Radetzkymarsch. Йозеф Рот
einer Virginier. Jacques brachte ihm ein Paket Zigarren. Der Kapellmeister sog lange am Feuer, das Carl Joseph standhaft vor die Mündung der langen Zigarre hielt, auf die Gefahr hin, daß seine Finger verbrannten. Man saß in breiten Lederstühlen. Herr Nechwal erzählte von der letzten Lehár-Operette in Wien. Er war ein Weltmann, der Kapellmeister. Er kam zweimal im Monat nach Wien, und Carl Joseph ahnte, daß der Musiker auf dem Grunde seiner Seele viele Geheimnisse aus der großen nächtlichen Halbwelt barg. Er hatte drei Kinder und eine Frau »aus einfachen Verhältnissen«, aber er selbst stand im vollsten Glanz der Welt, losgelöst von den Seinen. Er genoß und erzählte jüdische Witze mit pfiffigem Behagen. Der Bezirkshauptmann verstand sie nicht, lachte auch nicht, sagte aber: »Sehr gut, sehr gut!« »Wie geht es Ihrer Frau Gemahlin?«, fragte Herr von Trotta regelmäßig. Seit Jahren stellte er diese Frage. Er hatte Frau Nechwal nie gesehen, er wünschte auch nicht, der »Frau aus einfachen Verhältnissen« jemals zu begegnen. Beim Abschied sagte er immer zu Herrn Nechwal: »Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin, unbekannterweise!« Und Herr Nechwal versprach, die Grüße auszurichten, und versicherte, daß sich seine Frau sehr freuen würde. – »Und wie geht es Ihren Kindern?«, fragte Herr von Trotta, der immer wieder vergaß, ob es Söhne oder Töchter waren. »Der Älteste lernt gut!«, sagte der Kapellmeister. »Wird wohl auch Musiker?«, fragte Herr von Trotta mit leiser Geringschätzung. »Nein!«, erwiderte Herr Nechwal, »noch ein Jahr, und er kommt in die Kadettenschule.« »Ah, Offizier!«, sagte der Bezirkshauptmann. »Das ist richtig. Infanterie?« Herr Nechwal lächelte: »Natürlich! Er ist tüchtig. Vielleicht kommt er einmal in den Stab.« »Gewiß, gewiß!«, sagte der Bezirkshauptmann. »Man hat derlei schon erlebt!« Eine Woche später hatte er alles vergessen. Man merkte sich nicht die Kinder des Kapellmeisters.
Herr Nechwal trank zwei kleine Tassen Kaffee, nicht mehr, nicht weniger. Mit Bedauern zerdrückte er das letzte Drittel der Virginier. Er mußte gehen, man schied nicht mit rauchender Zigarre. »Es war heute ganz besonders großartig. Empfehlen Sie mich Ihrer Frau Gemahlin. Ich hatte leider noch nicht das Vergnügen!«, sagte Herr von Trotta und Sipolje. Carl Joseph schlug die Hacken zusammen. Er begleitete den Kapellmeister bis zum ersten Absatz der Treppe. Dann kehrte er ins Herrenzimmer zurück. Er stellte sich vor dem Vater auf und sagte: »Ich gehe spazieren, Papa!« »Recht, recht! Gute Erholung!«, sagte Herr von Trotta und winkte mit der Hand.
Carl Joseph ging. Er gedachte, langsam spazierenzugehen, er wollte schlendern, seinen Füßen beweisen, daß sie Ferien hatten. Es riß ihn zusammen, wie man beim Militär sagte, als er dem ersten Soldaten begegnete. Er begann zu marschieren. Er erreichte die Stadtgrenze, das große gelbe Finanzamt, das gemächlich in der Sonne briet. Der süße Duft der Felder schlug ihm entgegen, der schmetternde Gesang der Lerchen. Den blauen Horizont begrenzten im Westen graublaue Hügel, die ersten dörflichen Hütten mit Schindel- und Strohdächern traten auf, Geflügelstimmen stießen wie Fanfaren in die sommerliche Stille. Das Land schlief, eingehüllt in Tag und Helligkeit.
