Die Nacht der Schuld. Maxi Hill
ebenso gegen sich aufgebracht hat, wie den grobschlächtigen Schreiner. Weiler scheint allerdings eher in Ordnung zu sein. Er wendet sich ihm zu:
»Kerle. Mein Gott, das sagt man so in gewissen Situationen. Meine Frau ist attraktiv, da hat man es schon mit gierigen Blicken zu tun.«
»Und mit Affären?…«
»Nicht, dass ich wüsste, was Sie…«, wiegelt er ab in einer Art, dass jeder im Raum sofort Bescheid wissen muss.
»Wollen Sie nun, dass wir der Sache auf den Grund kommen, oder wollen Sie der einzige Verdächtige bleiben? Sie trauen uns hoffentlich nicht zu, zu glauben, sie hat sich selbst lebensgefährlich stranguliert.«
Das vom Strangulieren hätte Weiler nicht erwähnen dürfen. Die Bilder in Holger Bachs Kopf sind diffus, aber gerade das Diffuse bringt ihn um den Verstand.
Für diesen Tag ist der Mann am Ende. Hauptkommissar Weiler beobachtet ihn wie die Katze das Mauseloch. Abrupt steht er auf, mit knapper Geste gebietet er dem offenen Mund von Schreiner Einhalt. »Gut, dann war 's das für heute. Aber nicht für immer und ewig, das verstehen Sie doch.«
Erst draußen auf dem Flur sagt er zu Schreiner: »Das war beste dramaturgische Kost. Ich wette, das wäre ein Kandidat für die Nummer: Zusammenbruch am Grab seines Opfers. Zu früh gefreut, lieber Herr Doktor Bach, das Drehbuch schreiben wir.«
Vor dem Aufzug fragt Schreiner: »Wie hieß diese Studentin … diese Zeugin nochmal?«
»Ich hoffe, sie heißt immer noch Viola Svenson. Was hättest du gemacht, ich wäre nicht zufällig dabei? Hättest nochmal bei dem Verdächtigen geklingelt und mit eingezogenem Schwanz nach dem Namen gefragt?«
Auf einmal sind Schreiners Schritte kaum noch zu hören. Ganz kleinlaut geht er neben Weiler einher, vertieft in nur einen Gedanken: Dieser Weiler mischt sich zu oft in seine Fälle. Toleriert vom Chef. Spekuliert auf mehr Salär für das, was er hermacht…?
Als Holger Bach endlich allein in seiner Wohnung sitzt, haftet den Vorfällen des Tages — besonders denen der letzten Stunden — bereits etwas Bizarres an. Er kann es kaum glauben, dass wirklich geschehen war, was jeder vermutete, aber ohne Renées Aussage nicht zu beweisen ist. Was, wenn sie aussagt? Wird sie überhaupt noch einmal…?
Mehr als all die Stunden zuvor fühlt er sich zutiefst verunsichert. Was wird jetzt geschehen? Wie geht sein Leben weiter? War es das alles wert?
In seinem Kopf entsteht ein Szenario, das sich von dieser Stunde an verfestigt und nicht mehr geändert wird, vor keinem: Meine Frau Renée ist am Morgen nicht aufgestanden wie üblich. Bisher hatten wir jeden Streit ausgesessen — im wahrsten Sinne des Wortes. Und bisweilen kriselte es zwischen uns, auch wenn wir einmal ein Herz und eine Seele waren. Inzwischen ist Renée ein anderer Mensch, als das Mädchen, das ich so rein, so unbedarft und deshalb so liebenswert fand. Das Liebenswerte an ihr liegt weit zurück und ist verschüttet unter der Enttäuschung, die sie mir bereitet hatte.
Unwillkürlich zuckt er zusammen. Keines seiner Worte taugt dazu, ihn zu entlasten und er selbst fragt sich seit Stunden: Muss deshalb der Tod als einziger Ausweg akzeptiert werden?
DIE LETZTE NACHT
Das Haus ist still. Diese Stille ist sehr anonym wie das ganze Haus sehr anonym ist. Keiner kennt noch den anderen, wie früher einmal. Niemand weiß, wer rechtens aus einer Tür kommt und wer nicht. Das war seit langem sein Problem, wenn Renée ganz unverhofft zu Hause blieb und er zum Dienst musste. Wie verbrachte sie diese Tage? Mit wem? All seine Aufmerksamkeit taugte nicht, ihr hinter die Schliche zu kommen. Sie war eine gründliche Hausfrau, die alle Spuren zu beseitigen wusste. Könnte es sein, sie wollte an diesem Freitag nicht aufstehen, weil sie — sobald er aus dem Haus ist — einen Liebhaber erwartet hat? Einen, wie diesen … diesen … Kopfverdreher Marc Bergé. Die beiden haben ein Faible füreinander. Das hatte er ihr erst unlängst rüde an den Kopf geworfen. Renée erboste sich zwar darüber, lächelte ihn aber an, als sei er der dümmste Junge. Und erst ihr Argument: Marcs Affinität liege vermutlich nur an dem gewissen Akzentstrich in ihren beiden Namen. Sie nannte ihn Accent aigu, wobei das letzte Wort wie ein einzelnes Ü klang.
