Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles
Atmosphäre bis auf weiteres vergiftet war. Als er an Tim vorbeiging, der immer noch Bücher aus seinen Koffern herauskramte, fiel diesem bei einem unwillkürlichen Blick auf Hasso ein Buch aus der Hand. Rasch griff Tim danach. Für Hasso hatte die Zeit jedoch gelangt, um den Titel auf dem Buchrücken zu entziffern. Und dazu konnte er nicht schweigen. »Die Bibel?«, fragte er. »Bist du 'n Heiliger?«
»Wenn das hier kein Heiligtum ist, bin ich auch kein Heiliger.«
»Sag bloß, die hast du schon gelesen.«
»Noch nicht«, erwiderte Tim, jetzt nicht mehr ganz so feindselig, »aber ich hab' mir's fest vorgenommen. Ich will nicht sterben, ohne gelesen zu haben, was da drinsteht. Könnte ja wichtig sein.« Hasso hörte gespannt zu. Das war mal was Neues. »Glaubst du, dass du nach deinem Tod wie durch eine Falltür ins Leere fällst und einfach nichts mehr mitkriegst?«, redete Tim weiter.
Da bekam das Eis erste Risse. Endlich jemand, der sich ähnliche Fragen stellte wie er, Hasso, grundlegende Fragen, Fragen, die sich nicht nur auf der Oberfläche bewegten. Endlich jemand, der sich nicht damit begnügte, die Dinge einfach hinzunehmen, sondern der nachdachte und wie er anstrebte, einen Blick hinter die Fassaden des Daseins zu werfen. Endlich jemand, mit dem man reden, diskutieren und nicht bloß ab und zu ein nichtssagendes Schwätzchen halten konnte. »Ist interessant, was du da sagst«, brachte Hasso langsam hervor. »Eigentlich kann man sich ja gar nicht vorstellen, nicht mehr da zu sein und einfach nichts mehr mitzukriegen. Das übersteigt einfach unser... Fassungsvermögen. Ich hab's versucht. Es ist wie mit der Unendlichkeit des Universums. Hast du dir das schon mal vorgestellt? Wenn man sich das mal ganz genau vorzustellen versucht, dann merkt man, dass man das eigentlich gar nicht kann.«
»Oder es wird einem schwindlig.«
»Ja...«
»Weil man als Mensch nur in endlichen Dimensionen denken kann, logisch.«
»Logisch?«
»Auf der ganzen Erde gibt es nichts, das völlig unvergänglich, ewig, unendlich wäre. Selbst die Sandkörner am Strand kommen uns nur unendlich vor, weil wir in unseren Möglichkeiten so begrenzt sind.«
»Und weil wir keine Lust zum Zählen haben«, lachte Hasso.
»Ja, aber ihre Zahl muss endlich sein, weil der Planet Erde nicht unendlich ist.«
»Und doch gibt es das Unendliche«, spann Hasso den Gedanken weiter, »in das die Erde eingebettet ist. Denn wenn das Universum ein Ende hätte, was wäre dann hinter diesem Ende? Irgendwas muss da ja sein. Vielleicht 'n schwarzes Loch?«
»Vielleicht das Himmelreich? Oder Gott?«
»Das erklärt deine Bibel. Aber was kommt hinter dem Himmelreich und Gott? Das muss ja auch irgendwo zu Ende sein, oder?« Tim zuckte mit den Achseln. »Na jedenfalls, wenn dahinter noch was kommt, dann steht man wieder vor dem gleichen Problem wie vorher: Was kommt dann? Und dann? Und dann? So geht das immer weiter.«
»Unendlich«, lachte Tim, und auch Hasso musste lachen. Das Eis war längst zerronnen. »Hast du dir mal vorgestellt, wie das ist, wenn du tot bist?«, fuhr Tim angeregt fort.
»Das ist es ja eben«, meinte Hasso. »Wie soll man sich das vorstellen können? Dass ich selbst es bin, der sich das vorstellt, schließt ja schon aus, dass ich mir eine Welt ohne mich, ohne Ich vorstelle. Man kann genauso gut versuchen, nicht oder nichts zu denken. Das wird auch nicht klappen. Selbst im Schlaf nicht, denn da träumt man, und Träumen kann man verstehen als Denken ohne Bewusstsein. Und selbst im Traum... Kann man träumen, nicht mehr zu existieren, ich meine, überhaupt nicht mehr, auch nicht als Geist oder körperloses Ich?«
»Man kann vielleicht träumen, dass man stirbt, aber dann wird man vermutlich auch träumen, dass man in irgendeiner Form anders weiterlebt.«
»Oder aufwachen. Meistens wacht man ja auf, bevor man im Traum stirbt.«
»Oder man ist wirklich tot«, gab Tim zu bedenken.
»Oder man wechselt einfach das Thema und träumt was anderes. Plötzlich tot zu sein ist ja auch ganz schön beschissen.«
»Ich glaub', ich träume! Was labert ihr da eigentlich, ihr armen Ärren?«, schaltete sich schließlich Kirri in die Unterhaltung ein, der nur halb und halb mitbekommen hatte, worum es dort am andern Ende des großen Schlafsaals ging.
