3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
to here“ ein Debüt hin, das sie zur verheißungsvollsten Band des Jahres kürte, doch so richtig hip wurden sie auch nach dem Folgewerk „Road Apples“ nicht – tragisch, in der Tat! Die Kanadier wollen nun endlich den großen Wurf landen, sind sich dabei dennoch treu geblieben, haben auf Gimmicks und Firlefanz verzichtet – das allein macht das Quintett sympathisch, deren Sänger Gordon Downie den alten Jim Morrison im Kopf, Michael Stipe in der Kehle und Mick Jagger zwischen den Beinen hat. Das muss doch jetzt mal klappen!
U2
„Zooropa” (1993)
Eine Sonne geht unter. Mit der zunehmenden Schwäche des Songmaterials sind U2-Kompositionen immer mehr auf elaborierte Arrangements, auf Effekte, Collagen und Samples angewiesen. Die Wichtigkeit Brian Enos für die Band wird dadurch immens: Als Produzent und Mitmusiker schmeißt er den Laden fast alleine. Manch schwachbrüstiges Lied rettet allein sein Produktionsaufwand vorm Offenbarungseid. Hatten Bono & Co. keine Zeit zum Schreiben? Beschäftigte sie ihre Mulitmediatour mehr als Melodien und Hooklines? Zu den raren aufregenden Momenten gehört der Gastauftritt von Johnny Cash, der über Enos naivem Elektropop einen zittrigen Countrysong nuschelt („The Wanderer“). Am Ende, nach 50 Minuten, verstehen wir plötzlich, was Bono meinte, als er gleich in der ersten Zeile dieses Blähwerks eine deutsche Phrase radebrechte: „Vorsprung durch Teknik“. Das scheint alles, was U2 geblieben ist.
Upset Noise
„Come to Daddy” (1993)
Fünf Jungs im Schmuddellook zeigen, wohin der Headbanger’s Ball inzwischen verzogen ist: nach Italien. „Nitro“, das Intro furioso, begibt sich nach wüster Schlägerei auf einen Heavytrip, der die Rockerlocken flattern lässt; der Powerdrummer Bonnani Stefano Bone macht den Saitenmännern ständig Feuer unterm Arsch, ehe ein ausflippender Sänger die Führung an sich reißt und sich auch von verschlagen-tückischen Breaks seines Trommlers nicht mehr beirren lässt. Aber da sind wir schon in Stück Nummer zwei und haben das Openerduo des Jahres gehört. Upset Noise servieren schnurgeraden Speedblues – als hätte man die Deep Purple der Mitt-70er auf einen Adrenalintrip geschickt: gnaden- und balladenlos.
Verschiedene Künstler
„Kuschelrock 7” (1993)
„Kuschelrock“ boomt derart, dass sich die Plattenfirma den Begriff als Markenzeichen sicherte. Wie „Lenor“. Deswegen die Anführungszeichen, wir wollen keinen Ärger. „Kuschelrock“ romantisiert, denn wo „Kuschelrock“ draufsteht, ist Bumsmusik drin. Queen eröffnen mit „Love of my Life“, denn Deutsche haben monogam zu sein. Dann aber zeigt die Zweierbeziehung, was sie zu leisten in der (Flach-)Lage ist: einem noch leicht verklausulierten „You never walk alone“ („WALK“??) folgt das explizite „I’ll be over you“ wonach es via „Stairway to Heaven“ „Tonight“ endlich zum postorgasmischen Stoßseufzer „The greatest Love of all“ kommt. Puh. Dann aber folgt die kalte Dusche: „Too much Love will kill you“. Und damit meint „Kuschelrock“ in der Tat die Liebe und nicht sich selbst.
Verschiedene Künstler
„Seventies Rock & Pop” (1993)
Anfang der 70er konnte man Bubblegum nicht nur kauen, sondern auch hören. Die Gehörgänge waren völlig verschleimt. Statt eines chirurgischen Eingriffs kam dann ab 1975 die Discomanie und schabte den Bubblegumschmier vom Trommelfell. Zehn Videos geben nun Auskunft über diese fröhlich-naive Popphase. Mal abgesehen von sporadischen Brutalcuts (denen etwa Mungo Jerrys „In the Summertime“ geopfert wird) versammelt der Zehnerpack unzählige Hits und Raritäten – und ist sogar gut editiert: Zu jedem Song gibt es ein paar Infos per Insert. Über „Lola“ erfahren wir, dass die BBC den Song dereinst nicht etwa wegen der versteckten Anzüglichkeiten boykottierte, sondern wegen des Textpartikels „Cherry Cola“: Man argwöhnte Schleichwerbung.
