Diez Hermanas. Georg Vetten

Diez Hermanas - Georg Vetten


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- 17.4., 2:30

      Großbritannien

      London,

      Royal Nurse Hospital,

       Szene 30

      Innenaufnahme: Abgedunkeltes Pflegezimmer. Lediglich eine schwache Schreibtischlampe wirft ein fahles Licht auf Schränke voller Medikamente.

      »251011M9 wird zum Problem! Was sollen wir tun? Seine Kollegen in Brighton haben herausgefunden, dass er hier ist. Was nun? Exitus?«

      Die Leitung am anderen Ende knackte, dann rauschte es.

      »Nein, zu gefährlich. Zu offensichtlich. Zu viele unnötige Fragen, die unter Umständen Untersuchungen nach sich ziehen. Sprecht von einer schweren Krise, die eine schnelle Lobotomie unumgänglich machte! Danach hält ihn sowieso niemand mehr für zurechnungsfähig. Dann ist er erledigt. Das wird zwar auch unangenehm, aber damit kommen wir durch. Wir halten euch den Rücken frei.«

      

      Sibel plagte währenddessen ein unruhiger Schlaf. Sie träumte von ihrer Mutter Vici.

       VICIS PROLOG

      2008 - 15.10., 20:10

      Rückblende

      Deutschland

      Köln, Spichernstraße

       Niemals hätte ich damit gerechnet, noch einmal ein eigenes Baby im Arm zu halten. Doch nun ist sie da, unsere kleine Fernanda. Na ja, es war Winnis Wunsch, ihr diesen Namen zu geben.

      Wir erleben einen wunderbaren Oktober. Die alten, majestätischen Platanen im Stadtgarten strahlen in herbstlichen Farben. Vor einem Jahr entdeckten wir diesen wundervollen Altbau in der Spichernstraße. Wer hätte gedacht, dass Winni und ich noch einmal zueinanderfinden würden? Unglaublich nach all den Jahren und nach all dem, was sich zugetragen hatte!

      Es war mir nicht leichtgefallen, Sibel im Januar 2006 in London alleine zurückzulassen. Einerseits hatte sie schon lange auf dem Nestrand gehockt. Andererseits war sie nach den Vorkommnissen in Neuseeland und nach Jans Tod in einer jämmerlichen Verfassung. Zu allem Unglück hatte sie sich seit dieser Zeit in den Kopf gesetzt, gegen Zustras Matriarchat vorzugehen. Den Job, in der Klapse, sitze ich auf einer Backe ab, hatte sie mir beim letzten Besuch erzählt. Voller Stolz hatte sie eine Reihe von Ordnern und Festplatten präsentiert: gesammeltes Material! Sibel trug dieses gefährliche Funkeln in den Augen, für das ich einst in meiner eigenen Jugend bekannt, berüchtigt und gefürchtet war.

      Es war im Januar 2006, als ich ohne große Erwartungen nach Köln zurückkehrte. Hört sich das jetzt an, wie nach Hause kommen? Dann habe ich mich falsch ausgedrückt, denn ich war in dieser Stadt nie heimisch gewesen. Ich hatte die gesamte Welt bereist und es gab eine Handvoll Orte, die ich eher als Heimat bezeichnet hätte. Als ich jedoch über die Severinsbrücke fuhr und den Dom erblickte, fühlte sich das vom ersten Moment, richtig an.

      Es war bitterkalt und der Himmel von einem trostlosen Grau. Doch entgegen allen Erwartungen waren die Menschen in prächtiger Stimmung. Sie feierten die fünfte Jahreszeit: Karneval!

      Als mich schließlich nichts mehr in meiner Pension auf der Bonnerstraße hielt, erstand ich ein Piratenkostüm und ließ mich durch die Kneipen und Straßen treiben.

      Plötzlich schunkelte ich mit wildfremden Menschen. Ja, so ist es: Schunkeln ist gut gegen Einsamkeit und Traurigkeit und vertreibt das Gefühl des Alleingelassenseins.

      Ich genoss die oberflächlichen Berührungen und ließ mich von der Freude der Jecken anstecken.

