C'est la vie. Christina Geiselhart

C'est la vie - Christina Geiselhart


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Haar nach allen Himmelsrichtungen. Es fiel ihr schwer, Freundschaften zu schließen, weshalb sie froh über Erika war, die sich rührend um sie kümmerte.

      Wie die meisten Mädchen ihrer Klasse trug Erika ihr Haar sorgfältig zu einem Zopf geflochten. Hin und wieder konnten es zwei Zöpfe sein und löste sie diese dann auf, fiel ihr Haar wunderschön gelockt bis zur Taille. In solchen Momenten kämpfte Renate mit ihrem Neid. Denn sie wollte keinesfalls neidisch sein. Sie hätte Erika ja um fast alles beneiden müssen. Erikas Haut war immer leicht gebräunt, ihre Augen strahlend blau, ihr Gesicht herzförmig, ihre Zähne gleichmäßig. Bald wurde sie zur guten Freundin und besuchte Renate jeden Tag im alten Haus am Ende der Kleinstadt, in das ihre Eltern in den ersten Monaten des Jahres 1982 gezogen waren.

      Renates Eltern waren stille Menschen. Seit ihrem Umzug führten sie die Buchhandlung und das Schreibwarengeschäft im Ort. Sie verkauften Zeitschriften, Schreibutensilien, empfahlen Bücher, beschränkten sich dabei aber auf das dafür notwendige Vokabular. Sofort nach Ladenschluss eilten sie nach Hause, jeder in sein Zimmer, und verkrochen sich hinter Büchern und Schriften. Renates Mutter, Frau Groß, besorgte ihre Einkäufe in den Morgenstunden, während ihr Mann schon im Laden stand.

      Frau Groß hatte wenig von einer Großstädterin, obwohl sie in Bonn aufgewachsen war. Sie trug das schwere dunkle Haar mit einer kräftigen Spange im Nacken gebunden, stets Kostüme in unterschiedlichen blassen Farben, flache Schuhe, einen goldenen Ehering und winzige Perlohrringe. Eine flüchtige Ähnlichkeit mit Simone Veil war zu erkennen. Dies war Absicht. Frau Emilie Groß verehrte Simone Veil, auch ihr Gatte, ein bebrillter schüchterner Mann mit hellen dünnen Haaren, war voller Bewunderung für die französische Politikerin. Die Eheleute verehrten auch Marthe Argerich, die geniale Pianistin, sowie Frida Kahlo und Simone de Beauvoir. Und insgeheim beneideten sie diese Künstler um ihren Ruhm und hätten es gerne nur annähernd so weit gebracht. Vermutlich mangelte es ihnen an Talent, vielleicht auch an Durchhaltevermögen, Gelegenheit oder Glück. Jedenfalls begnügten sie sich schließlich damit, in diese Welten zu flüchten, statt ihre Träume zu verwirklichen.

      In Bonn hatten sie ein Musikgeschäft betrieben, das Partituren, kleine Instrumente und CDs anbot. Leider lief das Geschäft zunehmend schlecht. CDs verkauften sich noch gut, allerdings waren Partituren und kleine Instrumente nicht mehr gefragt. Das Ehepaar konnte kaum noch die Miete aufbringen, da starb überraschenderweise Herrn Groß’ Vater und vererbte dem Sohn sein Häuschen in Steinnach. Wenig später segnete auch der dortige Buch- und Schreibwarenhändler das Zeitliche und da dieser keine Nachkommen hatte, fackelte das Ehepaar nicht lange, nahm einen Kredit auf, was zur damaligen Zeit noch mit weniger Unannehmlichkeiten verbunden war, und kaufte den Laden. In kurzer Zeit bewährte sich ihre Schreibwarenhandlung und gewann durch den Verkauf und die kompetente Empfehlung interessanter Bücher an Ansehen.

      Darüber vergaßen Herr und Frau Groß allerdings nicht ihre Träume. Und eine Verwirklichung derselben rückte dank der kleinen Tochter Renate in greifbare Nähe. In Bonn hatten sie Renate schon mit Tanz- und Klavierunterricht konfrontiert. Anfangs fand Renate an den Übungen an der Stange noch Gefallen - sie war damals sechs –, doch bald störten sie die Strenge der Lehrerin, das ständige Zurechtrücken ihrer Gliedmaßen, der missbilligende Ausdruck im Gesicht der älteren Tänzerin, wenn sie Renate musterte.

      »Du wirst immer größer. Man könnte meinen, du wächst jeden Tag fünf Zentimeter.«

      Es stellte sich heraus, dass Renate für eine Weiterbildung im Tanz zu dünn und zu lang war. Große Mädchen avancierten nicht zu Spitzentänzerinnen. Sie landeten in Nachtclubs oder Varietétheatern, erfuhr Frau Groß. Davon wollte sie natürlich nichts wissen und fokussierte Renate auf das Klavier. Renate spielte gern und übte täglich, was in Mutter Emilie die Hoffnung nährte, eine geniale Pianistin heranzuziehen. Nach ihrem Umzug erkundigte sie sich dann auch sofort am Konservatorium Stuttgart nach dem besten Lehrer und ließ ihn einmal wöchentlich kommen. Der tat es gern, denn Familie Groß besaß aus der Erbschaft des alten Groß ein Steinway Piano.

