3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
Weltbürger!
Jam & Spoon
„Tripomatic Fairytales 2001 & 2002” (1994)
Zwei CDs auf einen Schlag: „2001“ liefert sanft entschärften Technotrance, die zweite experimentelle, hochinteressante und abgrundtiefe Ambientsounds. Das Frankfurter DJ-Duo zeigt, dass die Szene mehr zu bieten hat als hingeschlurte Billigproduktionen. Akustische Trips voller Überraschungen, bei denen einem auch schon mal ein Düsenjet quer durch den Gehörgang fegt, denen man aber auch anmerkt, dass der musikalische Background übers Reglerdrehen hinausgeht: Jam El Mar, Duohälfte, ist studierter Konzertgitarrist. Wer braucht schon Ecstasy, wenn er sich mit diesem schallgewordenen, zweieinhalbstündigen Methadon/Adrenalin-Verschnitt füttern kann – immer und immer wieder?
Jelly Roll Morton
„Jazz Tribune No. 9: The complete JRM Vol. 1/2 1926/27” (1994)
Auf seiner Visitenkarte stand: „Inventor of jazz, rags and stomps“, und wahrscheinlich war das nicht gelogen. Diese Doppel-CD überblickt die zwei Jahre nach 1925, nachdem der Pianist und Bandleader Jelly Roll Morton seinen ersten Plattenvertrag mit Victor abgeschlossen hatte. Zu hören sind meist je zwei Versionen eines Stückes in oft unterschiedlichen Tempi – reizvolle Gegenüberstellungen, die bisweilen höchst unterschiedliche Gefühlslagen reflektieren. Wer Dixie und Swing nur mit Spaß- und Suffmusik verbindet, wird von der universalen Sprache dieser frühen Aufnahmen eines besseren belehrt. Eine Schatzkiste, der BMG noch einige folgen lassen muss, will man den Vielarbeiter Jelly Roll komplett neu auflegen.
Jesus & Mary Chain
„Stoned & dethroned” (1994)
Der Rhyhtmus des Rave hallt nach in dieser Platte, wird aber durchweg in eine sanfte, fügsame Generation-X-Melancholie gezwungen – „we’ve got nothing but that’s alright“, heißt es einmal. Der Klang von JMC wird seit jeher geprägt von Hierarchien: die akustische liegt unter der Stromgitarre, der Gesang wird vom Sound nach hinten gedrängt, ist gerade diesseits des Flüsterns und dennoch dominant. Doch die traditionellen aggressiven Ausbrüche sind auf „Stoned & Dethroned“ verschwunden, und der gefallene Engel des Suffs tritt auf: Shane McGowan. Ein Entthronter und Gesteinigter findet Asyl auf dieser Platte – eine müde, vielsagende Geste.
Kevin Coyne
„Tough and sweet” (1994)
27 Alben lang haben wir jede Scheiße mitgekriegt, die ihm passiert ist. Weil Coyne authentisch ist bis zur Verletzung der eigenen Intimsphäre. Er hat die Psychiatrie überstanden (als Pfleger), den Alkoholismus überlebt (als Säufer) – und den Blues behalten. Coyne, der hyänenhafte Sänger seiner Psychosen und Delirien, ringt seinem Leben weitere 70 Minuten Liedgut ab: minimalistische Reibeisensongs, versöhnlicher als in den dunklen 80ern, doch genauso eckig, kratzig und ungehobelt. Es sind schlichte Liebeslieder („Precious Love“), ironische Rock’n’Roll-Hommagen („Elvis is dead“), pulsende Popstückchen, kleine pathetische Hymnen und trockener Rhythm’n’Blues – die reinste Lebensphasenschau, aber mit frischem Material. Die schlichte Erkenntnis unseres Psychobluesbarden: „Money doesn’t mean a thing, this Mercedes Benz could never be your friend.“ Und auch das ist authentisch.
Lone Kent
„Granite & Sand” (1994)
Schließt die Augen. Stellt euch flackernde Windlichter vor. Und Weidezäune im weiten amerikanischen Westen aus krummen elektrischen Drähten, die sirren im Hauch einer Präriebrise. Lone Kent spielt Gitarre für dieses Bild: Sein flirrender, ferner Ton erinnert an Ry Cooder, doch verfolgt Kent eine ureigene Klangvision. Sie speist sich aus den Stimmungsbildern des Country, und der Kanadier verwebt sie mit einem flüsternden, schamanisch beschwörenden Gesang – wie ein Mix aus den Stimmen von Nick Drake und Donovan. Ambientcountry? Lone Kent jedenfalls trifft einen eigenen Ton. Und das passiert im Pop alle Jubeljahre einmal.
