Diez Hermanas. Georg Vetten

Diez Hermanas - Georg Vetten


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Individuum schafft. Walter Freeman ließ jedoch auch nach der Einführung von Psychopharmaka und der weitgehenden Ablehnung der irreversiblen operativen Methoden in der Praxis nicht von seiner transorbitalen Lobotomie ab. Sein Wille, die Methode zu verbreiten und Kollegen zu überzeugen, erreichte dabei bizarre Auswüchse: So operierte er vor den Augen zahlreicher Zuschauer sowohl im Fernsehen als auch in Hörsälen Patienten im Akkord (mehrere Dutzend pro Tag). Zeit seines Lebens pries er die Lobotomie als optimale Behandlungsform und operierte bis zu seiner Pensionierung 1962 weiter, insgesamt ca. 3600 Patienten.« *P.R. Breggin: Elektroschock ist keine Therapie, 1989, Urban & Schwarzenberg, S. 175.

      »Und das ist auch heute noch erlaubt?«

      Mikel schien wie vor den Kopf gestoßen.

      »Verboten ist es jedenfalls nicht, so weit ich weiß.« Sibel kaute nervös auf einer Haarsträhne. »Hier steht es: Bei der Lobotomie werden die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Frontlappen sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt – und zwar im Nerotex-Abschnitt. Angewendet zur Schmerzausschaltung, bei Psychosen und Depressionen. Folgen: Persönlichkeitsveränderung mit Störung des Antriebs und der Emotionalität.«

      »Am Hirn herumschnipseln, wo gibt’s denn so was?« Steve verzog angewidert das Gesicht.

      »Das ist ganz normal«, erwiderte Sibel. »Heute macht man das mit Hilfe von Lasern, Ultraschallaspiratoren und Neuronavigationssystemen. Das Laserzielgerät wird dabei am Mikroskop angeschlossen. Setzt man vor allen Dingen bei Gehirntumoren und Hirnblutungen ein. Wie immer kann man diese Methode zu guten Zwecken nutzen oder zu schlechten missbrauchen. Doch eine Lobotomie verheißt meines Erachtens nichts Gutes!«

      Sibel musterte Bob nachdenklich. »Was hat Löwenherz noch gesagt?«

      »Er fantasierte von Manipulationen apokalyptischen Ausmaßes. Auf allen Ebenen haben sie uns bei den Eiern, sagte er wortwörtlich. Auch hier in eurer Klinik sind sie unterwegs. Immer wieder wiederholte er den Begriff Diez Hermanas. Keine Ahnung, was er damit andeuten wollte, oder was es damit auf sich hat.«

      »Hmmm,« Sibel schaute nachdenklich. »Diez Hermanas ist Spanisch und heißt übersetzt zehn Schwestern.«

      »Noch jemand einen Zug?« fragte Steve, der liegend mit dem Kopf unter den Couchtisch abgetaucht war.

      Erneut entstand eine längere Redepause.

      »Sie müssen es sein«, durchbrach schließlich Sibel das Schweigen. Diez Hermanas. Zehn Schwestern. Das Matriarchat lebt. Zustra zieht nach wie vor die Strippen.« Wie ferngesteuert ging ihr Blick zur Tür. »Vielleicht schieben wir auch grundlos Panik.« Mikel hustete, als er den Rauch ausblies. »Wahrscheinlich hat dieser Löwenherz einfach nur Panik. Schaut, er hat sein Gedächtnis zumindest teilweise verloren. Klar, dass der am Rad dreht. Aber diese fixe Idee mit der Lobotomie kann er ja auch einfach so in seinem kranken Hirn erdacht haben.«

      »Sein Hirn ist nicht krank«, stellte Bob tonlos fest.

      »Hat er sonst noch irgendetwas von sich gegeben?« Sibel wurde zunehmen nachdenklicher.

      »Er wollte mir noch etwas zuflüstern. Doch als Paul das Zimmer betrat, verstummte er und schloss im gleichen Augenblick die Augen.«

      »Paul«, murmelte Sibel. »Paul!«

      »Du hast morgen frei. Versuch, den Abend zu genießen«, lächelte Bob, als er sich erhob und seinen roten Zopf band. »Ich melde mich, falls es irgendwelche besonderen Vorkommnisse geben sollte.«

      »Halt ich komme mit«, echote es unter dem Couchtisch hervor. »Ich bin im Eimer. Ich muss ins Bett«. Steve gähnte herzzerreißend und dachte, mit Blick auf Sibel: Mikel hatte recht. Die ist ja komplett hysterisch. Nein, die Braut ist mir zu chaotisch. Nicht meine Kragenweite. Kurve kratzen und weg!

