Diez Hermanas. Georg Vetten
Die ehrwürdigen Straßenlaternen suggerierten ein Licht, das dem von trüb ausgeleuchteten Aquarien ähnelte. Im Eilschritt legten sie nun die letzten Meter bis zur U-Bahnstation zurück und umkurvten dabei die immer tiefer werdenden Pfützen. Als sie schließlich die Rolltreppen erreichten, atmeten sie erleichtert durch. Mikel drehte sich über die Schulter und reichte nach einem flüchtigen Durchblättern die Gazette an Sibel weiter.
»Hier hast du was zu studieren, auf der Suche nach Auffälligkeiten«, zwinkerte Mikel.
Sibel schüttelte unmerklich den Kopf und hing ihren Gedanken nach: Weshalb macht er jetzt auf locker und oberflächlich? Es scheint, als habe er mit Steve die Rollen getauscht. Dann fiel ihr Blick auf den Mirror und im nächsten Moment gefror ihr das Blut in den Adern.
Mord in Kensington: Gestern gegen 0:30 wurde ein junger Mann an der Haltestelle High Street Kensington von einer herannahenden Bahn aus Hammersmith erfasst. Er war auf der Stelle tot. Es scheint sich dabei jedoch offensichtlich nicht, um einen Unfall gehandelt zu haben. Augenzeugen wollen gesehen haben, wie der Mann von zwei schwarz gekleideten Personen vor die herannahende Bahn gestoßen wurde. Bei dem Getöteten handelt es sich um den 25-Jährigen Pfleger Bob Salt.
Sibel drückte Mikel die Zeitung in die Hand und ließ sich auf die nächststehende Holzbank niedersinken. Sie wurde kreidebleich. Sie zitterte. Mikel legte den Arm um Sibel und sie bettete schluchzend ihren Kopf an seine Schulter. Geschlagene zehn Minuten saßen sie schweigend, während die U-Bahnen ein und ausfuhren und ständig neue Passagiere auf den schmutzigen Bahnsteig ausspuckten.
Später hatten bis in die frühen Morgenstunden in der Sudbourne Road zusammengesessen. Es gibt keine Zusammenhänge, es kann keine Zusammenhänge geben, hatten Mikel und Steve am Ende jeder Diskussion resümiert. Doch Sibel wusste, dass Adriana das gleiche, seltsame Gefühl wie sie beschlich. Konnte man vor diesen Fakten die Augen verschließen:
o Entführungen
o ein Arzt, der sich weigert, Testreihen mit verbotenen Psychopharmaka an Kindern durchzuführen und dafür lobotomiert wird
o ein Zeuge, der dem Verbrechen zu Nahe kommt, wird vor den Zug gestoßen
Wie sicher kann ich mich überhaupt noch fühlen? fragte sich Sibel.
Am frühen Morgen, als die anderen schliefen (Steve einen Arm um Adriana geschlungen), rief Sibel ihre Mutter an und bat um Rat. Nachdem sie Vici die Geschehnisse der letzten Tage geschildert hatte, war die sonst so starke Stimme ihrer Mutter in ein Flehen gewechselt:
Sibel! Bitte! Du meldest dich weiterhin krank! Sibel! Ist das klar? Treffe dich mit niemandem mehr aus der Klinik. Schau, dass du da rauskommst. Ich weiß, du denkst, dass ich überreagiere, doch es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können wir nicht verstehen, erklären oder beeinflussen. Es gibt Dinge, die entziehen sich unserer Vorstellungskraft! Du solltest für eine Zeitlang das Land verlassen. Flieg zu Jefferey, deinem Vater. Du weißt, wo du ihn findest. Dort unten in Kanada, am Winnipeg Lake, bist du sicher.
Sibel fühlte sich zwar unwohl in ihrer Haut, doch ihre Mutter hatte für ihren Geschmack mal wieder überzogen hysterisch reagiert. Im Grunde genommen wollte sie sich Mikels und Steves Meinung anschließen: Dieser ganze Verschwörungsscheiß soll mir gestohlen bleiben, murmelte sie still in sich hinein. Sie beobachtete Mikel, der im Schlaf lächelte, und strich ihm eine Locke aus der Stirn.
