Diez Hermanas. Georg Vetten
'Ramones'. Darunter schauen die langen Beine im naturbraunen Teint der Südländerin hervor. Sie wirft einen Blick auf den Digitalwecker und legt einen Zahn zu, indem sie mit dem Hoover in die Ecken kurvt. Die weiße Schlafcouch ist drapiert mit wahllos verstreuten Klamotten. Über dem Flachbildschirm hängt ein BH und in der Spüle stapelt sich das schmutzige Geschirr der letzten beiden Tage.
Sibel hatte sich ein wenig gehen lassen.
Drei freie Tage am Stück sind ein Traum, murmelte sie entspannt. In einer Stunde würden die Jungs auftauchen. Sibel hatte sie zum Essen eingeladen und lange überlegt, was sie auftischen würde. Schließlich war sie Vegetarierin. Zwei Monate hatte sie überdies vegan gelebt; am Ende jedoch festgestellt, dass der Verzicht auf Milchprodukte für sie nicht in Frage kam. Sie entschloss sich schließlich dazu, Spaghetti mit Pinien Pesto sowie einen Waldorfsalat aufzutischen. Nudeln gehen immer, dachte sie und schaute auf die Uhr. Es wird Zeit, und unter die Dusche muss ich auch noch, stöhnte sie.
Steve trug Schuld, dass sie in Zeitnot geraten war. Ihm war nach einem Schwätzchen und er wollte partout nicht auflegen. Wir sehen uns später, hatte Sibel ihn schließlich nach fünfzehn Minuten abgewürgt.
Verrückt, mit Steve hatte sie telefoniert, doch ihre Gedanken waren bei Mikel. Sibels Blick verdunkelte sich, als das Telefon erneut läutete. Verdammt, was ist denn heute los, fluchte sie und nahm das Gespräch an.
»Hi hier ist Bob! Bist du das Sibel?«
»Wer sonst«, antwortete Sibel eine Spur zu schroff.
Bob war ein junger Kollege aus der psychiatrischen Anstalt. Er hatte sie noch nie zu Hause angerufen.
»Können wir uns treffen, Sibel?« Seine Stimme klang gehetzt.
»Was ist los?«
»Nicht am Telefon!«
»Hmmmm... Stichwort?«
»Löwenherz!«
Sibel verspürte eine aufkommende Unruhe.
»Ist es wichtig?«, fragte sie mit angehaltenem Atem.
»Sehr!«
»Gut, dann komm vorbei.«
Puuuuhhh, drei Jungs auf einmal, stöhnte Sibel, als sie auflegte. Macht nix, es gibt Schlimmeres, murmelte sie. Drei knackige Jungs zum Dinner, was will Frau mehr, grinste sie. Zeitgleich fühlte sie jedoch ein verräterisches Kribbeln in der Magengegend. Bobs innere Unruhe war auf sie über gesprungen.
Sibel sah atemberaubend aus, als sie den Jungs die Tür öffnete. Sie hatte ihren Körper eingeölt. Ihre Haut schimmerte bronzefarben. Das Tank-Top saß knapp und der seitliche Ansatz ihrer Brüste war unschwer zu übersehen. Steve schluckte.
»Hier, bester Chianti, meinte zumindest der Typ im Supermarkt«, schmunzelte er, drückte ihr den Karton in die Hand und küsste ihre Wangen.
»Schön, dass ihr da seid.« Indem sie das sagte, nahm sie auch Mikel in die Arme. Vielleicht eine Spur zu heftig?, schoss es ihr durch den Kopf.
»Das Essen ist gleich fertig. Und wir bekommen später noch Gesellschaft. Bob hat sich angesagt.«
»Wer is'n das?«, fragte Steve ein wenig erstaunt.
»Ach, mein neuer Lover, wisst ihr. Er wollte euch kennenlernen«, flunkerte Sibel und werkelte so geschäftig am Herd, dass die schätzungsweise zehn silbernen Armreifen, die ihr rechtes Handgelenk zierten, laut klimperten.
Es schien, als würde den Jungs für einen kurzen Moment alles aus dem Gesicht fallen. Sibel grinste:
»Nur ein Kollege. Es gibt wohl irgendwelche Probleme auf der Station. Ihr dürft Musik auflegen. Drüben liegen die CDs (Sibel deutete auf ein chinesisch anmutende Sideboard).« Zehn Minuten später, als John Cooper Clarkes ‚Night People‘ aus den Boxen waberte, servierte Sibel die Pasta. Mit einer flüssigen Bewegung ließ sich im Schneidersitz auf den abgewetzten Flokati nieder und goss Wein ein. Amüsiert beobachtete sie Mikel, der offensichtlich zu steif war, seine Glieder im Schneidesitz zu sortieren.