      »Oh großer Aufbruch?« Mikel, der in einen Aktenordner vertieft war, schaute erstaunt auf.

      »Wenn du magst, bleib noch. Ich würde mich freuen.« Sibel legte ihm eine Hand auf die Schulter.

      Nachdem sie die beiden verabschiedet hatte, verriegelte Sibel geräuschvoll die Tür und atmete tief durch. Mikel schaute auf und lächelte:

      »Bin ich jetzt dein Gefangener?«

      »Wenn du willst«, entgegnete Sibel mit rauchiger Stimme. Ist es nicht an der Zeit, mal auf andere Gedanken zu kommen und sich angenehmeren Dingen zu widmen. Dann erschrak sie, unsicher ob sie das nun laut gesagt – oder tatsächlich nur gedacht hatte.

      »Ich öffne noch eine Flasche Wein. Magst du?« fragte sie daher mit Unschuldsmiene.

      Mikel nickte:

      »Gerne.«

      »Oasis?«

      »Klingt gut.«

      »Hatte ganz schön einen sitzen, der Gute«, murmelte Sibel und hockte sich im Schneidersitz neben Mikel.

      »Ganz schön krass, was du zusammengetragen hast. Was treibt dich dazu?« fragte Mikel so mitfühlend wie nur irgend möglich.

      »Lange Geschichte.« Sibel nahm einen tiefen Schluck Wein und fixierte das Poster der Umweltorganisation Save Turtles. »Mit Ausnahme von Liz habe ich noch niemandem in London davon erzählt.«

      Mikel breitete die Arme aus, als wolle er sagen nur zu. Schieß los, ich kann zuhören. Das Werfen des rechten Armes zur Seite kam allerdings eine Spur zu schwungvoll. Ergebnis: Die Schüssel mit Chips hob ab und flog durch die Luft wie eine Rakete beim Start, am Ende des Countdowns.

      »Oh no!«

      »Halb so wild«, grinste Sibel. »Ich werde morgen saugen.«

      »Bekomme mich heute schlecht koordiniert. Sorry, ich bringe das gleich in Ordnung.«

      »Nein, bleib sitzen.« Sibel atmete tief durch. »Ich bin ein wenig vorbelastet durch die Geschichte meiner Ma. Und was ich erzähle, ist keine Spinnerei. Ich bin auch nicht halb so labil, wie das manchmal den Anschein haben mag. Doch die Geschichte rund um diese radikale Sekte ist nicht herbeifantasiert.«

      Sibel brach ab, umfasste ihre Knie und bog den Oberkörper durch. Mikel ertappte sich dabei, wie sein Blick an ihren straffen Brüsten hängen blieb, die durch das Tank-Top nur schwerlich gebändigt wurden. Ein leises Stöhnen und ein verzweifelter Blick signalisierten, wie schwer Sibel die kommenden Sätze fallen würden.

      »Meine Ma war eine Schülerin der Sektenführerin. Sie befand sich also im inneren Zirkel. Früh lernte sie die Regeln des Matriarchats. Eine hieß Unterwerfung des Gegners durch Sex. Darin waren die Mitgliederrinnen wohl spitze.« Ein kleines, gequältes Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln.

      »Und dann?« fragte Mikel mit leiser Stimme.

      »Sie ist geflohen. Sie hat sich an den Hals des Nächstbesten geschmissen und ist mit ihm durchgebrannt. Sie war damals 15 Jahre alt. Diese Geschichte hat mich natürlich sensibilisiert.«

      »Und dann hast du angefangen zu recherchieren?« Mikel deutete fragend auf die Ordner.

      »Nein! Der Auslöser war ein anderer.«

      Sibel schluckte, Tränen traten ihr in die Augen. Ihre Stimme wurde brüchig. Mikel nahm ihre Hand:

      »Lass dir Zeit.«

      Sibel sah ihm tief in die Augen und stöhnte auf:

      »Ich habe in Neuseeland gelebt, das habe ich dir ja schon erzählt. Ich arbeitete mit meinem Freund Jan für die Umweltorganisation Save Turtles. Das schien nicht allen zu gefallen. Irgendwem waren wir im Weg. Frag mich nicht nach den genauen Hintergründen. Ich weiß, dass die Regierung damals Schwierigkeiten mit den Maori hatte. Deren Probleme als unterdrückte Ureinwohner und Minderheit waren natürlich vielschichtig. Unser Ziel war es, den Fang und den Verzehr von Meeresschildkröten zu unterbinden. Damit ging es den Maori gleichwohl an eine weitere Tradition. Für das, was dann allerdings geschah, tragen diese armen Menschen keine Schuld.« Sibel schluckte schwer. »Die hatten damit nichts zu tun, das habe ich recherchiert –


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