3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
Die Uhr läuft – ab jetzt!
Radial Spange
„Radial Spange“ (1993)
Sollen sich Mercury Rev ruhig in dem wenig einträglichen Ruhm sonnen, die „weirdest band on planet rock“ zu sein, wie die britische Fachzeitschrift Melody Maker schrieb; Hauptsache, dachten sich wohl Radial Spange, Rev-Gitarrist Jonathan Donahue spielt ein paar Licks, lenkt ein wenig Aufmerksamkeit auf uns – und verdirbt uns nicht die Eingängigkeit. Denn wo Mercury Rev sich immer mehr in schlechtproduzierten Experimenten verzetteln und dem eigenen Ruf immer noch eine Nasenlänge voraus sein wollen, liefern RS kleine psychedelische Sahnestückchen ab, die sie gerade so sehr mit Gimmicks auflockern, dass der Rahmen nicht gesprengt wird – eine kleine nette Orgie aus verstimmten Klampfen, schrägen Gesängen und genüsslich zerlegten Melodien.
Savage World
„Savage World” (1993)
Zum Einführungsgig von Savage World in die Frankfurter Zeilgalerie waren 150 Leute geladen, die ihre berufliche Existenz ausschließlich der Tatsache verdankten, dass die Evolution die menschliche Spezies mit Ohren ausgestattet hat. Die Debütanten schwangen sich vor lauter Nervosität zu einem perfekten Konzert auf und nutzten die Chance. Während die CD souverän changiert zwischen Folkballaden mit Streichersahnehäubchen und kernigem, bläsergepolstertem Soulrock, legten Savage World live noch eine Portion Härte zu. Vor allem Frontfrau Stephanie Ann Savage scheint die Garantin eines programmierten Erfolges zu sein. Ihr vokales Spektrum bewegt sich zwischen Annie Lennox und Mahalia Jackson – „… ein Riesenkompliment!“ gibt sie sich bescheiden und reicht Komplimente weiter, vor allem an den Ex-Eurythmic Dave Stewart, in dessen Studio das Album entstand. Sängerin Stephanie, ihr komponierender Gitarrist Udo Pipper und der Rest der siebenköpfigen Band sind zwar keine Neuerer, könnten aber zur neuen deutschen Rockpophoffnung werden. Ein weiterer Grund, der Evolution dankbar zu sein.
Shoulders
„The Fun never stops” (1993)
Ich liebe Alben, bei denen das beste Stück auch das längste ist. „Each little Cannibal“, eine dynamisch zwischen annähernder Stille und Lärm schwankende Ballade zu Bass, Drums, Gitarren und Geige, ist so ein Stück. Es klingt, als nähmen wir daran teil, wie Tom Waits sich in einen Werwolf oder wenigstens in Jim Morrison verwandelt. Die Band aus Austin/Texas rührt in einem irrwitzigen Eintopf aus Folk-, Rock-, Ska- und Zirkusmusik, in dem zwischen Pogues und Sonic Youth alles verkocht wird, was gewürztechnisch verwendbar ist. Und ihr Sänger Michael Slattery scheint allmorgendlich mit diesem Teufelsmix zu gurgeln. Ein großartiges, feuriges Album mit 13 Songs zwischen Straßenparade, Saufgelage und Stampede.
Steve Roach
„Origins” (1993)
Könnte der Planet singen, vielleicht sänge er in dieser Musik. Sie pulst dunkel dahin, verirrte Wortfetzen tauchen auf und wieder ab, der raunende Klangstrom ist multilingual. Es ist nicht leicht, Steve Roachs ethnologischen Ambient zu beschreiben. Man müsste damit beginnen, die Ingredienzen aufzuzählen: das hypnotische Sägen des Didgeridoo, die selbstvergessenen Handtrommeln, den Klang von Wassertöpfen, uralten Flöten, Mayatrompeten oder digitalen Synthesizern. Doch das Addieren reicht nicht aus; die Summe ist mehr als ihre Teile. Mit dieser Musik scheint sich die Erde selbst zu artikulieren – mit all ihren parallelen, sich durchdringenden, auseinanderdriftenden Kulturen, mit fünf Milliarden Stimmen, die zu einer großen pathetischen Melancholie verschmelzen.
Sultans Of Ping f.c.
