Anarchistische Analysen zur Gegenwart. Jörg Djuren

Anarchistische Analysen zur Gegenwart - Jörg Djuren


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im Sinne der Steigerung seines Nutzens für die kapitalistische Produktion und seiner Einbettung in den kapitalistischen Markt. Gleichzeitig führt die Anreizung spezifischer sexueller Praxen zu einer Umstrukturierung der Subjekte, die sich in den veränderten sexuellen Praxen neu situieren und neu definieren. Die Festlegung der Sexualitätsdiskurse ist ein entscheidendes Mittel zur Durchsetzung von Machtinteressen.

      Mit Foucault gilt für die Moderne das Konzept der Biomacht, die die Verwaltung des Lebens übernimmt. Als Disziplinarmacht gegenüber dem Körper übernimmt sie "seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und nützliche Kontrollsysteme"20 und als "Biopolitik der Bevölkerung"21 , als Normierungsmacht, reguliert sie "die Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau"22 . Die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit all ihren Variationsbedingungen wird zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen.

      "Diese Bio-Macht war (..) ein unerläßliches Element bei der Entwicklung des Kapitalismus, der ohne kontrollierte Einschaltung der Körper in die Produktionsapparate und ohne Anpassung der Bevölkerungsphänomene an die ökonomischen Prozesse nicht möglich gewesen wäre. Aber er hat noch mehr verlangt: das Wachsen der Körper und der Bevölkerungen, ihre Stärkung wie auch ihre Nutzbarkeit und Gelehrigkeit; er brauchte Machtmethoden, die geeignet waren, die Kräfte, die Fähigkeiten, das Leben im ganzen zu steigern, ohne deren Unterwerfung zu erschweren."23

      Es geht nicht mehr darum, auf dem Feld der Souveränität den Tod auszuspielen, sondern das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren.

      "Der Sex eröffnet den Zugang sowohl zum Leben des Körpers wie zum Leben der Gattung. Er dient als Matrix der Disziplinen und als Prinzip der Regulierungen."24 (..) "Die Mechanismen der Macht zielen auf den Körper, auf das Leben und seine Expansion, auf die Erhaltung, Ertüchtigung, Ermächtigung oder Nutzbarmachung der ganzen Art ab. Wenn es um Gesundheit, Fortpflanzung, Rasse, Zukunft der Art, Lebenskraft des Gesellschaftskörpers geht, spricht die Macht von der Sexualität und zu der Sexualität, die nicht Mal oder Symbol ist, sondern Gegenstand und Zielscheibe."25

      Entsprechend sind mit dem Umbruch zur postmodernen Machtstruktur der MIS auch Änderungen in den sexuellen Praxen und ein Umbruch in dem was als 'sexuelle Wahrheit' gilt zu beobachten.

      Wie schon bzgl. der Familienorganisation beschrieben bilden sich auch hier zwei scheinbar widersprüchliche sexuelle Wahrheitssysteme mit ihren jeweiligen sexuellen Praxen heraus, eins für die neuen Subjekte der Macht, die MIS-BürgerInnen, und eins für die Masse der Bevölkerung.

      Für das neue Subjekt der Macht gilt, wie schon ausgeführt, daß es zu lernen hat seine/ihre Sexualität, und dies umfaßt nicht nur die sexuellen Praxen sondern auch das geschlechtliche Auftreten, souverän im Wert zu maximieren und als Tauschwert einzusetzen. Die Entwicklung einer solchen souveränen Warensexualität ist ein Schritt in dem sich dieses neue Subjekt der Macht im Sinne des Foucault-Zitats selbst konstituiert.

      Zieh Dir doch mal was anderes an.

      Ein bißchen körperbetonter.

      Willst Du denn gar nicht attraktiv sein?

      Und die Haare.

      Hast Du die selbst geschnitten.

      Ich will Dir ja nicht reinreden.

      Du mußt ja selber wissen.

      Aber ...

      Für das souveräne Warensubjekt sind eine Reihe sexueller Tabus dabei nicht mehr zeitgemäß. So behindert das Tabu der Sexualität zwischen Männern den souveränen Einsatz einer Tauschsexualität, z.B. schon auf der Ebene des Einsatzes bewußt geschlechtlichen Auftretens. Die Unterstützung der Enttabuisierung von Homosexualität durch postmoderne Machtzusammenhänge ist so zum Teil zu begreifen. Gleichzeitig bedeutet dies aber wie ausgeführt nicht das Ende von Homophobie, es bildet sich hier nur eine neue Form heraus, denn all die Schwulenklischees werden nun auf das nicht souveräne Warensubjekt übertragen. Das heißt die neue verworfene Sexualität wird die nicht souveräne Sexualität, die nicht dem Ideal des gerechten Orgasmustausches genügt.

