3000 Plattenkritiken. Matthias Wagner
so viel unwiderstehlichen Pop hätte keiner gewettet. Bonos noch immer aphrodisiakische Stimme singt die strahlendsten Songs seit dem Klassiker von 1987, „The Joshua Tree“; das ganze Album markiert eine Rückkehr zum kristallen schimmernden Poprock von erhabener Größe, der sich liebevoll um Songs und Melodien kümmert und nicht mehr um avantgardistische Bedeutungshuberei, die seit „Zooropa“ die Musik von U2 im Klammergriff hatte. Die Zeit der Experimente, als U2 verbissen die innovativste aller Megabands sein wollten, ist vorbei. Jetzt relaxt der Riese – und singt schlichte schöne Songs, statt Bosnien zu retten. Das Album liegt da wie ein sonnengesprenkelter Pool: aufs Sprungbrett und kopfüber hinein. Und dann tauchen und tauchen. „Die Songs haben keine großartigen Melodien“, sagte Bono einst über „Achtung Baby“, „aber sie gehen unter die Haut.“ Diesmal gehen sie unter die Haut, haben aber auch großartige Melodien. Und ehrlich gesagt: Das ist noch besser.
Uusitalo
„Vapaa Muurari live” (2000)
Es ist, als sähe man Robotern beim Arbeiten zu, in einer menschenleeren Halle. Die Musik von Uusitalo ist dennoch nicht ganz antibiotisch. Doch jene Frauenstimme, die manchmal aufkommt, verkörpert nur die Einsamkeit eines Organismus in einem digitalen Maschinenpark. Diese Inkarnation von Vladislav Delay, der unterm Pseudonym Luomo auch minimalistischen House erschafft, bedient sich der Sezierkünste des Dub, um die Strukturen von Techno, Elektronik und Beats freizulegen. Dank elektronischer Flächen haben wir dennoch nicht das Gefühl, das Skelett eines Cyborgs vor uns zu haben. Diese Roboter tragen Kleider, und sie sind wunderschön.
Valvola
„Teenagers film their own Life” (2000)
Es dauert eine Weile, bis klar ist, woran dieser verhallte heisere Raungesang von Gianni Antonino erinnert. An den von Leonard Cohen nämlich. Darin erschöpfen sich die Vergleiche mit Valvola aus Florenz allerdings schon, denn mit alten Orgeln, analogen Synthies, mit Fuzz- und Twanggitarren, Sitar und Tamburin hatte Cohen nie etwas am Hut. Die Italiener schon. Ihr spaciger Sixtiessound, der von fernen Zeiten flüstert, schleppt sich mühselig und beladen dahin – ein seltsamer Widerspruch, ist die Musik doch zuglech von filigraner Luftigkeit. Morricone auf Valium? Bei aller Klangfantasie bleibt das Album eintönig, weil Valvola keine richtigen Songs gelingen wollen. Auch das war übrigens bei Leonard Cohen immer anders.
Van Morrison & Linda Gail Lewis
„You win again” (2000)
Van Morrison trennt die Dinge strikt. Entweder er legt wolkigen Esoteriksoul vor, oder er übt sich in klassischen Genres. Diesmal zweiteres. Mit Jerry Lee Lewis’ Schwester Linda Gail legt er wilde Boogies aufs Parkett und schmachtet Countryfetzen. So ist uns Van letztlich auch lieber – ohne die spirituell aufgeladenen Waberklänge, die seine Gebete umhüllen. Nein, wenn er reinhaut, wenn er die Songs spielt und singt, die ihm als jungem Hallodri das Herz öffneten, dann wird er vor unseren Ohren wieder jung. Das ist schön zu erleben. Auch wenn bei manch wogendem Boogiepiano auf diesem Album der Wunsch aufkeimt, Linda Gail hätte ihren Big Brother Jerry zum Tastenhämmern mitgebracht.
Verschiedene Künstler
„3 P – Evolution” (2000)
We are family – nie wurde das so deutlich wie hier. Unter der fürsorglichen Pflege des Labelpaten Moses Pelham wuchs die 3-P-Herde kräftig, und kaum ein schwarzes Schaf ist darunter, fast alle sind erfolgreich. Unterm Projekttitel „Evolution“ hat er sie nun alle auf die Weide getrieben, auf dass sie kräftig blöken und den Ruhm derer von Rödelheim mehren in gemeinsamer Anstrengung. Ob das den Erfolg potenziert? Jedenfalls ein geschickter Schachzug, zumal Moses P. von einem Album eine Unzahl von Singles verschiedener Künstler auskoppeln kann. Der Mann hat ein Näschen fürs Geschäft. Und jetzt wieder zurück ins Ställchen, ihr Xaviers und Sabrinas und Illmatics dieser Welt.