„Casual Sex in the Cineplex” (1993)
Man nehme einen Schuss Ramones (ohne deren euphorisierende Monotonie), etwas 60er-Beat (samt fröhlich-unbedarfter Harmonika), ein wenig Velvet-Underground-Gemütlichkeit (in Form naiver Streicherarrangements) und würze kräftig nach mit reiner, nichtraffinierter Energie – Name der Kreation: Platte des Monats. Wer beim kalauernden Bandnamen der vier Briten an eine Satirecombo denkt, ist völlig schief gewickelt. SOPfc meinen, was sie spielen, auch wenn sie sich in allen aktuellen Trends zu tummeln wissen – freilich mit liebevoll-ironischem Blick auf die Wurzeln dieser Trends. Eine mit Klassesongs nur so protzende Scheibe, egal ob leichtfüßig und Beatles-artig dahintrippelnd wie in „Let’s go shopping“ oder überschnappend kirre wie im holpernden Gitarrenrocker „Where’s me Jumper?“.
The Doors
„Dance on fire/Soft Parade/Live at the Hollywood Bowl” (1993)
Der Mythos Morrison: Er lebt. Die VHS „Dance on Fire“ mischt frühe Originalclips mit nachgedrehten Szenen, „Soft Parade“ bringt späte Interviews, Backstageeinblicke und Konzertausschnitte; „Live at the Hollywood Bowl“ schließlich dokumentiert (wieder einmal) den berühmten Auftritt ebenda. Leider aber gibt es Überschneidungen, die Filme leiden unter Konzeptlosigkeit, Holpermontage und willkürlichen Zeitsprüngen – die Perlen muss man suchen, etwa eine hinter der Bühne am Klavier improvisierte Ode Morrisons an Friedrich Nietzsche. Oder eine Szene im Publikum: Jim Morrison möchte einem Händler ein billiges Who-Fanzine abkaufen – aber erst, wenn er’s sich angeschaut hat; von hinten zupfen ihm derweil verzückte Mädels an der Mähne, und er lächelt verlegen …. Fazit: Statt biografischer Substanz bruchstückhafte Skizzen. Aber es spricht für den Mythos, dass die Faszination des Lizard King dennoch durch dieses Gitternetz unverbundener Sequenzen durchscheint.
The Velvet Underground
„Velvet Redux Live MCMXCIII” (1993)
Wunder geschehen: Die einflussreichste Band der Welt ist zurück aus dem Reich der Legenden. Lou Reed ist der alte und neue Boss, auch deshalb, weil John Cales Tasten- und Bratschenspiel beim Mann am Mischpult weniger Gnade findet als Reeds Gitarre. Oma Tuckers stupid-monotones Behämmern der Drums, Sterling Morrisons schüchterne Verkrampftheit, mit der er um Fehlerlosigkeit ringt, der dichte, kompakte Sound, mit dem Velvet Underground ihr ureigenes Terrain zwischen simplen Kinderliedern und monströser Kakofonie ausfüllen: All das zeigt, dass hier keine Grufties alten Ruhm für frisches Geld hergeben. Diese Band hat (wieder) was zu sagen. Endgültiger Beweis am Ende dieses Pariser Konzertes: das bislang unbekannte „Coyote“, einer der besten Underground-Songs überhaupt.
The Walkabouts
„Death Valley Days” (1993)
„House of the rising Sun“ rockt, „Maggie’s Farm“ ist unaggressiv und Tilman Rossmys „Loswerden“ original, nämlich auf deutsch: Carla Torgerson und Chris Eckman haben die Besenkammer aufgeräumt und stießen auf allerlei Verlegtes aus zehn Jahren Bandgeschichte. Auch die Fundstücke zeigen, dass sie die geschmackssichersten Coverer weit und breit sind. Ihre Neudeutung des morgendämmerungsgrauen Neil-Young-Songs „On the Beach“ ist unbezahlbar, und wer Nick Drakes „Cello Song“ ins Repertoire nimmt, gehört eh geadelt. Ein bizarr misslungener Psychoambientrocker namens „Chain Gang“ ist da verzeihlich – zumal in Gesellschaft von „Yesterday is here“ (Waits) oder „Like a Hurricane“ (noch mal Young). 18 Songs, viele Perlen dabei.
Thomas Köner
„Permafrost” (1993)
Köner sammelt Klänge und schichtet sie zu bulligen pseudostatischen Türmen auf, zu konkreten Soundblöcken, in deren betonartiger Struktur sich alle Hinweise auf ihre Klangquellen verlieren. Seine „Musik“ ist so dicht wie das Packeis überm Nordpol und von ähnlich monumentaler Ruhe. Etwas Beängstigendes geschieht beim Hören: Man beginnt Zeiträume zu ahnen, deren maßlose Dauer jedem Leben fremd ist. Ein überwältigender und beunruhigender Gedanke, den so nur eine einzige Platte auf der Welt auszulösen in der Lage ist: diese hier. Ob sie indes mehr als ein paar Dutzend Käufer zu finden in der Lage ist, wird hier ausdrücklich bezweifelt.
Tragically