Hinter dem Bahndamm stand das Gendarmeriekommando, das ein Wachtmeister führte. Carl Joseph kannte ihn, den Wachtmeister Slama. Er beschloß anzuklopfen. Er betrat die brütende Veranda, klopfte, zog am Klingeldraht, niemand meldete sich. Ein Fenster ging auf. Frau Slama beugte sich über die Geranien und rief: »Wer dort?« Sie erblickte den kleinen Trotta und sagte: »Sofort!« Sie machte die Flurtür auf, es roch kühl und ein wenig nach Parfüm. Frau Slama hatte einen Tropfen Wohlgeruch auf das Kleid getupft. Carl Joseph dachte an die Wiener Nachtlokale. Er sagte: »Der Wachtmeister ist nicht da?« »Dienst hat er, Herr von Trotta!«, erwiderte die Frau. »Treten Sie nur ein!«
Jetzt saß Carl Joseph im Salon der Slamas. Es war ein rötliches, niedriges Zimmer, sehr kühl, man saß wie in einem Eisschrank, die hohen Lehnen der gepolsterten Sessel bestanden aus braun gebeiztem Schnitzwerk und Blättergerank, das dem Rücken weh tat. Frau Slama holte kühle Limonaden, sie trank zierliche Schlückchen, hielt den kleinen Finger gespreizt und ein Bein übers andere geschlagen. Sie saß neben Carl Joseph und ihm zugewandt und wippte mit einem Fuß, der in einem rotsamtenen Pantoffel gefangen war, nackt, ohne Strumpf. Carl Joseph sah auf den Fuß, dann auf die Limonade. Frau Slama sah er nicht ins Gesicht. Seine Mütze lag auf den Knien, die Knie hielt er steif, aufrecht saß er vor der Limonade, als wäre es eine Dienstobliegenheit, sie zu trinken. »Waren lange nicht da, Herr von Trotta!«, sagte die Frau Wachtmeister. »Sind recht groß geworden! Schon vierzehn vorbei?« »Jawohl, schon lange!« Er dachte daran, möglichst schnell das Haus zu verlassen. Die Limonade mußte man in einem Zug austrinken und eine schöne Verbeugung machen und den Mann grüßen lassen und weggehen. Er sah hilflos auf die Limonade, man wurde nicht mit ihr fertig. Frau Slama schüttete nach. Sie brachte Zigaretten. Rauchen war verboten. Sie zündete selbst eine Zigarette an und sog an ihr, nachlässig, mit geblähten Nasenflügeln, und wippte mit dem Fuß. Plötzlich nahm sie, ohne ein Wort, die Mütze von seinen Knien und legte sie auf den Tisch. Dann steckte sie ihm ihre Zigarette in den Mund, ihre Hand duftete nach Rauch und Kölnisch Wasser, der helle Ärmel ihres sommerlich geblümten Kleides schimmerte vor seinen Augen. Er rauchte höflich die Zigarette weiter, an deren Mundstück noch die Feuchtigkeit ihrer Lippen lag, und sah auf die Limonade. Frau Slama steckte die Zigarette wieder zwischen die Zähne und stellte sich hinter Carl Joseph. Er hatte Angst, sich umzuwenden. Auf einmal lagen ihre beiden schimmernden Ärmel an seinem Hals, und ihr Gesicht lastete auf seinen Haaren. Er rührte sich nicht. Aber sein Herz klopfte laut, ein großer Sturm brach in ihm aus, krampfhaft zurückgehalten vom erstarrten Körper und den festen Knöpfen der Uniform. »Komm!«, flüsterte Frau Slama. Sie setzte sich auf seinen Schoß, küßte ihn flugs und machte schelmische Augen. Von ungefähr fiel ein blondes Büschel Haare in ihre Stirn, sie schielte hinauf und versuchte, es mit gespitzten Lippen wegzublasen. Er begann, ihr Gewicht auf seinen Beinen zu fühlen, gleichzeitig durchströmte ihn neue Kraft und spannte seine Muskeln im Schenkel und in den Armen. Er umschlang die Frau und fühlte die weiche Kühle ihrer Brust durch das harte Tuch der Uniform. Ein leises Kichern brach aus ihrer Kehle, es war ein wenig wie Schluchzen und etwas wie Trillern, Tränen standen in ihren Augen. Dann lehnte sie sich zurück und begann, mit zärtlicher Genauigkeit einen Knopf der Uniform nach dem andern zu lösen. Sie legte eine kühle, zarte Hand auf seine Brust, küßte seinen Mund lange, mit systematischem Genuß, und erhob sich plötzlich, als hätte sie irgendein Geräusch aufgeschreckt. Er sprang sofort auf, sie lächelte und zog ihn langsam, rückwärts schreitend, mit beiden ausgestreckten Händen und den Kopf zurückgeworfen, ein Leuchten im Gesicht, zur Tür, die sie von rückwärts mit dem Fuß aufstieß. Sie glitten ins Schlafzimmer. Wie ein ohnmächtig Gefesselter sah er zwischen halb geschlossenen Lidern, daß sie ihn entkleidete, langsam, gründlich und mütterlich. Mit einigem Entsetzen bemerkte er, wie Stück um Stück seiner Paradekleidung schlaff auf die Erde sank, er hörte den dumpfen Fall seiner Schuhe und fühlte sofort an seinem Fuß die Hand der Frau Slama. Von unten her stieg eine neue Welle von Wärme und Kühle bis an seine Brust. Er ließ sich fallen. Er empfing die Frau wie eine weiche, große Welle aus Wonne, Feuer und Wasser.
Er erwachte. Frau Slama stand vor ihm, hielt ihm Stück um Stück seiner Kleidung entgegen; er begann, sich hastig anzuziehen. Sie lief in den Salon, brachte ihm Handschuhe und Mütze. Sie rückte an seinem Rock, er fühlte ihre ständigen Blicke auf seinem Gesicht, aber er vermied es, sie anzuschauen. Er schlug die Absätze aneinander, daß es knallte, drückte der Frau die Hand, sah aber hartnäckig auf ihre rechte Schulter und ging.
Von einem Turm schlug es sieben. Die Sonne näherte sich den Hügeln, die jetzt blau waren wie der Himmel und von Wolken kaum zu unterscheiden. Von den Bäumen am Wegrand strömte süßer Duft. Der Abendwind kämmte die kleinen Gräser der Wiesenhänge zu beiden Seiten der Straße; man sah, wie sie sich zitternd wellten unter seiner unsichtbaren, leisen und breiten Hand. In fernen Sümpfen begannen die Frösche zu quaken. Aus dem offenen Fenster eines knallgelben Vorstadthäuschens sah eine junge Frau in die leere Straße. Obwohl Carl Joseph sie nie gesehen hatte, grüßte er sie, stramm und voller Ehrfurcht. Sie nickte etwas befremdet und dankbar. Es war ihm, als hätte er jetzt erst Frau Slama zum Abschied gegrüßt. Wie ein Grenzposten zwischen der Liebe und dem Leben stand die fremde, vertraute Frau am Fenster. Nachdem er sie gegrüßt hatte, fühlte er sich wieder der Welt zurückgegeben. Er schritt schnell aus. Schlag dreiviertel acht war er zu Hause und meldete seinem Vater die Rückkehr, blaß, kurz und entschlossen, wie es sich für Männer geziemt.
Der