Gefühlschaos. Heidi Oehlmann
Jetzt bin ich froh, dass Carmen ein bisschen zu viel Alkohol intus hat und somit das Auftauchen von Lisa kaum realisierte. Im nüchternen Zustand hätte sie sicherlich mit Lisa über ihren Ausstieg aus der Clique gesprochen. Das ist aber der einzige Vorteil von Carmens Alkoholunverträglichkeit.
»Was war das denn?«, fragt Sybille irritiert.
»Keine Ahnung. Ich hoffe nur, dass sie nicht bei dem Speed Dating auftaucht«, antworte ich.
»Und wenn schon«, sagt Marta.
»Na ja, ich weiß nicht, ob das so gut ist. Wenn wir vorher auch noch mit ihr reden und ihr sagen, dass wir sie nicht mehr in unserer Runde haben wollen, könnte es in einem Desaster enden«, antworte ich.
»Ach, das glaube ich nicht. Es wird schon alles gut gehen«, sagt Sybille ermutigend.
»Hoffen wir es. Viel verspreche ich mir von der Veranstaltung sowieso nicht.«
»Wieso?«, fragt Marta.
»Mich wundert es einfach, dass wir so schnell einen Platz dort bekommen haben. Ich weiß nicht, ob das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist. Ganz ehrlich, wenn es so gut laufen würde, wäre das Speed Dating schon Monate im Voraus ausgebucht, oder?«, antworte ich.
»Macht euch nicht so verrückt«, lallt Carmen.
»Carmen, trink nicht so viel!«, ermahne ich sie.
»Ach Mia, das ist doch nicht viel. Außerdem muss ich mein Gedächtnis auslöschen.«
»Dafür brauchst du keinen Alkohol. Karl ist es nicht wert, dass du dich sinnlos besäufst. Er hat dich einfach nicht verdient. Du bist so eine tolle Frau. Und irgendwann findest du den Mann, der das zu schätzen weiß.«
»Danke! Du bist süß, Mia.« Carmen, die sich bis eben noch auf den Tresen abstützte, erhebt sich vom Barhocker und fällt mir schwankend um den Hals. Dabei wäre sie fast umgekippt. Ich konnte sie gerade noch halten.
»Vielleicht sollten wir für heute Schluss machen«, höre ich mich sagen.
Eigentlich wäre ich gern geblieben. Immerhin sind wir zum Tanzen hergekommen. Bis jetzt war keine von uns auf der Tanzfläche. Dafür ist der Laden eindeutig zu leer und der Alkoholpegel zu gering, wenn man von Carmens viel zu hohem Pegel absieht. Mit einer sturzbetrunkenen Carmen im Schlepptau habe ich wenig Chancen, mich auf dem Männermarkt umzuschauen. Schließlich kann ich sie nicht einfach in eine Ecke setzen und mich mit dem männlichen Geschlecht beschäftigen. Das brächte selbst ich nicht übers Herz.
»So ein Blödsinn! Warum sollen wir denn gehen? Der Abend hat noch nicht richtig angefangen«, nuschelt Carmen mir ins Ohr.
»Carmen, es reicht jetzt! Lass uns gehen!«, fordere ich sie auf.
»Nein, ich will nicht gehen!«
»Sybille! Marta! Sagt ihr doch auch mal was!«
»Mia hat recht, wir sollten gehen«, stimmt Marta zu.
»Gut, ich rufe uns ein Taxi«, sagt Sybille.
»Sehr schön. Marta kannst du zahlen? Ich gehe mit Carmen schon nach draußen. Hoffentlich trifft das Taxi bald ein.«
»Ja, mache ich. Wir sehen uns draußen.«
»Los Carmen, auf geht es!«
Ich greife Carmen unter die Arme und ziehe sie mit aller Kraft von der Bar weg: »Du kannst mir ruhig ein bisschen helfen. Ich kann dich schlecht hier raus tragen.«
»Ja. Ja.«
Während ich Carmen von der rechten Seite stütze, merke ich erst, wie schwer sie ist. Obwohl sie nicht dick ist, habe ich einiges an Gewicht zu stemmen. Vielleicht hätte ich Sybille meinen Job machen lassen sollen. Sie ist von uns allen die Größte und gleichzeitig die Kräftigste. Ich hingegen bin einen halben Kopf kleiner als Carmen und auch nicht gerade stark. Zwar treibe ich regelmäßig Sport, aber deshalb habe ich noch lange nicht so viel Kraft, um Carmen tragen zu können. Mein Training bewegt sich eher im Bereich Ausdauersport. Ich gehe drei Mal die Woche joggen und mache hin und wieder ein bisschen Yoga, also nichts, wovon man übermäßige Muskeln bekommt.