      

      

      2006 - 28.2., 14:00

      Rückblende, zwei Jahre zuvor

      Deutschland

      Köln, Friesenstraße

       Szene 31

      

       Innenaufnahme: Eckkneipe. Karnevalsdienstag gegen 14 Uhr. Eine Unzeit. Die lustigen Tage sind gezählt. Am Abend wird der Nubbel verbrannt, und am nächsten Tag ist Aschermittwoch. Der Tag, an dem nach einem berühmten Karnevalsschlager, alles vorbei ist. Hinter der Theke stehen ein abgekämpfter Indianer, ein Lappenclown und eine Hexe mit Sonnenbrille. Aus den Boxen erklären uns die Bläck Fööss, weshalb es „in unsrem Veedel“ so schön ist. Über dem Tresen hängen drei Cowboys im Koma. Eine sichtlich gealterte Prinzessin knutscht währenddessen mit einem übergewichtigen Schornsteinfeger, was das Zeug hält. Am Ecktisch hat eine Gruppe von Clowns, Generälen und Meerjungfrauen dermaßen die Kontenance verloren, dass ihr Anblick geradezu das Auge beleidigt. Seibernd, lallend, schnarchend, sich mit Kölsch und Erbsensuppe besudelnd, stecken einige trotz allem begierig ihre Zunge in den Hals des jeweiligen Nachbarn. Ein Geruch nach Sauerem, nach Erbrochenem, nach Schweiß, Zigarettenqualm und abgestandenem Bier liegen in der Luft. Der Boden ist mit Kippen, Scherben und Resten von zertretenen Frikadellen übersät. Am Ende der Theke hockt ein belämmert dreinschauender Willi (das ist der Mann von Biene Maja) in einem gelb-schwarz geringelten Kostüm vor einer frisch gezapften Cola.

       Als ich die Kneipe betrat, hatte ich den festen Vorsatz gefasst: noch ein Bier und dann heim. Unglaublich, doch ich hatte mich vom Karneval anstecken lassen und schmetterte „Du bess Kölle“ mit voller Inbrunst und dem Brustton der Überzeugung. London, Neuseeland und alles, was davor lag, schien Welten entfernt.

      Ich steuerte auf das Ende der Theke zu und signalisierte der Hexe hinter dem Zapfhahn: „en großes Kölsch“! Alleine und etwas belämmert hockte eine männliche Ausgabe von Biene Maja vor einer Cola. Der Typ sah zum Schreien aus. Das Kostüm kleidete ihn unvorteilhaft. Die schwarze Badekappe mit den seitlich vom Kopf abstehenden Bömmeln (sagen wir Fühler) machte den Anblick nicht besser. Das Gesicht hingegen war wohl auf „Sams“ geschminkt. Ich konnte nicht anders und prustete los:

      »Na du fette Hummel. Gut drauf?«

      Biene Maja schaute mich entgeistert an. Ihre Augen weiteten sich. Das Insekt stammelte irgendetwas in Richtung Lappenclown. Hörte sich an wie „nen Doppelten“! Dann griff er mit zittrigen Fingern nach seinen Zigaretten und fegte beim Versuch, die Kippe verkehrt herum anzuzünden seine Cola vom Tresen. Ich gab einen spitzen Schrei von mir und spürte, wie das Zuckergemisch vom Thekenbrett auf meine Piratenhose tropfte. Er starrte mich an und zog im Zeitlupentempo seine Badekappe ab. Und plötzlich bewegten sich seine Lippen, während er vom Barhocker zu kippen drohte:

      »Oh mein Gott!!! Vici? Vici bist du das?!!!«

      Kaum zu glauben! Doch so traf ich meine Jugendliebe Winni nach Jahrzehnten wieder. Wir waren gemeinsam vor den Killer des Matriarchats um die halbe Welt geflüchtet. Ich war damals fünfzehn Jahre alt und Winni dreiundzwanzig. Was soll ich sagen? Winni war immer noch der Alte:

      FC-Fan und Dachdecker, von Grund auf ehrlich und auf liebenswürdige Art unbeholfen und tollpatschig.

      Wir entdeckten unsere Liebe aufs Neue. Und nun halte ich Fernanda im Arm. Zum Glück hat sie deine Gene, feixten unsere Freunde. Nur diese überdimensionalen Segelohren hat sie von Winni geerbt, hatte meine Tochter Sibel beim letzten Besuch gelacht. Macht nix, da lassen wir Haare drüber wachsen, hatte ich glücklich gelächelt.

      2011 - 17.4., 14:00

      Großbritannien

      London, Brixton,

      Sudbourne Road

       Szene 32

      Innenaufnahme: Die Küche von Steve und Mikel ist das reinste Chaos. Die zum großen Teil aus Sperrmüllmobiliar zusammengestellte Einrichtung macht einen erbarmungswürdigen Eindruck. Durch ein verschmutztes Fenster scheint


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