3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
drei CDs entfaltet sich chronologisch der musikalische Output einer der fruchtbarsten Kooperationen der Filmgeschichte. Raaben schrieb seit Ende der 60er Soundtracks für Fassbinder, die nie bloß akustischer Zierat waren. Denn RWF, lobt Raaben im ausführlichen Bookletinterview, ließ zwischen den Bildern genügend Raum für die Musik. So boten die häufig sinfonischen Scores die Möglichkeit, Personen soloinstrumental zu charakterisieren oder auch zu konterkarieren – eine weidlich ausgenutzte Technik, auf die sich auch Ennio Morricone blendend versteht. Drei Stunden Filmmusik, die zwischen „Götter der Pest“ (1969) und „Querelle“ (1982) eine Brücke schlägt und trotz thematischer Vielfalt eine Kontinuität der Filmstimmungen aufscheinen lässt: eine Kontinuität der Einsamkeit und Verlorenheit, der scheiternden Sinnsuche und vergeblichen Liebesmüh. Nichts weniger also als der Soundtrack zu Fassbinders Leben.
Peter Gabriel
„Us” (1992)
Gabriel ist einer, der es ernst meint mit der Weltmusik, der Künstler aus aller Welt so in seine Klangvorstellungen zu integrieren vermag, dass sie ihren Background nicht aufgeben müssen. Sechs Jahre nach seinem letzten regulären Soloalbum „So“ mischt Gabriel pulsierende Ethnorhythmen, afrikanische Chöre und Synthesizergemälde zu einer kompakten CD, die weniger durch einen neuen „Sledgehammer“ als durch Geschlossenheit auf hohem Niveau überzeugt. „Musik befriedigt mich am meisten, wenn sie mich gefühlsmäßig an einen anderen Ort führt. Erst dann kitzelt sie mein Gehirn“, sagt er. Das Großartige an diesem Album ist, dass dies auch mit uns geschieht. Da ist es verzeihlich, dass einige Songs (wie „Blood of Eden“) eine Spur zu stark an frühere Gabriel-Hits erinnern.
Peter Hammill
„Fireships” (1992)
Mitten hinein ins stupide Hipgehoppel und die bewusst hirnlos gehaltene Tekknokörperlichkeit – dieses Album. Hammill, 1970 als engelsgleicher Sänger der überirdischen Hymne „Refugees“ unsterblich geworden, knüpft nach einer wilden Achterbahnfahrt durch die Stile genau dort wieder an: bei komplexen, kammerorchestralen und doch intimen Songs. Lange hat der Sänger, Keyboarder und Texter mit bedrückenen Alben wie „Black“ seine innere Zerrissenheit ausgelebt; diese Zeiten sind vorbei. „Fireships“ ist von grandioser, homogener Schönheit, ohne die „großen“ Themen dahinzugeben. Warum auch soll man in Zeiten trügerischer Sicherheit nicht von Atomraketen singen? Warum nicht vom selbstmörderischen Irrglauben, „fireproofed“ zu sein? Und warum nicht von Liebe, Hingabe und Selbstverantwortlichkeit? Hammill, in dessen Stimme Härte und Weichheit verschmelzen, hat diese Themen genauso im Griff wie die bezaubernden Arrangements aus Flöten-, Geigen-, Keyboard- und Gitarrentupfern. „Fireships“ ist das bisher beste, sanfteste und zugleich explosivste Hammill-Album. Und eine Kampfansage gegen die Lobotomie in den Diskotheken. „It kicks, but in slow motion“ – das wäre schön.
Pigmy Love Circus
„When Clowns become Kings” (1992)
Was würde passieren, wenn Captain Beefheart drei Fässer Bier söffe und danach im Studio mit der zufällig anwesenden Metalband jammte? Ich sag’s euch: diese Musik. „Wir sind ein Haufen dicker, hässlicher Männer, die gerne touren, die Welt sehen wollen und harte, schmutzige Rockmusik spielen“, sagen sie über sich. Bärte tragen sie auch, Bierbäuche eh, und der Sänger heißt Mike Savage. Sein tiefes, voluminöses Organ fegt alle Zweifel an der Gossenherkunft des Rock’n’Roll hinweg. Die Phrase von der urwüchsigen Kraft: Nun weiß ich, was sie bedeutet. Egal wie die Amerikaner ihre Musik deklarieren („Violent Comedy R’n’R“, „Gothic Metal“ etc.),: Für mich ist das Hardcoreblues – oder die überwältigende Kopulation der Dampframme mit einem Baumwollfeld. Captain Beefheart wäre stolz auf sie – auch in nüchternem Zustand.
