3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner

3000 Plattenkritiken - Matthias Wagner


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      „Das Album, welches Massive Attack gemacht hätten, wären sie mehr von House und Techno beeinflusst“, findet die Plattenfirma. Also TripHouse? Jedenfalls mit Shara Nelson, die schon mit Massive Attack … doch halt: Der Vergleich hinkt eh. Beim Hören dieses flockigenen Albums fällt uns viel eher der sonnige Phillysound eines George McCrae von 1975 ein als regenverhangener Bristol-Sound. Somit ist die „Future Logic“ des Introsongs eher eine der Vergangenheit. Der Housestil von Presence hat eine Leichtigkeit, die sich den Gegebenheiten anpasst – und erst kurz vor der Einschmeichelei lächelnd zurückzuckt.

      Ralf Illenberger

      „The Kiss” (2000)

      Mit Martin Kolbe begab sich Ralf Illenberger schon in den 70ern auf die Suche nach einer gleichsam esoterischen Jazzdefinition, die im Wohlklang nach Erlösung suchte. Balsamisch blieb seine Musik bis heute – auch auf „The Kiss“, wo Büdi Siebert (sax, Bassklarinette), Zirque Bonner (b), Walter Keiser (dr) und Fitzhugh Jenkins (b) mit ihm auf Klangreisen gehen. Illenberger schafft mit perlenden Läufen schnell einen Schwebezustand und hält ihn 40 Minuten durch. Ein Stück fließt ins andere, es gibt weder Brüche noch schorfige Stellen. Er spielt Gitarre wie ein Harfenist, und sie hat jenen edlen Hall, der immer in Gefahr schwebt, sich zu verflüchtigen oder zur NDR-Pausenmusik zu verkommen. Diesem sanften Klammergriff zu entgehen, ist nicht leicht. Also reisten wir mit, und das tut sehr, sehr gut. Puristische Jazzer werden das Ganze allerdings naserümpfend als esoterisch abtun. Womit sie Illenberger nicht treffen werden.

      Rechenzentrum

      „Rechenzentrum” (2000)

      Dieser Minimal Techno kommt (wie viele wichtigen Genrewerke) aus Berlin und ist von so spröder Monotonie, dass er automatisch unter Ambientverdacht gerät – weshalb man nicht richtig weiß, warum man eigentlich beim Hören nicht abschalten kann. Beispiel Stück 7, „Camera Silens/SFB 115“: Ein nervöser Beat umwieselt einen Holperbass, und hochverstärktes Rillenschaben brandet rhythmisch auf. Das ist ungeheuer packend (= Techno), ohne irgendwo hin zu führen (= Ambient). Das Duo definiert Zustände, keine Zielvorgaben, und das klingt seltsam und schön. Aber: Hofft bloß nicht aufs Abschalten. Wird nicht klappen.

      Richard Ashcroft

      „Alone with everybody” (2000)

      Tiefpunkt ist das Stück „New York“, wo Ashcroft eine bescheidene Idee zum mantraartigen Miniepos auswalzt, ohne diese Blähung zu bemerken. Auch die anderen zehn Songs werden The-Verve-Fans nicht alle goutieren. Den stilbildenden epischen Britpop seiner früheren Band, die letztlich an einer Copyrightsverletzung einging (man hatte unberechtigt ein Stones-Sample verwendet und musste dafür bluten), führt Ashcroft nicht fort. Oft klingt sein heiß erwarteter Soloversuch nach US-Songwriterpop, und in manchen Momenten wird er sogar magisch: „A Song for the Lovers“ könnte wirklich eine Hymne der anvisierten Zielgruppe werden, so locker weht er dahin auf den Zehenspitzen der akustischen Gitarre. Und „Crazy World“ schwingt sich auf zu einem Kanon der Leidenschaft. Ein Balladenalbum mit einigen funkelnden Sternen und vielen blassen Monden, dessen sahnige, wohl beim Easy-Listening-Großorchester entliehene Streicher man in Erinnerung behalten wird – weniger allerdings die Synthiechöre, abgeschmackten Saxofonsäuseleien und die Gitarrenklischees von „On a Beach“.

      Robbie Williams

      „Sing when you’re winning” (2000)

      Neben George Michael hat nur noch ein anderer Exteeniestar je einen so grandiosen Genrewechsel ins Erwachsenenfach hinbekommen: Robbie Williams. Von Take That zur männlichen Madonna des Poprock – Respekt. Robbie hat dabei nicht nur Songs im Repertoire wie Elton John zu seinen größten Zeiten, sondern auch die Fähigkeit, seinen hemmungslosen Hang zu spectorhaftem Pomp doch stets der Wirkung der Songs unterzuordnen. Sein künstlerischer Weg schlängelt sich hier quer durch die Genres Rap, Pop und Rock, und nirgends versagt er. Selbst wenn, er würde es zugeben, denn keiner redet genüsslicher über seine Schwächen als Mr. Williams; das macht ihn unangreifbar. Ein wahrer Superstar. Er hat das Hassduell mit Oasis entschieden – nicht mit den Fäusten, auf dem Platz.

