Radetzkymarsch. Йозеф Рот
so schnell es ging, zu überstehen.
Er war achtzehn Jahre alt, als ihm der Vater am Weihnachtsabend sagte: »Dies Jahr kriegst du keine drei Gulden mehr! Du darfst dir gegen Quittung neun aus der Kassette nehmen. Gib acht mit den Mädeln! Die meisten sind krank!« Und, nach einer Pause: »Ich habe beschlossen, daß du Jurist wirst. Bis dahin hast du noch zwei Jahre. Mit dem Militär hat es Zeit. Man kann's aufschieben, bis du fertig bist.«
Der Junge nahm die neun Gulden ebenso gehorsam entgegen wie den Wunsch des Vaters. Er besuchte die Mädchen selten, wählte sorgfältig unter ihnen und besaß noch sechs Gulden, als er in den Sommerferien wieder heimkam. Er bat den Vater um die Erlaubnis, einen Freund einzuladen. »Gut«, sagte etwas erstaunt der Major. Der Freund kam mit wenig Gepäck, aber einem umfangreichen Malkasten, der dem Hausherrn nicht gefiel. »Er malt?«, fragte der Alte. »Sehr schön!«, sagte Franz, der Sohn. »Er soll keine Kleckse im Haus machen! Er soll die Landschaft malen!« Der Gast malte zwar draußen, aber keineswegs die Landschaft. Er porträtierte den Baron Trotta aus dem Gedächtnis. Jeden Tag am Tisch lernte er die Züge seines Hausherrn auswendig. »Was fixiert Er mich?«, fragte der Baron. Beide Jungen wurden rot und sahen aufs Tischtuch. Das Porträt kam dennoch zustande und wurde dem Alten beim Abschied im Rahmen überreicht. Er studierte es bedächtig und lächelnd. Er drehte es um, als suchte er auf der Rückseite noch weitere Einzelheiten, die auf der vorderen Fläche ausgelassen sein mochten, hielt es gegen das Fenster, dann weit vor die Augen, betrachtete sich im Spiegel, verglich sich mit dem Porträt und sagte schließlich: »Wo soll es hängen?« Es war seit vielen Jahren seine erste Freude. »Du kannst deinem Freund Geld borgen, wenn er was braucht«, sagte er leise zu Franz. »Vertragt euch nur gut!« Das Porträt war und blieb das einzige, was man jemals vom alten Trotta angefertigt hatte. Es hing später im Wohnzimmer seines Sohnes und beschäftigte noch die Phantasie des Enkels ...
Inzwischen erhielt es den Major ein paar Wochen in seltener Laune. Er hängte es bald an diese, bald an jene Wand, betrachtete mit geschmeicheltem Wohlgefallen seine harte, vorspringende Nase, seinen bartlosen, blassen und schmalen Mund, die mageren Backenknochen, die wie Hügel vor den kleinen, schwarzen Augen lagen, und die kurze, vielgefurchte Stirn, überdacht von dem scharf gestutzten, borstigen und stachelig vorgeneigten Haar. Er lernte erst jetzt sein Angesicht kennen, er hielt manchmal stumme Zwiesprache mit seinem Angesicht. Es weckte in ihm nie gekannte Gedanken, Erinnerungen, unfaßbare, rasch verschwimmende Schatten von Wehmut. Er hatte erst des Bildes bedurft, um sein frühes Alter und seine große Einsamkeit zu erfahren, aus der bemalten Leinwand strömten sie ihm entgegen, die Einsamkeit und das Alter. War es immer so? fragte er sich. Immer war es so? Ohne Absicht ging er hie und da auf den Friedhof, zum Grab seiner Frau, betrachtete den grauen Sockel und das kreideweiße Kreuz, das Datum der Geburt und des Sterbetages, berechnete, daß sie zu früh gestorben war, und gestand, daß er sich ihrer nicht genau erinnern konnte. Ihre Hände zum Beispiel hatte er vergessen. »China-Eisenwein« kam ihm in den Sinn, eine Arznei, die sie lange Jahre hindurch genommen hatte. Ihr Gesicht? Er konnte es noch mit geschlossenen Augen heraufbeschwören, bald verschwand es und verschwamm in rötlichem, kreisrundem Dämmer. Er wurde milde in Haus und Hof, streichelte manchmal ein Pferd, lächelte den Kühen zu, trank häufiger als bisher einen Schnaps und schrieb eines Tages seinem Sohn einen kurzen Brief außerhalb der üblichen Termine. Man begann, ihn mit einem Lächeln zu grüßen, er nickte gefällig. Der Sommer kam, die Ferien brachten den Sohn und den Freund, mit beiden fuhr der Alte in die Stadt, trat in ein Wirtshaus, trank ein paar Schluck Sliwowitz und bestellte den Jungen reichliches Essen.
Der Sohn wurde Jurist, kam häufiger heim, sah sich auf dem Gut um, verspürte eines Tages Lust, es zu verwalten und von der juristischen Karriere zu lassen. Er gestand es dem Vater. Der Major sagte: »Es ist zu spät! Du wirst in deinem Leben kein Bauer und kein Wirt! Du wirst ein tüchtiger Beamter, nichts mehr!« Es war eine beschlossene Sache. Der Sohn wurde politischer Beamter, Bezirkskommissär in Schlesien. War der Name Trotta auch aus den autorisierten Schulbüchern verschwunden, so doch nicht aus den geheimen Akten der hohen politischen Behörden, und die fünftausend Gulden, von der Huld des Kaisers gespendet, sicherten dem Beamten Trotta eine ständige wohlwollende Beobachtung und Förderung unbekannter höherer Stellen. Er avancierte schnell. Zwei Jahre vor seiner Ernennung zum Bezirkshauptmann starb der Major.