Nachdem er zwei Mal gegen die Tischbeine gestoßen und dabei fast den gesamten Rotwein verschüttet hatte, kniete er schließlich mit einem Murren nieder.
»Aus dir wird nie ein Yogi«, feixt Steve – und im gleichen Moment: »Hey, hier ist ja gar kein Fleisch drin.«
»Hab‘ ich‘s dir nicht gesagt, Sibel ist Vegetarierin«, schmunzelte Mikel.
»Warum um alles in der Welt, bist du Vegetarierin? Was hast du davon?« fragte Steve mit erstauntem Blick.
»Das musst du global sehen«, schmunzelte Sibel. »Um Fleisch zu produzieren, benötigst du Unmengen an Wasser um riesige Monokulturen hochzuziehen, mit deren Erträgen die Nutztiere gefüttert werden. Um die Monokulturen zu entwickeln, benötigst du wiederum Unmengen an Pestiziden. Die hingegen sind wieder sehr schädlich für das Grundwasser. Die Gifte gelangen obendrein ins Fleisch und somit in den menschlichen Kreislauf.
Darüber hinaus furzen die Rinder Methanlöcher in die Ozonschicht, was wiederum Ursache für die Klimaerwärmung ist.«
»Ich dachte ja nur an ein bisschen Schinken«, wehrte sich Steve.
»Die Energieverschwendung innerhalb der gesamten Produktionskette ist unglaublich. Die Produktion von einem Kilo Rindfleisch verursacht 36 Kilogramm Kohledioxid. Das ist so, als würdest du 250 Kilometer mit dem Auto zurücklegen. Und warst du schon mal auf einer Geflügelfarm oder hast dir angeschaut, wie Schweine gehalten und mit Unmengen von Antibiotika vollgepumpt werden – ich meine nur mal so vom ethischen und gesundheitlichen Standpunkt aus«, ereiferte sich Sibel und bot ihrem eigenen Redefluss schließlich mit einer gebieterischen Geste Einhalt:
»Schluss jetzt! Essen! Ich will die Pasta in Frieden genießen – schlemmen, trinken, lachen. Okay?«
»Na, wenn du Ansagen machst«, grinste Steve. »Wer wagt da schon, zu widersprechen?«
Als die zweite Flasche entkorkt wurde, machten es sich die Drei auf dem Boden bequem. Steve schaute sich um und erblickte einen Stapel feministischer Magazine. Kopfschüttelnd blätterte er eine Weile die Seiten durch. Sibel beobachtete ihn amüsiert und grinste, während sie Wein nachschenkte:
»Nein, ich bin keine Lesbe, auch wenn ich mich für die Rechte der Frauen einsetze. Vor einem Jahr war ich allerdings radikaler, habe mich in Gruppen engagiert. Doch irgendwann wurde mir der ganze Kram zu ideologisch«, erklärte sie und zuckte dabei ihre nackten Schultern.
Mikel bestaunte derweil die Unterwasserfotos, die nahezu die komplette Stirnwand einnahmen: Motive mit Muränen, Haien, Rochen, Schildkröten, Schiffwracks, bizarre Ansichten von Krustentieren – und Sibel als Taucherin.
»Darauf bin ich ein bisschen stolz«, lächelte Sibel.
»Hast du die etwa selbst geschossen?«
»Japp! Ich tauche seit meinem zwölften Lebensjahr. Eine große Leidenschaft.« Sibel zwinkerte ihm zu.
»Und mich interessiert, was diese ganzen Aktenordner zu bedeuten haben?« Steve musterte Sibel voller Neugier. »Klar, so ungefähr haben wir eine Ahnung. Ich meine, was du da über Verschwörungen sammelst. Ist das dein Hobby?«
»Hobby?«, schnaubte Sibel verächtlich. »Jungs, bevor ich mit euch darüber rede, möchte ich Folgendes klarstellen: Ich bin keine Psychotante! Ich bin nicht meschugge!«
»Und diese Ketten vor der Tür?«, fragte Mikel. »Paranoia?«
Sibel schaute ihn forschend an, schließlich antwortete sie:
»Wer weiß, vielleicht übervorsichtig. Aber Paranoia? Ich weiß nicht. Manchmal habe ich einfach Angst!«
Sibel band ihre schwarze Mähne zum Pferdeschwanz und griff scheinbar wahllos in einen Stapel Papiere.
»In den roten Ordnern finden sich von Menschenhand provozierte Naturkatastrophen. Alles, was ich zusammentragen