Madder Rose
„Panic on” (1994)
Die Sängerin Mary Corsen möchte man kräftig schütteln, auf dass sie wieder ganz zu sich käme. Manchmal besorgt das ihre Band für uns – etwa im kurzen, schnellen „Drop a Bomb“ oder im Neowaver „Ultra Anxiety“ –, doch gemeinhin will sie ihre schlaftrunkene Frontfrau mit der Elfenstimme nicht stören, sondern legt ihr eine dichte pralle Gitarrenmatratze unter. Trotzdem lassen sich Madder Rose schlecht in die Ecke des entrückten Shoegaze im Stil von Moon Seven Times oder Slowdive rücken; ihre Heimat liegt in einer Zwischenwelt, auf halbem Weg zwischen Schlaf und Erwachen. Doch Morpheus kehren sie den Rücken zu, um den Rock’n’Roll nicht aus den Augen zu verlieren.
Marillion
„Brave” (1994)
Als der Punk 1976 den saturierten Kunstrock zermalmte, schienen die Tage der Supergroups gezählt – zumal nach Peter Gabriels Weggang sogar Genesis rasch verpoppte. Nostalgie freilich sehnt sich auch nach Neuem, wenn es nur die alten Kleider trägt; so schlug bald die Stunde der Epigonen, deren Gunst Marillion am erfolgreichsten nutzte. Die Demission des Frontmanns Fishs stellte 1988 die Restband vor die Richtungsfrage. Unterm neuen Chef Steve Hogarth wählt sie nun die Flucht zurück, hin zum großen Konzeptopus, zum artrocküblichen Spiel mit der Dynamik, in dem Wucht und Poesie, lyrische Saitenmalerei und pathostrunkene Klangflächen miteinander kämpfen und verschmelzen; ein Spiel, das die Spontaneität des Rock’n’Roll kaltherzig auf dem Altar der Kunstfertigkeit opfert. Die hohen Soundwälle von „Brave“ umbauen ein abgedroschenes Thema (Identitätsverlust) und wollen klingen wie Genesis’ Hauptwerk „Lamb lies down on Broadway“. Diesem kopiegenauen Akt reiner Epigonalität fehlt indes ein designierter Hit wie „Carpet crawl“. Zeitgleich hält Fish den alten Feinden ein songorientiertes Livealbum („Sushi“) entgegen, voll mit synthetischen Bläsern und seelenvollen Gitarren, mit pumpenden Drums, Gabriel-Touch und dem unbedingten Willen, bei MTV zu landen. Er ist besser beieinander als zuletzt beim laschen Studioalbum – und trotz eines Hangs zur großen Geste weit weniger verquast als Marillion. Wiedervereinigung? Unwahrscheinlich.
Meat Loaf
„Live” (1994)
„Wenn sie mal mein Leben verfilmen“, sagt Meat Loaf, der so heißt, weil er aussieht wie ein aufgepumpter Hackbraten, „dann soll Michael J. Fox mich spielen.“ Solch sarkastischer Umgang mit der eigenen Unattraktivität kommt auch live zum Tragen. Der anfangs in Anzug und Rüschenhemd steckende frischgefönte Klops verwandelt sich im Lauf einer Konzertstunde genüsslich zum schweißtriefenden, sabbernden Glubschaugenmonster, das strähnenhaarig Drohgesten schleudert und in eklem Tète-a-Tète mit einer leichtgeschürzten Sexbombe rummacht. Im Wortsinn saftiger, ekstatischer Rock’n’Roll also, den das reservierte Wembley-Publikum offeriert bekommt. Leider gilt das nur für die Musik, denn optisch gibt sich das Video ausgesprochen bieder. Zoom vor, Zoom zurück, mal eine Pose, die einfriert – Ästhetik der 70er Jahre. Sollte aber nicht verschrecken.
Mucky Pup
„Lemonade” (1994)
Es hat seine Vorteile, wenn das Line-up schneller wechselt als der Drummer die Stöcke: Man nimmt sich nicht so wichtig. Mucky Pup ist identisch mit Chris Milnes, der Rest ist disponible Masse – und hat gar nicht die Zeit, Allüren auszubilden. So strickt Milnes sich seinen halbherzigen, doch knallharten Crossover in Eigenregie zusammen, packt seine Stimme in den metallischen Sound wie in Stahlwolle. Und am Ende, wenn man nach 20-minütiger Leerrille mit nichts mehr rechnet, lässt er die sentimentale rosa Sau raus: eine zuckrige Ballade für alle, die sich tapfer durch Gewitter und Stille kämpften.
Neil Young & Crazy Horse
„Rust never sleeps” (1994)
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