Er hinterließ ein überraschendes Testament. Da er sicher sei des Umstandes – so schrieb er –, daß sein Sohn kein guter Landwirt wäre, und da er hoffe, daß die Trottas, dem Kaiser dankbar für seine währende Huld, im Staatsdienst zu Rang und Würden kommen und glücklicher als er, der Verfasser des Testaments, im Leben werden könnten, habe er sich entschlossen, im Andenken an seinen seligen Vater, das Gut, das ihm der Herr Schwiegervater vor Jahren verschrieben, mit allem, was es an beweglichem wie unbeweglichem Vermögen enthielt, dem Militärinvalidenfonds zu vermachen, wohingegen die Nutznießer des Testaments keine andere Verpflichtung hätten als die, den Erblasser in möglichster Bescheidenheit auf jenem Friedhof zu bestatten, auf dem sein Vater beigesetzt worden sei, ginge es leicht, dann in der Nähe des Verstorbenen. Er, der Erblasser, bäte, von jedem Pomp abzusehen. Das vorhandene Bargeld, fünfzehntausend Florin samt Zinsen, angelegt im Bankhaus Efrussi zu Wien, sowie restliches, im Haus befindliches Geld, Silber und Kupfer, ebenso Ring, Uhr und Kette der seligen Mutter gehören dem einzigen Sohn des Erblassers, Baron Franz von Trotta und Sipolje.
Eine Wiener Militärkapelle, eine Kompanie Infanterie, ein Vertreter der Ritter des Maria-Theresien-Ordens, Vertreter des südungarischen Regiments, dessen bescheidener Held der Major gewesen war, alle marschfähigen Militärinvaliden, zwei Beamte der Hof- und Kabinettskanzlei, ein Offizier des Militärkabinetts und ein Unteroffizier mit dem Maria-Theresien-Orden auf schwarz behangenem Kissen: sie bildeten das offizielle Leichenbegängnis. Franz, der Sohn, ging schwarz, schmal und allein. Die Kapelle spielte den Marsch, den sie beim Begräbnis des Großvaters gespielt hatte. Die Salven, die diesmal abgefeuert wurden, waren stärker und verhallten mit längerem Echo. Der Sohn weinte nicht. Niemand weinte um den Toten. Alles blieb trocken und feierlich. Niemand sprach am Grabe. In der Nähe des Gendarmeriewachtmeisters lag Major Freiherr von Trotta und Sipolje, der Ritter der Wahrheit. Man setzte ihm einen einfachen, militärischen Grabstein, auf dem in schmalen, schwarzen Buchstaben neben Namen, Rang und Regiment der stolze Beinamen eingegraben war: »Der Held von Solferino«.
Wenig mehr blieb also von dem Toten zurück als dieser Stein, ein verschollener Ruhm und das Porträt. Also geht ein Bauer im Frühling über den Acker – und später, im Sommer, ist die Spur seiner Schritte überweht vom Segen des Weizens, den er gesät hat. Der kaiserlich-königliche Oberkommissär Trotta von Sipolje erhielt noch in derselben Woche ein Beileidsschreiben Seiner Majestät, in dem von den immerdar »unvergessenen Diensten« des selig Verstorbenen zweimal die Rede war.
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Es gab im ganzen Machtbereich der Division keine schönere Militärkapelle als die des Infanterieregiments Nr. X in der kleinen Bezirksstadt W. in Mähren. Der Kapellmeister gehörte noch zu jenen österreichischen Militärmusikern, die dank einem genauen Gedächtnis und einem immer wachen Bedürfnis nach neuen Variationen alter Melodien jeden Monat einen Marsch zu komponieren vermochten. Alle Märsche glichen einander wie Soldaten. Die meisten begannen mit einem Trommelwirbel, enthielten den marsch-rhythmisch beschleunigten Zapfenstreich, ein schmetterndes Lächeln der holden Tschinellen und endeten mit einem grollenden Donner der großen Pauke, dem fröhlichen und kurzen Gewitter der Militärmusik. Was den Kapellmeister Nechwal vor seinen Kollegen auszeichnete, war nicht so sehr die außerordentlich fruchtbare Zähigkeit im Komponieren wie die schneidige und heitere Strenge, mit der er Musik exerzierte. Die lässige Gewohnheit anderer Musikkapellmeister, den ersten Marsch vom Musikfeldwebel dirigieren zu lassen und erst beim zweiten Punkt des Programms den Taktstock zu heben, hielt Nechwal für ein deutliches Anzeichen des Untergangs der kaiserlichen und königlichen Monarchie. Sobald sich die Kapelle im vorgeschriebenen Rund aufgestellt und die zierlichen Füßchen der winzigen Notenpulte in die schwarzen Erdritzen zwischen den großen Pflastersteinen des Platzes eingegraben hatte, stand der Kapellmeister auch schon in der Mitte seiner Musikanten, den schwarzen Taktstock aus Ebenholz mit silbernem Knauf diskret gehoben. Alle Platzkonzerte – sie fanden unter dem Balkon des Herrn Bezirkshauptmanns statt – begannen mit dem Radetzkymarsch. Obwohl er den Mitgliedern der Kapelle