versucht, seine Augen zu fixieren, die auf den jungen Mann gerichtet waren und doch wie geistesabwesend ins Ungefähre geblickt hatten.

      Dann kam das Mädchen zurück, hielt das Tier an, saß ab und redete mit dem jungen Mann. Er spürte, wie sein Puls plötzlich schneller schlug: wenn auch das Mädchen nun zu ihm hersah, dann musste der Mann sie darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie beobachtet wurden. Er wusste nicht, was er dann tun sollte.

      Das Mädchen sah nicht zu ihm hin, sondern wandte sich sofort den beiden Kindern zu, die sie ganz offensichtlich darauf aufmerksam gemacht hatten, dass mit dem Geschirr des anderes Pferdes irgend etwas nicht in Ordnung war.

      Dann schaute er wieder völlig ungeniert auf den Mann, der nun abgelenkt war, weil er das weiße Pferd am Zügel halten musste und diese Situation ihm ganz offensichtlich peinlich war, so dass er wie hilflos zu den Mädchen herübersah.

      Größere Gegensätze konnte es wirklich nicht geben als diesen plumpen grobschlächtigen Kerl und das kleine, leichte Pferd, dachte er, als der Mann plötzlich völlig unerwartet wieder in seine Richtung schaute. Diesmal hätte es keinen Sinn mehr gemacht, dem Blick des anderen auszuweichen; außerdem sah er mittlerweile nicht mehr die geringste Veranlassung dazu. Ganz im Gegenteil: Er wollte es plötzlich geradezu darauf anlegen herauszufinden, wer den Blick zuerst abwenden würde, er oder dieser Kerl.

      Auch als der Mann sich schon längst wieder ausschließlich dem Tier zugewandt hatte, dessen Hals klopfte, um es zu beruhigen, und schließlich mit seinen riesigen Pranken über dessen schmalen Rücken strich, hatte er mehrfach das Gefühl, dass der Kerl zu ihm hergesehen hatte; und war ihm dessen Blick bis jetzt relativ gleichgültig vorgekommen, so war er nun davon überzeugt, dass der andere verärgert war, sich durch ihn gestört fühlte.

      Mit einem kurzen Sprung saß der Kerl plötzlich auf dem Rücken des Tieres, und im ersten Moment kam es ihm so vor, als müsse das Tier augenblicklich zusammenbrechen. Auch die Mädchen schauten offensichtlich besorgt zu dem Mann, der das kleine Tier vorwärtstrieb, ohne dass es mit hochaufgerichtetem Hals und wie in Panik weit aufgerissenen Augen über ein paar nervöse Trabschritte hinauskam; vor der Wegbiegung hielt der Kerl das Tier an und ließ es im ruhigen Schritt zurückkehren. Eines der Kinder kam ihm entgegen und hielt das Pferd am Halfter fest.

      Und dann war alles blitzschnell gegangen: Der Mann zeigte plötzlich in seine Richtung, schob das Kind zur Seite, schlug mit dem Ende des Zügels ein paarmal hinter sich, bis das Tier die schwere Last durch den tiefen Sand die Düne hinaufschleppte. Deutlich war das angestrengte Keuchen des Tieres zu hören, als der Mann vor ihm anhielt: Zal ik je een foto van mij geven? Dan hoef je me niet zo aan te staren!

      Trotz der fremden Sprache hatte er sofort verstanden, was der Kerl gemeint hatte, schon weil er nur genau das gemeint haben konnte. Er glaubte, dass ihm wegen des plötzlichen Blutandrangs augenblicklich der Kopf zerspringen müsse. Es kam ihm noch zu Bewusstsein, dass er sich nun unbedingt zur Wehr setzen, irgend etwas sagen musste, und dann sah er nur noch wie gebannt auf den Mann.

      Der lachte plötzlich höhnisch und spuckte vor ihm aus. Vieze, vuile flikker, sagte er leise und grinste, als habe er schlagartig jegliches Interesse an ihm als Gegner verloren. Wie in einer Zeitlupenaufnahme zog der Mann den Kopf des Tieres mit dem Zügel zur Seite und ließ es langsam durch den tiefen Sand der Düne wieder zurück auf die Kindern zugehen.

      Für Sekunden gelang es ihm noch, die Attitüde des empörten und von einem Flegel zutiefst beleidigten Unbeteiligten aufrechtzuerhalten; dann brach die Fassade schlagartig zusammen. Er sprang auf und lief los, es war ihm völlig gleichgültig, wie die anderen auf sein Tun reagierten, wahrscheinlich würden sie ohnehin lachen, er wollte weg, nur noch weg. Irgendwann blieb er mit rasendem Puls stehen und musste sich übergeben. Wenig später hatte er völlig die Orientierung verloren.

      Es war bereits dunkel, als er wieder in Schagen eintraf.

      Die Frau im Hotel schien schon auf ihn gewartet zu haben. Es tut mir leid, aber in Schagen wohnt Ihr Bekannter nicht. Er steht jedenfalls nicht im bevolkingsregister.

      Er nickte nur. Kann ich eigentlich vom Zimmer aus nach Deutschland anrufen?

      Sicherlich. Sie müssen nur eine Null vorwählen und die Landesnummer. Für Deutschland ist das die 49. Ganz offensichtlich war die Frau betroffen, weil er sich für ihre Bemühungen nicht einmal bedankt hatte. Dieses Gespräch muss ich Ihnen natürlich auf die Rechnung setzen, sagte sie unfreundlich.

      Selbstverständlich.

      In seinem Zimmer angekommen, zog er nicht einmal die Jacke aus. Und auch als der Ruf durchging, schien es ihm viel zu lange zu dauern, bis endlich jemand den Hörer am anderen Ende der Leitung abnahm.

      Weber.

      Lisa? Ich bin's.

      Mein Gott, wo bist du denn jetzt?

      Es dauerte eine ganze Weile, bis er Lisa erklärt hatte, wo er war.

      Bleib einfach da.

      Wie bitte?

      Bleib da! Ich komme morgen zu dir.

      Ich kann doch nach Hause kommen.

      Wir brauchen beide eine Woche Urlaub. Ich komme morgen zu dir.

      Das geht doch gar nicht.

      Doch


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