      Dieses Ideal des gerechten Orgasmustausches ersetzt innerhalb der MIS-Schicht das bürgerlich christliche Ideal der Aufopferung für die Liebe (Romeo und Julia). Es ist das Ideal der freien Marktwirtschaft übertragen auf die Sexualität.

      Aber auch einen gerechten Orgasmustausch gibt es nicht, denn wieviel kg wiegt ein Orgasmus, wie hoch ist sein Wert, wie vergleiche ich Orgasmen? Brauchen Menschen die mehr wiegen mehr kg Orgasmus als leichtere Menschen?

      Tatsächlich produzieren die Sexualwissenschaften seit den 70er Jahren hierfür Tabellen, Statistiken und Orgasmusverlaufskurven. Eine Ideologieproduktion die inzwischen in den Alltag eingesickert ist.

      Das Ideal des gerechten Orgasmustausches ist nur ebenso eine romantische Schimäre, wie das bürgerliche Aufopferungs-Liebesideal. Ist der Leib und die Lust, sind die Bedürfnisse nach Intimität, doch nicht auf Kurvenverläufe reduzierbar.

      Und wie das bürgerliche Liebesideal hat der Orgasmustausch eine ungleiche Wirkung innerhalb der zweigeschlechtlichen Organisation der Gesellschaft zur Folge. Steht sie doch immer im Verdacht gar keinen Orgasmus gehabt, d.h. nicht das eigentliche gegeben zu haben, zu simulieren und damit den Tausch zu unterminieren. Ein Diskurs der aus der Prostitution hinlänglich bekannt ist.

      Und auch dieses Sexualitätsideal dient Herrschaftsfunktionen, der Schaffung herrschaftsaffirmativer Subjekte durch eine herrschaftskonforme Strukturierung der Sexualität.

      War Romeo und Julia zu Shakespeares Zeiten ein Diskurs zur Modernisierung des sexuellen Subjektes im Sinne der Aufrichtung bürgerlicher Herrschaft, in dem letztendlich vor allem den Frauen die Aufopferung für die Liebe und die damit verbundene unbezahlte Reproduktionsarbeit überlassen wurde, wird dieser Diskurs für die MIS-BürgerInnen nun durch den Mythos des gerechten Tausches abgelöst.

      Wobei zu sehen ist, daß der Orientierungspunkt eben der männliche sichtbare Orgasmus, als mechanischer Ablauf, ist, und damit der weibliche 'unsichtbare' Orgasmus und mit ihm die 'unsichtbare' Reproduktionsarbeit', die überwiegend Frauen leisten, wieder einmal entwertet wird.

      In der medizinischen Normierung gilt heute, daß ein Penis nur zu klein aber nie zu groß sein kann. Die Klitoris kann hingegen nur zu groß aber nie zu klein sein.

      Die Kindergynäkologie und Operationen zur Normierung, die gewaltsame Herstellung der sexuellen körperlichen Norm aufgrund der Entscheidung der Eltern/ÄrztInnen, sind ein Wachstumsmarkt.

      Aufgrund der materiellen Widerständigkeit des Leibes und der Ängste und Lüste und aufgrund bewußter Entscheidungen, konstituiert sich auch dieses Warensubjekt nicht widerspruchsfrei. Treten auch hier neben die machtförmigen sexuellen Praxen einer Warensexualität auch andere Bedürfnisse nach Nähe und Begreifen. Der herrschende Diskurs ist nie vollständig in Lage die Subjekte zu disziplinieren und zu normalisieren.

      Dies sind die Ansatzpunkte für Widerstand.

      Gleichzeitig gilt für die Masse der Bevölkerung wie ausgeführt in verschärfter Form das alte bürgerliche Sexualitätskonzept, in dem vor allem ihr 'der Frau' eine Rolle der Aufopferung für 'die Familie' abverlangt wird.

      Da auch dieses Konzept aber zunehmend mit einer Realität von Frauenerwerbsarbeit, Migration, feministischem Widerstand, u.a., in der Frauen sich anders situieren müssen/wollen bzw. die ihnen andere Selbstdarstellungen abverlangt, in Konflikt gerät, wird es zunehmend zu einer nur noch gewaltsam aufrechterhaltenen Hülle.

      Die Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen führt außerdem dazu, daß zur selben Zeit in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft alte, neue, oder Sexualitätspraxen im Umbruch gelten. Insbesondere für Frauen, deren Leib sowohl im alten wie im neuen Sexualitätsdiskurs im besonderen Maß sexualisiert wird, bedeutet dies sich permanent mit unterschiedlichen Diskursen mit widersprüchlichen Anforderungen auseinandersetzen zu müssen.


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