      Robert Görl

      „Final Metal Pralinées” (2000)

      Auch Robert Görl ist einer der Väter des Techno. Mit DAF verband er ab 1979 Brachialelektronik mit unerhörten Texten („Tanz den Mussolini“); aktuelle DAF-Wiedergänger sind Rammstein und Witt. Görl ließ aber lange nichts von sich hören. Jetzt fand er, wohl im Keller zwischen muffigen Lederhosen und Schlagringen mit eingetrockneten Blutflecken, seinen alten Korg wieder. Damit bastelte er sich den staubtrockensten Technocore aller Zeiten zusammen – strikt analog und ohne je die monotone Ödnis aufzubrechen. Damit könnte Görl dennoch wieder kultig werden. Größer ist allerdings die Gefahr, dass ihn nun wirklich nur noch der hören will, der einst beim Mussolini-Tanzen kirre wurde.

      Rubén González

      „Chanchullo” (2000)

      Huch, ist das etwa „Oye como va“? Nein, doch nur das zum Verwechseln ähnliche Titelstück „Chanchullo“. Darin erschöpfen sich aber auch die Santana-Anklänge; es dominieren die Selbstbezüge. Der Pianist Rubén González spielt, mit 82, weiter herzhaft gegen den Grundrhythmus an und ficht kleine liebevolle Kämpfe mit der Perkussion aus. Eine dunkle, altersweise Wehmut durchzieht dieses Album, das seine Spannung weniger aus der Qualität der Kompositionen bezieht als aus der Ungewissheit des Fortgangs. Man weiß nie, wann die flüssigen Läufe des Greises am Klavier die Tonart mal wieder verlassen, wann der nächste pianistische Seitensprung ansteht. So klingt alles frisch und gelassen, auf heimelige Weise unaufgeregt – auch dank der Mitmusiker, darunter Ry Cooder, Ibrahim Ferrer und Eliades Ochoa.

      Ryuichi Sakamoto

      „Back to the Basics & Cinemage” (2000)

      Sinfonische Einheitssoße prägte die Soundtracks der 90er, oft ergänzt durch Protzbombast à la John Williams. Dem Japaner Sakamoto dagegen reichte die bloße Wucht des Klangkörpers nie. Große melodische Themen prägten seine Scores, und auf „Cinemage“ hat er einige davon zusammengeführt. Der einstige Elektroavantgardist fand in seinen Soundtracks zu „Little Buddha“ oder „Der letzte Kaiser“ eine Formel für die alchemistische Fusion von Ost und West, stets getragen von seiner Kompositionskunst. Auf dem Pianosoloalbum „Back to the Basics“ präsentiert er neoromantische Petitessen zwischen Satie und Rachmaninov, und ab und zu frönt er einem fröhlichen Klanganarchismus, den auch John Cage begrinst hätte. Viel Holz hat so ein Klavier, viel Metall. Und höre: Es schwingt, wenn man’s beklopft.

      Saariston Lapset

      „Kaasuhellan Käyttöohje” (2000)

      Diese Finnen! Nicht genug damit, dass sie die Leningrad Cowboys auf die Welt losließen, jetzt kommen auch noch Saariston Lapset, und diese durchgeknallte Combo klingt, als hätten sich die Leningrad Cowboys am Duracel-Hasen verschluckt. Melodica und E-Piano hopsen durch die Tundra mit Killerbienen im Hintern, der Drummer hat seinen Wodka offenbar mit Adrenalin gestreckt, und der Gitarrist hält sich für Johnny Thunders. So viel Lo-Fi war nie, und selten hat sich die finnische Nervosität (immerhin ist man ständig von Leberzhirrose und Suizid bedroht) in derart hektischem, witzigem Heimgewerkel niedergeschlagen. Stellt euch einen Kosaken auf Ecstasy vor, der bei minus 30 Grad eine Zeitrafferversion des Säbeltanzes hinlegen will. So, und jetzt üben wir alle diesen Albumtitel.

      Sade

      „Lovers Rock” (2000)

      Grooves aus dem Off, urbane, sanft pulsende Nachtwelten aus wenig mehr als Drums, Bass und Keyboards – und mittendrin schwebt diese entrückte, unbeteiligt wirkende Stimme, die von großen Gefühlen singt, aber sie nicht zu empfinden scheint. Wie nennt man so etwas? Stil? Acht Jahre kein Album


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