Pink Floyd
„Delicate Sound of Thunder” (1992)
Wenn der Laser zuckt, wenn simple Riffs sich zu sakraler Größe blähen, wenn träg der Eisnebel wabert, dann sind wir sind mitten in einem Pink-Floyd-Konzertvideo. Anderthalb Stunden zelebrieren die Briten technisch perfekten Bombastrock der 70er mit den audiovisuellen Möglichkeiten der 90er. Im Wissen um die Unerreichbarkeit des alten Materials konzentrieren sie sich fast völlig auf eben jenes, schaffen gar das schier Unmögliche: die exakte Livereproduktion der Studioversionen. Wem das genügt, der ist bestens bedient. Aber Achtung: Das Video liefert lediglich den optischen Nachschlag zum gleichnamigen Livealbum von 1988.
Ramones
„Loco Live” (1992)
„Onetwothreefour …” – und ab geht die Dampframme, 33 mal. 17 Jahre Ramones in 70 Minuten, eine Zeitreise im Formel-eins-Tempo. Die Beach Boys des Punk sind Denkmäler der Rockgeschichte, und dieser in Barcelona aufgenommene Liveparforceritt beweist nachhaltig, warum das so ist. Niemand, meint Tote Hose Campino, habe so wenigen Riffs so viele grandiose Songs entlockt wie die Ramones. Gott, er hat Recht. „Loco live“ legt die Schwerpunkte auf die frühen Zweiminüter wie „Judy is a Punk“, „Blitzkrieg Bop“ oder „Cretin Hop“ und die (selteneren) Großtaten aus jüngster Zeit wie den Soundtracksong „Pet Semetary“. Alle werden schnell, knallig und fröhlich-frei herausgerotzt, als sei man noch immer müpfiger Teen und die Welt mühelos komprimierbar in – wenn’s hochkommt – drei Akkorde. Doch die Routine ist die einer altgedienten, großartigen Rock’n’Roll-Band. Nach diesen 70 Minuten ist man genauso geschafft wie Sänger Joey Ramone, dessen Stimme im Lauf des Konzerts ganz allmählich den Geist aufgibt (anders als die restliche Band, die wohl noch bis in alle Ewigkeit so weiterdonnern könnte). Dann gibt es nur eins: skippen, und „Loco live“, das Nonplusultra für Punknostalgiker, beginnt von vorn. „Onetwothreefour …”
Roger Waters
„Amused to Death” (1992)
73 Minuten lang versucht hier einer verzweifelt, das Schwinden des Ruhms zu stoppen, indem er die gloriose Vergangenheit einfließen lässt. Im Stakkato der Déjà Vus scheint das Grillenzirpen aus „Ummagumma“ (1969) auf, das Hundegebell aus „Animals“ (1977) und Gitarrenriffs aus „Meddle“ (1971) und „The Wall“ (1981). Die Simplizität der Melodien ist kaum zu überbieten, und dennoch sind Waters keine gelungen, die er vokal auch bewältigen kann. Lichtblicke des pseudoambitionierten und substanzlos-streichergeblähten Rockoperimitats sind die Gastauftritte von (u. a.) Jeff Beck oder Rita Coolidge, vor deren müheloser Musikalität der Waters’sche Kompositionsluftballon mit müdem Plopp zerplatzt. Pink Floyds neuer Boss (und Waters-Intimfeind) David Gilmour wird sich schlapplachen..
Ron Marvin
„Fractals” (1992)
Es wurde auch Zeit, dass das Apfelmännchen endlich was tut für sein Geld. Ron Marvin, Exbassist von Tony Marshall, brachte ihm das Komponieren bei, und so entstanden „musical pictures of a new dimension“ (Covertext). Spaß beiseite: Die Musik auf dieser CD beruht auf der prinzipiell gleichen Rechenvorschrift, die auch fraktale Bilder hervorbringt. Statt jedoch jedes Ergebnis einem Monitorpunkt zuzuordnen, wurde jeder Zahl ein Synthesizerton zugewiesen. Marvin wählte lediglich Ausgangswerte aus, ließ dann die Komposition ablaufen und bearbeitete sie schließlich am Mischpult. Das Ergebnis erinnert weniger an die mal gleichförmig, mal eruptiv „chaotisch“ sich aufbauenden Bilder eines Mandelbrot’schen Fraktals, sondern weit mehr an die gebetsmühlenhaften Klänge eines Terry Riley, nachdem er sich zu viel Laudanum eingepfiffen hat. Will sagen: über weite Strecken so leblos und dröge wie die dritte Wurzel aus 13.
Sophie B. Hawkins
„Tongues and Tails” (1992)
So einfach denken sich die Hitschmiede das: Wir verpassen einer Blonden diese Edie-Brickell-Aura (kleines zartes Gör, das gelegentlich aufmuckt), meiden aber tunlichst Rauheiten, legen stattdessen sterile Keyboards als Teppich aus und darauf den zwischen Rio und Reinickendorf üblichen Poprhythmus