Die Reise nach Ameland. Thomas Hölscher
Wohnung geworfen. Du brauchst mich auch nicht mehr anzurufen, hatte er ihm noch an der Wohnungstür gesagt. Und geh vor allem davon aus, dass auch andere Menschen nun Entscheidungen treffen, die dir vielleicht nicht passen oder sogar wehtun.
Irgendwann an diesem elenden Abend hatte er zumindest für einen Augenblick noch das Gefühl, sich wegen dieser Bemerkung Vorwürfe machen, sich auf jeden Fall entschuldigen, das eigentlich schon lange getan haben zu müssen. Nur wenig später kam ihm jeder Gedanke daran vor wie Zeitverschwendung, weil dieser Vorfall doch lediglich der allerkleinste Teil all des Elends war, das er verursacht hatte und aus dem es schon deshalb keinen Ausweg mehr gab, weil er absolut nicht wusste, was er zu tun hatte, und immer nur die Gewissheit blieb, dass alles mit jeder Sekunde schlimmer wurde, in der er nichts tat.
Und dann kam schließlich wieder diese riesige Mattigkeit, die schon seit Wochen den Schlaf abgelöst hatte; ein klobiges, nicht greifbares Gefühl unendlicher Resignation, das jede Hoffnung nahm, den ganzen Wust von Schmutz und Scheiße, den er produziert hatte, jemals noch hinter sich lassen zu können. Ein Gefühl, das zudem mit jeder Minute zu wachsen schien, die man es noch ertrug, anstatt mit letzter Entschlossenheit endlich einen Schlusspunkt zu setzen.
3
Er erwachte abrupt aus einem traumlosen Schlaf.
Erschrocken sah er sich um, und es dauerte eine Weile, bis er sich seine Situation vergegenwärtigt hatte: Er befand sich in einem drittklassigen Hotel in einer holländischen Stadt, deren Namen für ihn bisher noch nicht einmal einen eindeutigen Punkt auf einer Landkarte bezeichnet hatte, und das alles, weil er gestern seine Familie verlassen hatte. Je länger ihm die Worte durch den Kopf gingen, desto lächerlicher kamen sie ihm vor.
Und dann war augenblicklich diese fürchterliche Unruhe wieder da. Er sah auf seine Armbanduhr und fuhr erschrocken hoch. Es war bereits kurz vor halb zehn. Er stand auf und war nun bemüht, möglichst viel Lärm in dem Zimmer entstehen zu lassen, bis ihm seine hektische Betriebsamkeit vorkam wie das Pfeifen im Walde, mit dem man nur versuchte, die eigene Angst nicht wahrhaben zu müssen. Ansonsten war in dem Haus kein Laut zu vernehmen.
Er blickte aus dem Fenster. Trotz des grauen Februarwetters herrschte in der Fußgängerzone schon lebhafter Betrieb. Für einen Augenblick beneidete er die Menschen, die unter seinem Fenster herliefen und sich einfach ihrer täglichen Routine oder irgendeiner plötzlichen Eingebung hingeben konnten, weil es für sie ganz offensichtlich keinen Grund gab, dagegen zu rebellieren. Er zog die schmuddelige Übergardine vor die Scheiben und augenblicklich kam es ihm so vor, als wolle er damit allen anderen den Anblick eines Menschen ersparen, den er selber hasste und verachtete.
Schließlich schaltete er das Radio ein, zog sich aus und ging ins Bad. Den Kran der Dusche drehte er voll auf, wich kurz vor dem kalten Wasser zurück und stellte sich vor den Spiegel über dem Waschbecken.
In den letzten Wochen hatte er sich oft im Spiegel betrachtet, und war ihm das bewusst geworden, war es jedesmal fast peinlich gewesen. Was sollte das? Auf Äußerlichkeiten hatte er noch nie Wert gelegt. Ganz im Gegenteil: Es war häufig vorgekommen, dass Lisa ihn beim Frühstück darauf aufmerksam gemacht hatte, dass er nicht ordentlich rasiert war, dem Hemd ein Knopf fehlte oder er sogar zwei verschiedene Paar Socken trug. Das Kaufen neuer Kleidung war ihm schon immer ein Gräuel gewesen, meistens hatte Lisa diese Aufgabe übernommen. Probier das hier mal an, sagte sie nur, wenn sie irgendwo in der Stadt für ihn ein neues Hemd, eine Krawatte oder ein Jackett gekauft hatte. Und hätte Lisa ihm die Sachen für den nächsten Tag nicht zumeist schon zurechtgelegt, er hätte an manchen Tagen aus lauter Ratlosigkeit nicht zur Arbeit gehen können.
