Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles

Stieg Larsson lebt! - Didier Desmerveilles


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die schlaue Antwort. »Wenn Amalias Liebe zu Karl nun den großen Sprung von der Scheinwelt in die Realität geschafft hat?«

      »Quark!«, schimpfte Tim wenig eloquent.

      »Dann müsste er sie ja vor Liebe umbringen«, warf Kirri ein. »Aber ich glaube, das packt er nicht!«

      »Ich hab' mal von einem Schauspieler gehört, der verrückt geworden sein soll, weil er 'n Irren gespielt hat«, suchte Annette, die Darstellerin der Amalia, aus nachvollziehbaren Gründen das Thema zu wechseln, »in der Verfilmung von Einer flog über das Kuckucksnest.« Doch ganz offensichtlich war nur eine Minderheit an Gesprächen zu Themenfeldern aus Kunst und Kultur interessiert. Die Mehrzahl der Anwesenden hatte sich auf etwas anderes eingeschossen, das sie reizte und lockte, mehr jedenfalls als sachliche Erörterungen zu abstrakten Gegenständen.

      »Und ich sag' dir, Yvonne ist doch in Timmi verknallt!«, beharrte Achim.

      »Mann, das Thema scheint dir ja mächtig unter den Nägeln zu brennen«, konterte Bea. »Am Ende bist du es noch, der in Yvonne verknallt ist, hm? Wohl eifersüchtig, wa'?«

      »Ich?«, rief Achim. Tim war froh, dass er dem Kreuzfeuer entronnen war. »Weibergeplärr! Yvonne! Die ist doch voll unscharf! Wenn schon, will ich 'ne geile Braut, die gut gebaut! Eine mit Holz« – er deutete mit beiden Handflächen auf seinen Brustkorb – »vor der Hütte!«

      »Er nu' wieder!«, protestierte Bea. »Lässt wieder voll den Macho raushängen.«

      »Den Lotterbuben«, berichtigte Bert in Schiller'scher Diktion. »Er hatte ja auch bloß 'ne Dienerrolle. Da hätte ich auch 'n Komplex!«

      »Was für'n Komplex?«, fragte Achim.

      »Meinst du, dass einer wie du große Ansprüche stellen kann?«, knallte Annette ihm ärgerlich vor den Latz. »Bei Timmi könnte ich mir das eventuell ja noch vorstellen, aber bei dir –«

      »Timmi könnt ihr voll vergessen«, ergriff Hasso das Wort, »der ist noch nicht so weit. Der pfeift auf Bräute, geile Bräute, ungeile Bräute – egal. Der würde nicht mal dich nehmen, Bea!« Es fiel Hasso, nebenbei bemerkt, ziemlich auf den Wecker, dass andauernd von Tim gesprochen wurde, selbst wenn dieser sich gar nicht in Szene setzte. In der Tat hielt Tim sich auffallend zurück.

      »Was du nicht sagst«, giftete Bea zurück. »Du kommst dir wohl besonders schlau vor, was, Hasso Hawermann? Nehmen lass ich mich sowieso nicht einfach so, weder von Timmi noch von sonst wem und ganz besonders nicht von dir! Ich glaub', du guckst zu viel Fernsehen!« Etwas rot geworden war sie, ob vor Wut oder Scham, das blieb ihr Geheimnis.

      »Ich finde –«, begann jemand, der die Lage entschärfen wollte, doch Kirri unterbrach ihn: »Also, 'ne richtig geile Braut ist die Blonde von Abba! Die's' ärre!«

      »Hugh! Kirri hat gesprochen!«, mokierte sich Hasso.

      »Die ist viel zu alt für dich«, meinte Bea. »Wenn du zwanzig bist, ist die schon vierzig.«

      »Na und?«

      »Vielleicht könnte es ja auch noch andere Gründe geben, weshalb Kirri und die Blonde von Abba –«

      »Agnetha«, verbesserte Annette, ein begeisterter Abba-Fan. Sie kannte alle Bandmitglieder mit Vor- und Zunamen.

      »– also, weshalb Agnetha und Kirri nicht so besonders gut zusammenpassen«, vollendete Hasso seinen Satz.

      »Genau«, rief Achim mit seinem breiten Mund laut in die Runde. »Was, wenn Agnetha nicht gut kochen kann?« Ein lauter Lacher auf Kirris Kosten.

      »Egal, dafür kann die singen«, meinte Bert.

      »Sicher hat Agnetha auch nichts Besseres zu tun, als für Kirri zu kochen!«, gab Annette zu bedenken.

