Stieg Larsson lebt!. Didier Desmerveilles
Tabakladen
Still lag Kruses Tabakladen im winterlich-trüben Licht des Vormittags. Eher schmucklos, trat das alte und unmoderne Geschäft zwischen den auf weihnachtlichen Hochglanz polierten übrigen Geschäften der belebten Hauptstraße kaum in Erscheinung, zumal eine alte Linde am Rand des Bürgersteigs den Blick darauf zusätzlich versperrte. Edelgard Kruse, eine etwas untersetzte Dame mit trotz ihres Alters noch in keiner Weise ergrautem, dunklem Haar, hatte nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemannes vor über zehn Jahren beschlossen, den Laden bis zum Erreichen des Rentenalters – nunmehr noch zwei Jahre – alleine weiterzuführen, doch dies erwies sich gerade in jüngster Zeit als immer schwerere Aufgabe. Das Geschäft ging schlecht. Langsam starben ihm die Kunden weg, zumeist Zigarre rauchende und Tabak kauende Veteranen der letzten beiden Weltkriege, die nichts mehr umhauen zu können schien; doch der Schein trog. Die Leuchtreklame an der ungepflegten Fassade, auf der neben dem Namen des verstorbenen Inhabers Kruse in Schreibschrift der einer Zigarrenmarke namens Rössli prangte, wobei das I von einer brennenden Zigarre mit der glimmenden Asche als I-Punkt verkörpert wurde, leuchtete des Nachts schon lange nicht mehr. Und es hätte auch wenig Sinn gehabt, sie zum Leuchten zu bringen, denn wer kennt heute noch die Firma Rössli? Auch ihr waren die Kunden nämlich längst weggestorben – als wollten sie der Warnung des Bundesgesundheitsministers, die heute auf jeder Packung steht, posthum einen Sinn geben. In den gemeinsamen Tagen von Edelgard und Walter Kruse hatte es solche gut gemeinten Ratschläge noch nicht gegeben. Nun aber ging das Geschäft, wie gesagt, schlecht. Man hätte renovieren müssen, doch das lohnte sich nicht mehr. Die verstaubten Zigarrenkisten auf dem Hintergrund grauer Gardinen in den zwei Schaufenstern links und rechts von der grün gerahmten Ladentür, die hinter ihrem Glas ebenfalls graue Gardinen aufwies, vermochten eine potentielle Kundenschar aus der nachwachsenden Generation nicht mehr in ihren Bann zu ziehen. Für diese war die neue Videothek zwei Häuser weiter eher ein Blickfang.
Aber es gab Ausnahmen. Hin und wieder verirrten sich doch ein paar Halbwüchsige in Kruses Tabakladen. Das war schon immer so gewesen. Es war freilich nicht der Duft von Tabak, der die meisten von ihnen anlockte, sondern mehr ein Anflug kindlicher Pyromanie, wie sie alljährlich um die Silvesterzeit unter Schülern – Schülerinnen selbstverständlich ausgenommen – besonders weit verbreitet und nicht unerheblich ausgeprägt ist. Ja, zu dem reichen Sortiment hinter Edelgard Kruses Ladentheke gehörten – zur Silvesterzeit – notgedrungen auch alle erdenklichen Arten von Feuerwerkskörpern: Knaller, Böller, Raketen und andere explosive Überraschungen. Einige harmlose Artikel dieser Art hielt Frau Kruse sogar das ganze Jahr über vorrätig. Hier sind vor allem die papiernen Ufo-Attrappen mit einem Durchmesser von maximal fünf Zentimetern und einem das Ufo-Deck darstellenden Etikett zu nennen, unter dem ein Drahtgestell mit einer Schwarzpulverdüse einschließlich einer kurzen Lunte verborgen war. Wenn man die anzündete, flutschte dieses Ding aus einer scheinbar anderen Welt, das eindeutig den Abenteuern des Raumschiffs Enterprise nachempfunden war, in sieben von zehn Fällen zirka zehn Sekunden lang durch Raum und Zeit, ehe es verkohlt aus seiner Flugbahn fiel, wie von einem Klingonenkreuzer tödlich getroffen. In den anderen drei Fällen zischte die Antriebsdüse und sprühte mächtig Funken – ebenfalls für die Dauer von rund zehn Sekunden –, bewegte das Ufo dabei allerdings nicht einen Zentimeter von der Stelle. Es handelte sich um so genannte Blindgänger. Bei einem Verkaufspreis von unter einer Mark pro Ufo konnte man aber schon mal so einen Blindgänger verkraften, auch wenn's das spärlich bemessene Taschengeld eines Zwölf- bis Dreizehnjährigen war, das dabei draufging. Das war nämlich jahrelang das Durchschnittsalter der Hauptabnehmer dieser gut identifizierbaren Flugobjekte gewesen. Doch es kann und darf nicht verschwiegen werden: Sorgen hatten Edelgard Kruse angesichts dieser begeisterten, aber eben minderjährigen Klientel lange Zeit geplagt. Wie die Geier hatten sie sich damals, zu Spitzenzeiten, mindestens ein Mal pro Woche in einer Gruppe von drei bis fünf Leuten in ihren Laden und auf die Ufos gestürzt. Einerseits war ihr natürlich jeder Umsatz willkommen, vor allem im Falle einer so gewaltigen Gewinnspanne wie bei diesen Ufos. Andererseits gab es da diese Vorschrift bezüglich des Verkaufs von Feuerwerkskörpern an Jugendliche unter achtzehn Jahren. Und jene ebenso harmlosen wie begehrten Ufos fielen nun einmal in keine andere als die Produktgruppe Feuerwerkskörper, so unbedenklich sie ihres Erachtens auch sein mochten. An Paragrafen konnte man nicht rütteln. Ach, das Leben war doch voller Fallstricke und stellte einen immer wieder auf die Probe. Wer konnte da schon immer anständig bleiben? Edelgard gab also die Ufos in die begierigen Hände der zahlenden Minderjährigen ab und steigerte so ihren Monatsumsatz. Niemals aber ließ sie die leise, aber klar vernehmbare und nie verstummende Stimme ihres Gewissens damit so recht zu Seelenfrieden finden, und nachdem sie eines Abends – es muss wohl im Dezember gewesen sein – im Fernsehen eine Ausgabe des Gesundheitsmagazins Praxis mit Hans Mohl verfolgt hatte, in der über tragische Unfälle von Kindern im schulpflichtigen Alter auf Grund unsachgemäßen Umgangs mit Feuerwerkskörpern berichtet wurde, nachdem sie Bilder von verbrannten Kinderhänden und -gesichtern und von erblindeten Halbwüchsigen gesehen hatte, die ihr des Nachts als alptraumhaft entstellte, anklagende Fratzen von lebenden Mumien wiederbegegnet waren, da stand ihr Entschluss, einen radikalen Schlussstrich unter diese ihre halblegale Praxis zu ziehen, ein für allemal fest.