2011 - 15.4., 15.00
Ecuador/Osomo,
Pazifischer Ozean,
auf halbem Weg zum
Galápagosarchipel
Szene 36
Außenaufnahme: Die Plattform auf der Klippe bietet einen imposanten Blick auf den tosenden Pazifik und auf eine Reihe von bereits neu entstandenen Gebäuden, die sich im Hinterland der hügeligen Dschungellandschaft nahezu perfekt einschmiegen. Am Fuß der Klippe, im neu errichteten Hafen, werden Öltanker und Frachtkähne gelöscht. Im nahe liegenden Yachthafen dümpeln eine Handvoll Luxusschiffe und drei von insgesamt sieben U-Booten der Klasse ‚Seawolf‘ vor sich hin. Vom nahe gelegenen Hubschrauberlandeplatz steigt ein voll bewaffneter Apache AH-64 E auf.Nordwestlich erheben sich aus einer gerodeten Fläche von insgesamt 25 Quadratkilometern unzählige Baukräne. Hier wird die neue Stadt Ramin in Höchstgeschwindigkeit hochgezogen. Geografisch gegenüberliegend, im Südosten der Insel, planieren Raupen auf einer Länge von 2,5 Kilometern eine Flugzeugpiste in den Dschungel.
»Geht das nicht schneller?« Aira schrie mit hochrotem Kopf in ihr Mobiltelefon. »Nächste Woche ist die Landebahn fertig! Ist das klar? Ansonsten rollen Köpfe! Und du weißt, das sind nicht nur Worte!«
Mit einem spöttischen Grinsen beendete Aira das Gespräch und ließ ihren Blick von der Plattform aus in die Ferne schweifen.
»Wir werden die Welt beherrschen. Was meinst du Kati?« Aira trat von der Brüstung der Plattform in den Schatten der riesigen Kokospalme und bediente sich an der aus edlem Teakholz gezimmerten Bar. Während die Eiswürfel im Martini klirrten, schaute Katla von ihrem Macbook auf und nickte. Die 1,95 Meter große Lesbe mit Nazischeitel hatte sich an die Verniedlichung ihres Namens noch nicht gewöhnt.
»Die Zahlen sehen gut aus, die Nachrichten, die uns erreichen, sind durch die Bank weg positiv.«
»Sehr gut! Lass uns nach unten gehen und einige Dinge besprechen. Ich möchte mir gemeinsam mit dir die Analysen unserer DHs anschauen.« Aira bog ihren Körper durch und befeuchtete mit der Spitze der Zunge ihre vollen Lippen
»Danach werden wir mit dem Jeep zum Strand runterfahren und uns noch ein wenig amüsieren, Kati.«
Katla zog unmerklich eine Augenbraue hoch und nickte. Beide verließen die Plattform über eine Wendeltreppe zur nächsten Ebene. Von dort nahmen sie einen chromblinkenden Aufzug in das Innere des Felsmassivs.
Szene 37
Innenaufnahme: Der Raum, der sich vor ihnen ausbreitet, als sich die Türen des Lifts mit einem leisen Stöhnen öffnen, misst an die 300 Quadratmeter. Seeseitig ist er durch riesige Boden-Deckenfenster begrenzt. Der Blick über das Meer bis hin zum flirrenden Horizont ist atemberaubend.
»Setz dich Katla und lies mir vor, was die Schwestern im Detail berichten.«
Beide ließen sich, auf indisch anmutenden Sitzkissen, nieder. Und während K-DH, das Laptop auf den Knien, die notwendigen Files öffnete, goss Aira Tee aus einem vergoldeten Samowar in schwarze Teeschalen.
»Unsere Marilyn – sorry, P-DH, berichtet, dass die politischen Flächenbrände, die wir im Nahen Osten und den Vereinigten Staaten gelegt haben, zu den avisierten Anschlägen und Blutbädern geführt haben. In einigen Regionen rechnen wir in Kürze mit kriegerischen Auseinandersetzungen. Von den 193 Staaten, die Mitglied der UNO sind, tanzen mittlerweile zwanzig nach unserer Pfeife und fünfzig kooperieren. Weiteren fünfundzwanzig werden gerade die Daumenschrauben angelegt. Dazu passt der Bericht von Schwester F-DH über kollabierende Finanzmärkte. Die internationale Großindustrie beschränkt sich mittlerweile auf ungefähr 100 Unternehmen von veritabler Größenordnung. Auf knapp ein Drittel haben wir laut I-DH 'starken Einfluss'. Die Verunsicherung ist immens und wird tagtäglich und weltweit über unsere kleine, dicke Engländerin angeheizt. PR-DH propagiert den Untergang und die Medien steigen darauf ein. Denn wir beeinflussen mittlerweile zweiundvierzig Prozent der weltweiten Medienunternehmen. Die Bevölkerung wird mit Belanglosigkeiten, entertaint und schluckt parallel manipulierte News. Auch in diesem Sinne leistet unser Dickerchen ganze Arbeit. Die enge Vernetzung der Kommunikation mit den S-DH-Bereichen Satellitenüberwachung und Spionage führt zu nie gekannten Möglichkeiten der Infiltration, schreibt unsere rassige Spanierin. Und dann, jetzt kommt das Größte«, Katla schlug sich vor Lachen auf die Schenkel:
»Das