Freilich hatte er heimlich einmal nachgeschlagen, was diese französischen Betonungszeichen bedeuten. Das hätte er nicht tun sollen. Spitz. Scharf. Und dieses «scharf» hatte ihn sofort wieder wütend gemacht, wie ihn alles wütend macht, was er nicht kennt, sofern es Renée besonders gut findet. Ob sie ihm mit diesen kleinen Finessen ihre wachsende Überlegenheit demonstrieren wollte, beantwortet er sich an diesem Tag nicht.
Angesichts der ungewissen Stunde verbietet sich Holger Bach, länger darüber nachzudenken, was er sich einmal erträumt hatte und was das Leben daraus gemacht hat. Nur an die Peinlichkeit des Abends zu denken, kann er sich nicht verbieten, die sitzt noch immer zu tief und schneidet eine blutende Wunde.
Es war ein Abend wie viele zuvor. Er ist ein Mann, und als solcher hat er seine Bedürfnisse. Auch darf ein Ehemann erwarten — wenn seine Frau in einem Hauch von Nichts vor ihm steht — dass sie damit etwas bezweckt.
Sie war vor ihm zu Bett gegangen, er hatte noch geduscht — extra gründlich. Als er soweit war, schien sie schon zu schlafen. Er kuschelte sich an sie und drückte seinen Unterleib, der bereits reagierte, an ihre Hüfte und rieb sich an ihr. Sie atmete aus und drehte sich auf den Bauch. Das war ihr ewiges Zeichen innerer Unlust, das ihn fuchsteufelswild machte. Er fühlte sich abserviert und wollte es nicht einfach so hinnehmen. Ohne eine körperliche Angriffsfläche zu haben, überkam ihn enorme Wut. Er wusste genau, dass sie noch nicht schlief, warum hatte sie so gar kein Gefühl für sein Begehren? In seinen Augen gibt es keinen besseren Liebesbeweis als atemlose Vereinigung.
Ob ihm schon in dieser Minute die Idee gekommen war, sie könnte sich aufsparen für einen Anderen, das beantwortet er sich noch immer nicht. Er wollte nur sein Recht behaupten, besonders, weil sie ihn mit ihrem hauchdünnen Nichts vorsätzlich angemacht hat, vermutlich sogar hinterlistig, um ihn in gewisse Nöte zu stürzen.
Er hatte sich über ihren Rücken geschoben, mit den Knien ihre Schenkel auseinander dirigiert und einen Arm unter ihren Bauch gedrückt. So konnte er ihren Unterleib anheben und so gelang es ihm, rücklings in sie einzudringen. Er wusste genau, dass sie das nicht mochte. Sie hatte ihm einmal gesagt, dass sie Menschen seien, die sich — abgesehen von den Bonobos — als einzige Wesen beim Sex in die Augen schauen können und dass die Augen das Fenster zu Seele sind. Und Sex ohne Seele sei pure Gier, und die käme gleich nach Vergewaltigung.
Wie hätte er vermuten sollen, was dann geschah?
Er hätte es ahnen können. Freilich, er hätte es sogar wissen müssen… Und nun? Nun sitzt er hier in der dunklen Küche, abgestempelt als mieser Verbrecher, der seine Frau bis zur Ohnmacht würgt und danach selenruhig zum Dienst geht…
MONTAG, 20. MAI — POLIZEIREVIER
Welche Intrigen sich hinter den Mauern der Staatsgewalt abspielen, bleibt für die meisten Beamten unergründlich. Auf alle Fälle bekommt Hauptkommissar Andreas Weiler die Angelegenheit «Renée Bach» übertragen. Sie müssen der Sache nachgehen, weil dieser Notarzt Anzeige erstattet hat. Ein Fall ist es deshalb noch nicht.
Im Revier weiß man, um welch angesehene Person es sich bei dem betroffenen Ehemann handelt, der zugleich — zu diesem Zeitpunkt noch — der einzige Verdächtige ist. Deshalb brauche das Vorgehen, so die Order vom Chef, eine Menge Einfühlung und zugleich spitzfindiges, kriminalistisches Gespür, die Schreiners — bei anderer Klientel zwar erfolgreichen — Methoden nicht hergeben.
Eine erste Brisanz bekommt der ansonsten wenig spektakuläre Fall, als Doktor Haarström von der Intensivstation des Klinikums seine Bedenken geäußert hat, die Patientin Renée Bach bleibe vermutlich komatös, bestenfalls, wie er anfügte.
Für Andreas Weiler ist nur der Umstand schmeichelhaft, es diesem Großmaul Schreiner mal wieder zeigen zu können.