      »Renate hat mit vier Jahren angefangen, sie kann es noch zu etwas bringen!«, empfing sie den Lehrer.

      »Es ist löblich, früh anzufangen und auch daran Spaß zu haben. Aber Übung macht den Meister. Zehn Prozent Talent und neunzig Prozent Schweiß, sagen die Kenner und Könner.«

      Daran soll es nicht scheitern, dachte Frau Groß und vergaß in ihrer Vorfreude vollkommen die liebe Freundin Erika.

      Im ersten halben Jahr in Steinnach übte Renate fleißig täglich zwei bis drei Stunden am Klavier. Sie war strebsam, wollte hoch hinaus, hatte aber bald genug von Sonatinen, Sonaten, Etüden und orientierte sich an Konzerten. Das gefiel ihrem Lehrer. Bald brachte er Chopins Nocturne Nummer 20 in cis-moll, bald das Andante des Impromptu Opus 90 von Schubert, dann Beethovens Mondscheinsonate. Begeistert verfolgte er Renates Fortschritte und als sie nach einem Konzert von Chopin lechzte, entschied er sich für das Larghetto aus Chopins Klavierkonzert Nummer 2. Als größte Schwierigkeit erschienen ihm die Triller, die sollte Renate täglich viele Male trainieren.

      Das Mädchen spielte vielversprechend, der Lehrer nickte anerkennend, Frau Groß frohlockte, doch niemand rechnete mit Erika.

      Ab dem Sommer des Jahres 1983 besuchte Erika ihre Schulkameradin Renate einmal die Woche, nach den Sommerferien kam sie schon zweimal. Vom Spätherbst an bis nach Weihnachten allerdings machte sie sich rar, um dann ganz plötzlich im Frühjahr 1984 jeden Tag zu erscheinen. Sie kam immer dann, wenn Renate mit ihren Übungen angefangen hatte. Sie hatte zu Mittag gegessen, ihre Schulaufgaben gemacht, sich sorgfältig die Hände gewaschen und sich an den Steinway gesetzt.

      Nach fünfzehnminütiger Übungszeit klingelte Erika. Frau Groß ging an die Tür, schaute erbost und schickte die Freundin ohne Begründung fort. Wenig später, Frau Groß war mittlerweile zur Arbeit geeilt, klingelte Erika erneut.

      Renate öffnete und sagte, sie müsse üben.

      »Macht nichts, ich warte!«, antwortete Erika.

      Sie wartete zehn Minuten und klingelte von Neuem. »Findest Du nicht, dass es nun reicht, Renate? Du hast fast eine halbe Stunde gespielt. Das ist doch genug. Man soll nicht zu lange an einem Instrument üben, sagt mein Vater, weil man es sonst verabscheut!«

      »Vielleicht hast du recht, aber ich muss eben üben!« Renate lächelte verkrampft.

      »Du Arme, bei dem Wetter hockst du in der Stube. Das ist doch blöde!« Erika machte keine Anstalten, zu gehen.

      Renate zögerte. »Dann warte wenigstens nochmal zehn Minuten.«

      »Gut, aber dann gehe ich. In der Eisdiele gibt es wieder das besonders tolle Stracciatella. Hmmm, so lecker! »

      Renate beeilte sich und arbeitete nur an den ersten zehn Takten des Larghetto von Chopin. Die fielen ihr ohnehin am leichtesten und sie konnte sie heute Abend sorglos den Eltern vorspielen.

      Die Mädchen amüsierten sich in der Eisdiele, deshalb machte Erika ihrer Freundin Renate den Vorschlag, das Treffen am nächsten Tag zu wiederholen. Am übernächsten Tag ebenfalls und am dritten und vierten Tag erneut, doch dann ging Renate das Geld aus. Sie hatte nicht viel in ihrem Sparschwein. Da blitzte in Erika die wunderbare Idee, einen Besuch im Pferdestall einer Klassenkameradin zu machen, die Woche darauf abwechselnd den Tennis– oder Golfspielern zuzuschauen und auch mal ins Kino zu gehen. Dafür benötigten die Mädchen kein Geld, denn Erikas Onkel war dort Platzanweiser und ließ sie umsonst ganz hinten sitzen, sobald der Film begonnen hatte.

      Als Erika nach drei Wochen nicht mehr wusste, womit sie sich nachmittags die Zeit vertreiben könnten, kam sie auf die Idee, Film- und Schlagergrößen nachzuahmen. Sie studierten die Schlager »99 Luftballons«, »Ich hab dich doch lieb«, »Ich will alles« und »Lampenfieber« von Gitte ein, die Erika besonders verehrte. Um Renates Eltern nicht hellhörig zu machen, kleideten sich die Mädchen für ihre Auftritte in Erikas Zuhause um, bastelten Mikrophone und profilierten sich singend auf der Terrasse vor Blumentöpfen, Gießkannen und einzelnen Passanten.

      Auf diese Weise vergingen mehrere Monate des Jahres 1983, dann kam Frau Groß dahinter. Schon einige Zeit schwante ihr Übles, was die Umtriebe ihrer Tochter betraf. Die Rückmeldungen des


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