»Och Carmen, jetzt mach dich doch nicht so schwer!«, fluche ich.
Wir haben noch nicht die Hälfte des Weges nach draußen geschafft und ich merke bereits, wie mir die Kräfte schwinden. Es fällt mir sekündlich schwerer, meine Freundin zu halten. Ich muss mich zusammenreißen, sie nicht vor versammelter Mannschaft fallen zu lassen und womöglich selbst umzukippen. Das wäre so peinlich, in den Laden könnte ich nie wieder gehen. Das Allerschlimmste für mich wäre aber, wenn Lisa dieses Malheur mitbekäme. Sie würde sich köstlich amüsieren. Dieser Gedanke ermutigt mich, meine ganzen Kraftreserven zu bündeln und nicht aufzugeben.
Ich schaue zu dem Tisch, an dem Lisa und ihr Begleiter sitzen. Zum Glück sind beide so in ihrem Gespräch vertieft, dass sie nicht mitbekommen, was mit Carmen los ist. Ich hoffe, es bleibt so und wir gelangen rechtzeitig nach draußen.
»Warte Mia, ich helfe dir!«, höre ich Sybille sagen, die hinter uns auftaucht.
Über ihre Hilfe bin ich froh. Sie stützt Carmen von der anderen Seite. Jetzt kommen wir gleich viel schneller voran.
»Wo ist Marta?«, frage ich.
»Sie bezahlt gerade unsere Drinks.«
»Okay. Dann wird sie sicher bald kommen. Wie lange braucht das Taxi?«
»Die Frau in der Zentrale hat gesagt, dass es in etwa zehn Minuten hier ist.«
»Das ist gut. So lange werden wir auch fast brauchen, bis wir draußen sind.«
»Ach quatsch! Wir sind doch gleich an der Tür.«
»Ja. Ich bin so froh, dass du da bist. Lange hätte ich Carmen nicht mehr halten können.«
»Du musst halt richtig essen und Kraftsport machen!«
»So wie du?«, stachele ich meine muskulöse Freundin unter größter Anstrengung an.
»Ja.«
Ich gebe ja zu, ich beneide Sybille für ihren Körperbau ein wenig. Sie ist verdammt gut durchtrainiert, aber die Disziplin, die sie an den Tag legt, wäre mein absoluter Untergang. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, ständig auf Diät zu sein, und keine Süßigkeiten mehr zu essen. Ich und Selbstdisziplin das passt überhaupt nicht zusammen. Das ist wie Feuer und Wasser. Mit Wasser wird höchstens Feuer gelöscht. Genauso ist es bei mir: Sport und Eintagesdiäten dienen mir dazu, nicht aus der Form zu geraten, aber Spaß macht es mir bei Weitem nicht. Im Gegenteil, wenn es nach mir ginge, würde ich mich rund um die Uhr von Schokolade ernähren und auf der Couch rumfletzen. Das kann ich mir nur nicht leisten. Frauen, die auf dem Männermarkt ein möglichst vorzeigbares Exemplar abbekommen möchten, müssen peinlichst genau auf ihr Äußeres achten und können sich nicht gehen lassen. Sonst hat sich das mit der Männersuche schnell erledigt.
Wir haben es geschafft! Die Tür ist in greifbarer Nähe. Nur noch wenige Schritte und wir sind draußen.
»Ihr seid ja immer noch hier!«, höre ich Marta hinter mir sagen.
»Du bist gut. Versuch du doch Carmen nach draußen zu hieven, wenn sie nicht mitmacht! Ohne Sybille lägen Carmen und ich längst auf dem Boden.«
»Ich mache drei Kreuze, wenn wir endlich im Taxi sitzen«, keucht nun auch Sybille.
»Ja. Da stimme ich dir zu. Ich hätte nicht gedacht, dass Carmen dir zu schwer ist, so muskelbepackt, wie du bist«, sage ich völlig außer Atem.
»Meine Muskeln sind eben nicht dafür ausgelegt, Frauen herumzuschleppen«, scherzt Sybille.
»Na, solange du noch Witze reißen kannst, scheint es ja nicht so schlimm zu sein«, kontert Marta.
»Du, wir können gern tauschen. Mal sehen, ob du dann noch Reden schwingen kannst«, antwortet Sybille und versucht dabei ernst zu klingen.