»Das macht man wahrscheinlich automatisch«, fuhr Hasso fort und blieb Kirri in einer spontanen Entente cordiale mit seinem Gegenüber die Antwort schuldig.
»Aber was schließt man jetzt aus diesen Beobachtungen?«, wollte Tim wissen. »Dass der Mensch – seine Seele oder wie man das nennen will – unsterblich ist und dass es Gott gibt? Oder dass man nur dieses eine Leben hat und dass der Tod so furchtbar, ein so furchtbares, endgültiges Nichts und Ende und Aus ist, dass man sich das nicht mal vorstellen kann und dass man deshalb zusehen muss, dass man so viel wie möglich von dem, was einem wichtig und erstrebenswert erscheint, in dieses eine und einzige Leben reinpackt?«
»Gute Frage«, erwiderte Hasso. »Aber ist es überhaupt möglich, darauf eine einzige verbindliche Antwort zu finden? Glaubst du, du findest in der Bibel eine?«
»Die Bibel?«, meldete sich Kirri wieder zu Wort. »Kenn' ich. Ist das nicht die Geschichte vom Latten-Jupp?« Hasso rollte mit den Augen. Sein Blick schien sagen zu wollen: Von Kirri darf man nicht zu viel verlangen.
Solcherart konnten also die Entdeckungen von Dreizehnjährigen sein. Und sie machten noch viele andere. Eines Tages betrat Hasso das Zimmer und rief mit durchdringender Stimme durch den Raum: »So!« Dann fragte er in normaler Tonlage: »Wer ist das?« Er wiederholte: »So! Was 's' los hier?«
»Wille!«, erriet Tim lachend die Lösung. Und Kirri stimmte zu: »Genau!« Es gab in den Reihen der Unterrichtskräfte am Internat einen Lehrer, der jede Unterrichtsstunde, absolut und ohne Ausnahme jede, mit dem schallenden Ausruf: »So!« anstelle eines trivialen: »Guten Morgen!« begann. Er hieß Wille, und die drei Zimmergenossen liebten ihn für diese Angewohnheit. Was auf das obligate So des Geschichtslehrers folgte, war durchaus variabel: »So! Was 's' los hier?« – »So! Mal Ruhe hier!« – »So! Macht mal die Fenster auf!« – »So! Macht mal die Fenster zu!« So oder so ähnlich tönte es zu Beginn jeder Wille-Stunde, und Hassos Parodie war vollauf gelungen. Bald waren andere Lehrer mit ihren komischen Eigenarten, typischen Gesten oder Sprachfehlern fällig. Deutschlehrer Bräsig zum Beispiel benutzte in jedem Satz drei Mal sozusagen, und Finke, zuständig für Chemie und Biologie, dehnte jeden A-Umlaut, bis es klang wie im Mäh eines Schafs. »Ääätschibääätsch. Wer Häääme sääät, soll Häääme ernten. Schääämt euch!« Und natürlich war vor allen Dingen der Kunikowski-Skandal eine nie versiegende Quelle der Inspiration. In vielfältigen Variationen stellten die Freunde alle denkbaren Gespräche und Begegnungen rund um den in Ungnade gefallenen Religionslehrer nach. So etwa ließ Tim mit erhöhter Stimme die Schulsekretärin Boberts, unter Schülern besser bekannt als Boby-Baby, den nicht mehr Unbescholtenen zu einer Dringlichkeitssitzung laden mit den Worten: »Herr Kunikowski, der Herr Direktor möchte Sie in seinem Büro sprechen. Er lässt Sie vorab wissen, dass sein Bedarf an Toilettenartikeln für den Moment gedeckt ist.« Anschließend imitierte Hasso überzeugend den unerlässlichen Wutanfall von Oberstudiendirektor Dr. Weber: »Ich fahr mit Ihnen so doll Schlitten, dass Ihnen Hören und Sehen vergeht, Sie Null!«
Bei all diesen komödiantischen Einlagen, die stets den Beifall eines rasch anwachsenden Publikums hervorriefen, erwies sich Hasso zwar als der lustigere Imitator, Tim jedoch als der genauere Beobachter. Zusammen ergaben sie ein Comedy-Team, über das die ganze Klasse lachte, und zwar selbst dann noch, wenn einer der Imitierten leibhaftig das Klassenzimmer betrat und völlig irritiert nach den Gründen der ungewohnten Heiterkeit um ihn herum forschte. Das konnte die Sache nämlich zu einem noch größeren Spaß werden lassen.
Eines Morgens kam Wille mit seinem gewohnten »So!« in die Klasse und löste damit einen Orkan lauten Gelächters aus, der sich zum Tornado steigerte, als er darauf mit einem: »So! Was ist denn jetzt los?« reagierte. Wille stand vor einem Rätsel und sagte lieber erst mal gar nichts mehr. Bräsig