Verschiedene Künstler
„The Best of Mountain Stage Vol. I u. II” (1993)
So ist recht: Dem ganzen halblegalen Bootlegmüll von Imtrat & Co., dessen Klang-„Nie-Wo“ (Arno Schmidt) der 2001-Versand stets mit „relativ gut“ euphemisiert, dem begegnet man am besten mit CDs wie diesen – Inhalt: akustische Livehöhepunkte eines zweitägigen Festivals, das im Radio übertragen wird und daher in astreiner Abmischung vorliegt; bestritten von Acts, die eh zur ersten Sahne des Folkrock gehören und schon unplugged waren, als Kristiane Backer noch in die Windeln schiss: Loudon Wainwright III, Jesse Winchester, Richard Thompson, R.E.M., Billy Bragg … IRS beschenkt uns mit zwei weiteren Ausgaben der „Best of Mountain Stage“-Serie. Einmal folk-, einmal blueslastig, immer handgemacht – von den Cowboy Junkies bis Warren Zevon.
Verschiedene Künstler
„The Montery international Pop Festival” (1993)
Woodstock war die Apotheose vorm Ende, Monterey aber der fulminante Beginn der Flowerpower. „This is a festival for all“, stand im Programmheft vom Juni 1967, „children of all ages and adults of all attitudes“. Eine Toleranz, die das dreitägige Spektakel auch musikalisch einlöste: Jimi Hendrix spielte kosmischen Blues, Jefferson Airplane waren (dank LSD?) bös indisponiert, Ravi Shankar steuerte schicke Sitarklänge bei, Hugh Masakela fiebrigen Brassjazz – „as black as night“, schwärmte Eric Burdon später. Monterey war schwarz und weiß und bunt, die erste große Manifestation hunderttausendfacher Harmonie. Auf vier CDs liegen jetzt (größtenteils schon veröffentlichte) Teile des Festivals vor, sechs Stunden sind sie lang und verpackt in eine knallgelbe Riesenbox, der ein grandios gestaltetes Booklet beiliegt. Das Set gehört ins Regal eines jeden Fans, für den es ein geschichtsbewusstes Rockleben jenseits der Charts, fern des Tagesgeschehens gibt. Es zeigt, was der Rock’n’Roll einmal hatte – und was er später in Altamont, als beim Rolling-Stones-Konzert vor der Bühne ein Fan ermordet wurde, für immer verlor.
Willie Nelson
„Across the Borderline” (1993)
Happy birthday, Cowboy! Seit wenigen Tagen ist Willie 60 Jahre alt. Doch statt wohlverdiente Präsente entgegenzunehmen, beschenkt er uns mit seinem besten Album überhaupt. Nie war sein Bariton cooler, nie die Arrangements karger und treffsicherer als bei den Interpretationen von Gabriels „Don’t give up“ (mit Sinead O’Connor!) oder Dylans „Is this what you wanted”, das Nelson bereits bei Bobs Party im Madison Square Garden zum Höhepunkt der Nacht geriet. Und seine Nonchalance macht ihm eh keiner nach. Von so viel vibrierender, dramatischer Ruhe kann Garth Brooks nur träumen. Die vielen Leute in Nelsons Küche (Dylan, Paul Simon) haben alle unentbehrliche Gewürze beizusteuern, mit denen der Produzent Don Was ein hochbekömmliches leichtes Nachtmahl zubereitet. Das schmeckt gar nicht nach Nashville, doch gleichermaßen nach Prärie und metropolitaner Einsamkeit.
World Party
„Bang” (1993)
1985 hatte Karl Wallinger Pech im Glück. In den USA tauchte sein Song „Ship of fools“ in den Charts auf, während in Zeebrugge eine englische Fähre mit Mann und Maus absoff – keine Chance mehr auf Radioeinsätze für einen Song dieses Titels. Auch heuer liegt der Walliser mit seiner retroinfizierten Band World Party wieder quer: in England geht allmählich die Monarchie baden, und er singt was von „Let the kingdom come“ … Dürfte ihm dennoch nicht schaden, dazu ist das Album zu gut – trotz einer Hinwendung zur Hi-Tech. Doch all die synthetischen Sounds, alle Samples und hippen Rhythmen dienen dem großen Ganzen.
1994
„Schräg und träg kriechen neun Songs durch die Membrane und schauen sich antriebslos nach Ohren um, die lange genug stillhalten – Schneckencountry mit Schönberg-Touch. Ploingg. Schrabch.“
aus der Rezension zu „Frozen“ von Souled American