Zwei Tage später sah sie sich den fragenden, zweifelnden, enttäuschten, aber auch künftig unversehrten Gesichtern ihrer Stammkunden auf der anderen Seite des Ladentisches gegenüber. Ihr Entschluss war unverrückbar. Eisern wies sie alles Bitten und Flehen mit einem resoluten Kopfschütteln zurück. Es gab keine faulen Kompromisse mehr.
Ihr Umsatz an Ufos war seit damals sprunghaft zurückgegangen. Drei Jahre mochten seither vergangen sein, vielleicht auch vier. Und nun saß Edelgard Kruse also an diesem Wintermorgen eine Woche vor Weihnachten missmutig auf dem gepolsterten Stuhl hinter ihrer Theke, harrte ihrer spärlichen Kundschaft und sagte sich: »Zwei Jahre noch, dann ist Feierabend.« Gegen halb zehn kamen plötzlich drei merkwürdige jugendliche Gestalten hereingeschneit, buchstäblich, denn durch die aufgerissene Ladentür wehte der Wind ein paar von den Schneeflocken mit herein, die seit ein paar Minuten leise vom bewölkten Himmel herabrieselten. Andere fielen von den Winterjacken der Eintretenden auf den uralten Holzfußboden in Kruses Tabakladen. Mit Unwillen dachte Edelgard an die durch solches Wetter am Ende eines Geschäftstages vervielfachte Reinigungsarbeit. Dann aber galt ihre Aufmerksamkeit den seltsamen Kunden. Hatte sie diese Gesichter nicht schon mal gesehen? Sie konnte sich nicht erinnern. Die Jugendlichen mochten so um die fünfzehn Jahre alt sein. Zwei von ihnen trugen offenbar weiße Kittel unter ihren Jacken. In ihrer Mitte stand auf etwas wackeligen Beinen ein dunkelhaariger Junge in ziviler Kleidung, dessen Erscheinung sie auf unbestimmte Weise beunruhigte. Es war etwas in seinem Blick, das nicht stimmte. Seine Augen waren weit aufgerissen, blickten starr und stupide, zwischendurch zwinkerten sie nervös. Und sein Mund! Eine amorphe Öffnung, eigenartig verzerrt, mit einem weit vorstehenden Unterkiefer. Den Kopf hielt der Junge die ganze Zeit sonderbar schräg. Überhaupt schien er kein bewegliches Organ recht kontrollieren zu können. Ein... Irrer? Hoffentlich kein Irrer, dachte Edelgard Kruse, die in ihrem langen Geschäftsleben schon so manche Kuriosität erlebt hatte. Offenbar gegen den Willen der anderen beiden, von denen einer, der größere, ihn vergeblich zurückzuhalten versuchte, trat der Irre forsch zu ihr an die Theke. »Ich will 'ne rote Silvesterrakete!«, gab er mit Nachdruck zu verstehen, obwohl er beim Sprechen die Zähne von Ober- und Unterkiefer keinen Millimeter auseinanderbekam.
Oh Gott, dachte Edelgard. Vor Jahren war sie zum bisher letzten Mal einem Verrückten in ihrem Laden gegenübergestanden. Unwillkürlich fiel ihr die Geschichte ein. Der Verrückte hatte darauf bestanden, verschiedene Zigarrenmarken zu probieren. Er hatte gegen ihren Willen fünf Zigarren aus fünf verschiedenen Schachteln herausgenommen, sie sich alle zusammen in den Mund gestopft und angezündet. Noch heute sah sie das Gesicht mit den fünf qualmenden Zigarren vor sich. Edelgard hatte draußen um Hilfe gerufen, und als man ihn entfernen wollte, hatte der Zigarrenirre, wie sie ihn später immer nannte, zu randalieren begonnen und zahllose Tabakwaren vom Regal gerissen. Man war als Geschäftsfrau solchen Situationen einfach hilflos ausgeliefert.
Nun traten auch die anderen beiden jungen Männer vor, und der links Stehende, ein großer, kräftiger Bursche mit kurz geschorenem, mittelblondem, pomadigem Haar und kalten, stahlblauen, eng zusammenliegenden Augen, richtete das Wort an die Ladeninhaberin, die sich, Böses ahnend, hinter ihrer Theke erhoben hatte. »Entschuldigen