      »Ich meinte ja auch nur, die 's' 'ne scharfe Braut«, stellte Kirri, von einer Diskussion, die er nie im Leben hatte lostreten wollen, sichtlich überfordert, klar. »Von Heiraten hab' ich nix gesagt.«

      »Aber von 'er Bettkante schubsen würdest du sie auch nicht, oder?«

      »Kommt drauf an, was sie da will«, kam Bea Kirri mit einer schlagfertigen Antwort zuvor. »Vielleicht Märchen vorlesen? Ich schlage vor: Froschkönig...«

      Alle außer Kirri lachten. Er hatte den Witz auch nicht verstanden. Wer sollte da der Frosch sein? Die ausgelassene Stimmung unter den jungen Schauspielern steigerte sich zusehends. Einige der anderen Gäste blickten schon seit geraumer Zeit immer wieder skeptisch zu den Jugendlichen herüber. Deren Heiterkeit tat das keinen Abbruch. Schließlich stiegen diverse Pegel so weit an, dass zotige Geschichten erzählt wurden. Über den reichhaltigsten Zoten-Schatz verfügte Achim. Unumstrittener Höhepunkt innerhalb dieser Sammlung war sein Witz über einen impotenten Ehemann beim Onkel Doktor. Wieder lachten alle bis auf einen. Diesmal war es Tim. Geduldig hatte er sich, um die anderen nicht zu verletzen und nicht als Stimmungstöter dazustehen, deren loses Geschwätz angehört, aber jetzt platzte dem sonst so besonnenen Schüler der Kragen. Entnervt sprang er von seinem Platz auf, zerknüllte seine Serviette und pfefferte sie unter den verblüfften Blicken der anderen Gäste auf den Tisch. Betretenes Schweigen. Nur das Geräusch, das Annettes Eislöffel erzeugte, als er ihr aus der Hand in die Schale zurückfiel, war zu hören. Sie hatte übrigens wirklich eine Schwäche für Tim. Er hatte es nur nie bemerkt.

      »Merkt ihr eigentlich noch was?«, rief Tim erbost. »Merkt ihr eigentlich, was für'n hirnlosen Scheiß ihr da labert, wie... gehirnamputiert sich das alles anhört? Wir feiern hier die erfolgreiche Aufführung des größten Theaterstücks des Sturm und Drang, und ihr... ihr macht alles kaputt! Kaputt! Wie 'ne Elefanten­herde im Porzellan­laden. – Ober, zahlen, getrennt!«

      »Aber Timmi...«

      »Was ist mit deinem Eis?«, fragte Annette verstört.

      »Das könnt ihr mit den übrigen Perlen vor die Säue kippen«, herrschte Tim sie an, zahlte und verließ mit Exerzierplatzschritten das Bellini.

      »Was meint er 'n damit?«, hätte Kirri gern gewusst.

      »Also, das«, versuchte Bea die Sache mit Ironie zu nehmen, »war mit Abstand sein stärkster Theaterauftritt!« Aber die Stimmung war im Eimer.

      4 Kino

      Zwei Tage lang sprach Tim mit seinen beiden besten Freunden nur das Nötigste. Danach renkte sich die Sache wieder ein. Hasso und Kirri war zwar klar geworden, dass er ihnen diesen verdorbenen Tag äußerst übelgenommen hatte, aber den Grund verstanden sie nicht so richtig. In ihrem Alter war es schließlich normal, über bestimmte Dinge zu reden.

      Tim vergaß diesen Tag nie. Es war für ihn ein denkwürdiger, ein historischer Tag, der in seinem Gedanken­tagebuch als »Tag des Sündenfalls« einen herausragenden Platz einnahm. Dieser Ausdruck hatte sich ihm geradezu aufgedrängt. Und vielleicht nahm hier bereits seinen Anfang, was fünf Jahre später dazu führen sollte, dass ihre Wege sich trennten und jeglicher Kontakt abriss. Vielleicht war dieser Sonntag im Mai der Anfang vom Ende ihrer vermeintlich unzerstörbaren Pyramide.

      Tim konnte überhaupt nicht begreifen, wie es möglich gewesen war, dass sich Hasso und Kirri so völlig ohne erkennbare Gegenwehr hatten mitreißen lassen von diesem Strudel loser Reden, dass sie sich sogar hatten hinreißen lassen, in diesen Chor respektloser und verdorbener Schandmäuler, die nichts als Fäulnis verbreiteten, mit einzustimmen, anstatt es ihm gleichzutun und sich in Wort und Tat angewidert davon zu distanzieren, wie es allein angemessen gewesen wäre. Charakterlos erschienen ihm seine Freunde, und in Sünde waren sie gefallen! Und das alles in Gegenwart von Mädchen, von Natur aus zarten und empfindsamen Geschöpfen, denen jedes derbe oder grobe Wort die Schamesröte ins Gesicht treiben musste! Jedenfalls glaubte er das damals. Die Tatsache, dass nicht nur diese Schamesröte ausgeblieben war, sondern die Mädchen sich auch noch weitgehend ungeniert an dem Geschwätz beteiligt hatten, anstatt schreiend oder wenigstens empört den Saal zu verlassen, brachte sein Weltbild zusätzlich ins Wanken. Würdelos war so was.

      Bis zu diesem


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