Verschiedene Künstler
„Badlands – A Tribute to Bruce Springsteen’s Nebraska” (2000)
Bevor 1995 „Tom Joad“ erschien, stand Bruce Springsteens 13 Jahre älteres Album „Nebraska“ allein da in seinem Œuvre. Eine akustische Trutzburg, roh und rudimentär, ein düsteres Werk, das sich aus den tiefsten amerikanischen Mythen speiste und sie zugleich fortführte. Der elektrische Bruce war zum abgerissenen Geschichtenerzähler mit Gitarre geworden. Ein unvergessliches Album – dem hier brillant Tribut gezollt wird, Stück für Stück und höchst unterschiedlich: von reinem Bluegrass („Atlantic City“, Hank III) über den Slo-Mo-Rock von Chrissie Hynde und Adam Seymour beim Titelstück bis zur gesangsepigonalen Lo-Fi-Bastelei der Crooked Fingers bei „Mansion on the Hill“. Und selbst schwächere Interpretationen wie Dar Williams’ „Highway Patrolman“ senken das Niveau nicht merklich.
Verschiedene Künstler
„Charles Wilp: Michelangelo in Space – The Bunny Remixes” (2000)
Der Berliner Jesuitenschüler Wilp gehört zu den Werbeikonen des Jahrhunderts. Ich sage nur: Nonne hinter vereister Scheibe mit Afri-Cola-Flasche. Diesem Multimediakünstler aus einer Zeit, als es den Begriff noch gar nicht gab, huldigen hier hippe Leute von heute. Geschickt wird Wilps auf Rausch angelegtes 60er-Listening und sein nach Fernsehshow klingender Big-Band-Jazz mit aktuellen Beats verbunden. Diese Hommage ist in sich geschlossener als die an Peter Thomas aus dem letzten Jahr, die ähnlich angelegt war. Und mit Maxwell Implosion, To Rococo Rot oder Stereo Total haben sich auch deutlich schrägere Typen an Wilps Werken versucht.
Verschiedene Künstler
„Chicago 2018 … It’s gonna change” (2000)
Auch in Chicago, der Welthauptstadt des Postrock, ist nicht alles cool, was daddelt. Das beweist etwa das Chicago Underground Duo mit seiner angestaubt hippiesken Drumsolomucke. Allerdings überwiegt das Neue auf dieser Samplerdoublette, wo sich aus Freejazz und Psychedelia, impressionistischen Rockskizzen und nihilistisch anmutenden Instrumentals die derzeit gültige Definition des Postrock formt. Vertreten sind Genreheroen wie Tortoise oder Isotope 217, aber auch Bands des echten Undergrounds wie Tricolor, die aus Spannung und Ruhe, aus Gefühl und Kälte ein geradezu andächtiges Fluidum weben. Musik, die von Keith Richards ebenso fern ist wie von Puff Daddy oder Keith Jarrett. Eine eigene Nische.
Verschiedene Künstler
„Clubber’s Guide to … Germany” (2000)
DJ Taucher wusste schon genau, was er tat und plante, als er sich seinen Clubnamen gab. Sein Sound ist seicht und tief – wie geschaffen für lange Nächte ohne Sorgen. Der Sampler „Clubber’s Guide …“ stellt Techno- und Clubstile vor, zu denen in Deutschland getanzt wird. Motto: keine Experimente, nur pure Attraktion, ohne freilich in Blümchens Garten zu landen. Ein sehr süffiger Mix auf zwei CDs mit 41 Tracks. Dabei sind Paul Van Dyk, David Morales, Monday Michiru, Humate, Jocelyn Brown – und Tom Jones, der sich damals, als er „Green Grass of Home“ sang, auch nicht hätte träumen lassen, mal auf solch einem Sampler zu landen. Gottes Wege sind unergründlich.
Verschiedene Künstler
„Comfort Zone” (2000)
Die Flut der Loungeplatten hat verdeutlicht, dass auch in diesem Genre die Geniequote nicht höher ist als anderswo. Will sagen: Mittelmaß überall. Der Labelsampler „Comfort Zone“ hebt das Niveau jedoch – mit wunderbaren Texturen, viel Ruhe und Elegie. Diese Musik will auf Cocktailpartys gespielt werden oder zum Vorspiel auf der Couch. Auch sagt sie leise: „Ich wäre ein überaus geeigneter Soundtrack zur Space Night, lieber Bayerischer Rundfunk.“ Sichergestellt wird die Qualität durch To Rococo Rot, Trüby Trio, Mono oder Akasha. Highlights: I-Cube beginnt „Tropiq“ mit ausgedünntem Minimal Techno und verwandelt ihn dann verblüffend rasch und elegant in eine Loungeskulptur, und A Reminiscent