Michel hatte über solche Bekenntnisse immer gelacht. Ich glaube, dass es vielen Heteros so geht. Die haben eben ihre Frau, ihre Kinder, ihr Haus. Wozu sollen die sich also mit ihrem Aussehen noch Mühe geben? Bei Schwulen ist das ganz anders. Da musst du dir jeden Tag wieder Mühe geben, auch durch Äußerlichkeiten. Und als hätte es eines konkreten Beispiels überhaupt bedurft, hatte Michel immer noch lachend hinzugefügt: Weißt du eigentlich, wie man bei uns solche Unterhosen nennt, wie du sie immer trägst?
Er hatte es nicht gewusst, auch gar nicht wissen wollen, und war wohl gerade deshalb aufgeklärt worden: aardappelzak nannte man solche Unterhosen, wie er sie trug..
Es war fürchterlich peinlich gewesen, und nur weil jede andere Reaktion ihn noch verlegener gemacht hätte, hatte er schließlich aus lauter Verzweiflung mitgelacht. Also in der schwulen Szene hast du mit solchen Liebestötern keine Chance.
In der schwulen Szene will ich überhaupt keine Chancen haben.
Na, wer weiß.
Die wenigen Male, die sie in Arnhem zusammen in Schwulenkneipen verbracht hatten, waren für ihn tatsächlich fast eine lästige Pflichterfüllung gewesen, die sogar Magendrücken verursacht hatte. Und obschon sie nie darüber geredet hatten, wusste er, dass Michel über seine Reaktion enttäuscht war, etwas ganz anderes erwartet hatte: Hier bist du doch unter deinesgleichen, hier kannst du dich so geben, wie du bist!
Erzähl du vor allen Dingen nicht jedem, dass ich verheiratet bin, hatte er Michel gebeten. Beim ersten Besuch einer Schwulenkneipe war er sich unter Michels Bekannten vorgekommen wie ein Exponat aus einem Raritätenkabinett.
Was willst du auch in solchen Bumslokalen?, hatte Lisa ihn gestern empört gefragt. Du bist doch gar nicht schwul!
Woher willst du das denn wissen?
Na hör mal! Lisa hatte laut losgelacht. Wer soll es denn sonst wissen? Außerdem sehen Schwule doch ganz anders aus.
Das sind doch Vorurteile aus dem finstersten Mittelalter! Erschrocken hatte er den Überlegenen gespielt, weil Lisa in Wirklichkeit einen ganz wunden Punkt berührt hatte.
Man sieht mir doch nicht an, dass ich schwul bin!, hatte er einmal empört zu Michel gesagt, der mit unglaublicher Sicherheit seine wunden Punkte zu treffen wusste.
Und wie immer in diesen Fällen hatte Michel gegrinst: Das ist doch gar nicht die Frage. Die Frage ist, ob dich denn stören würde, wenn man es dir ansähe?
Man sieht es mir aber nicht an!
Es wurde dich also stören.
Verdammt noch mal ja, es würde ihn stören. Es würde ihn stören, weil es einfach nicht so war. Er fuhr sich mit der Hand durch den schon etwas schütteren blonden Haarschopf, dessen Farbe die Unzahl grauer Haare sehr gut kaschierte. Dann rieb er sich mit den Fingern über das Kinn, als müsse ihm die Stärke des Bartwuchses letzte Sicherheit geben über seine in Frage gestellte Männlichkeit.
Warum liebst du mich eigentlich?, hatte er Michel einmal gefragt.
Das frage ich mich auch immer öfter. Du bist 16 Jahre älter, viel zu dünn, und der ganze Kram, den du irgendwann einmal gelernt hast, interessiert doch heute keinen vernünftigen Menschen mehr. Dann hatte Michel nur gelacht und ihn geküsst. Entschuldige, aber ich weiß wirklich nicht, warum ich dich liebe. Ich liebe dich einfach.
Schließlich ließ der Dampf des nun heißen Duschwassers sein Bild im Spiegel verschwimmen.
Er ließ sich viel Zeit beim Duschen; aber jedes scheinbar noch so wichtige Getue konnte letztlich doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Unruhe immer unerträglicher wurde: er hatte nicht die geringste Vorstellung davon, was er nun machen sollte.
An der Rezeption saß niemand. Erst nachdem er ein paarmal gerufen hatte, erschien die Frau, bei der er sich gestern Abend angemeldet hatte. Guten Morgen. Wollen Sie abreisen?
Ich glaube nicht.
Die Frau sah ihn einen Augenblick irritiert an und lachte dann. Sie wollen also bleiben.
Sehen Sie, es gibt da ein Problem. Eigentlich war es nur seine plötzliche Verlegenheit, jedenfalls erzählte er der Frau nun, dass er einen gewissen Michel Rijnders aus Schagen suche, und die Frau sah ihn nur fragend an. Sie wissen auch nicht, an wen ich mich wenden kann, um seine Adresse ausfindig zu machen?
Im Telefoongids haben Sie schon nachgesehen?
Im