HASSO - Legende von Mallorca. Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca - Wolfgang Fabian


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Stadt zu orientieren. Wohin sollte er seine Schritte lenken durch Ruinen und Trümmer verengte Straßen mit teilweise verbogenen, abgeknickten oder fehlenden Straßenschildern? Und sich an wohlbekannte Gebäude zu halten, gelang ihm nur mäßig: Die Bomben hatten derbe Arbeit geleistet.

      Hassos sich schnell steigernde innerliche Erschütterung teilte sein bis dahin vorherrschendes Empfinden, sich nun wieder ohne Angst vor Vollstreckern eines absolut irren Regimes, dem ein ganzes Volk von höchstem kulturellen und wirtschaftlichen Niveau in die Herrschersessel hievte, bewegen zu dürfen.

       Die Sonne an diesem Tag beschien warm die demolierte Stadt. Dem in die Innenstadt zustrebenden Hasso fiel bald auf, dass schon vor der englischen Panzerabteilung, auf deren erstem Fahrzeug er Hamburg erreicht hatte, sich britisches Militär in der Stadt niedergelassen hatte. Gelegentlich mussten die Straßenpassanten entgegenkommenden oder überholenden Besatzungsfahrzeugen ausweichen. Für Hasso war vordringlich, zumindest für die erste Nacht ein Unterkommen zu finden, was ihm angesichts bedrohlich aufragender Gebäudefassaden und Schuttbergen nicht eben leichtfiel. Vielleicht waren für die Ausgebombten, die keine Möglichkeit mehr hatten, sich selbst zu beköstigen, Verpflegungsstellen eingerichtet worden. Für ihn war jedoch naheliegend, zuerst die väterliche Wohnung zu finden. Auch wenn Haus und Wohnung nicht zur Ruine geworden waren, glaubte er nicht seinen Vater anzutreffen. Und so war es auch. Das Zweifamilienhaus war nicht komplett zerstört worden, aber auch nicht mehr bewohnbar. Er sagte sich, dass ihm vorerst ein planloses Suchen nach seinem Vater nur unnötig Kraft und Zeit abverlange, und auf eine Spur nach anderen Familienangehörigen zu kommen, schloss er nach seinem jahrelangen Fluchtelend ohnehin aus. Also versuchte er, Adressen früherer Freunde und Freundinnen aus seinem Gedächtnis zu kramen, wobei er auch auf den Namen Friedlinde stieß. Sie war die Tochter eines Kapitäns der Handelsmarine, in dessen Haus im Stadtteil Harvestehude sich Hasso früher hin und wieder aufgehalten hatte. An Friedlinde, nun auch fast einundzwanzig und eventuell sogar verheiratet, dachte er weniger, vielmehr an ihre Eltern. Der Kapitän musste nach einem Unfall Anfang des Krieges seinen Fahrensberuf aufgeben und wurde in den Innendienst seiner Hamburger Reederei versetzt. Dort verrichtete er seinen Dienst, bis auch das Gebäude der Reederei den Bomben zum Opfer fiel. Der Kapitän war ein Mann mit freundlichem und fröhlichem Gemüt, die Mutter eher ein zurückhaltender und stiller Mensch.

      Gegen Abend erreichte Hasso sein Ziel. Das Anwesen der Kapitänsfamilie war von Bomben verschont geblieben, aber ab zwei ebenfalls unversehrten Häusern nebenan sah es beiderseits der Straße hinunter wie fast überall in der Stadt böse aus.

       (Nach den alliierten Bombardements im Juli 1943 ist nicht nur die Stadt verwüstet worden ‒ das sei hier vermerkt ‒, es sind dazu auch rund 35.000 Bewohner ums Leben gekommen. Und wieder die Frage nach dem Sinn ...)

       Das Kapitänsehepaar war zu Hause, auch die noch ledige Tochter Friedlinde. Für das Mädchen war es in dieser Zeit schwierig geworden, einen ihr entsprechenden Heiratskandidaten zu finden, zu viele junge Männer waren dem teuflischen Führer geopfert worden. Natürlich war die Familie aufs Höchste überrascht, einen abgemagerten, insgesamt unansehnlichen Hasso zu begrüßen. Doch dann wurde er eingeladen und konnte in kurzen Zügen seine Vergangenheit, sein Aussehen und den Grund seines Besuches erklären. Der Kapitän sann nicht lange nach und bot seinem Besucher vorläufiges Unterkommen an: Im Haus könne durchaus noch ein Zimmer freigemacht werden. Neben sich am Stuhlbein hatte Hasso seinen Beutel abgelegt, aus dessen Innern ein Teil der Chesterfield-Stange herausragte, was dem Kapitän nicht entging. »Bis du anderweitig unterkommen kannst«, sagte er, »oder erfahren hast, wo sich deine Angehörigen aufhalten, bleibst du hier, wenn du willst.« Der Beutelinhalt bestärkte sicherlich sein Hilfsangebot. Nach kurzer Zeit steckte er sich eine Chesterfield an, sog den vermutlich lange vermissten Rauch tief in seine Lungenflügel, bis ihm nach dem ersten Zug schwindlig wurde. Doch das Schwindelgefühl quälte ihn nicht lange, und er genoss den Qualm, in wahrstem Sinne des Wortes, in vollen Zügen. Seine Frau, die innerlich Hassos Besuch nicht gerade als glücklichen Umstand wertete, hielt sich zurück, fixierte aber unentwegt den für sie ungebetenen Gast aus den Augenwinkeln, indes Friedlinde, die gefalteten Hände im Schoß, still auf ihrem Stuhl saß.

       »Was hier los war vor nun mehr bald zwei Jahren, was wir durchgemacht haben, das kannst du dir nicht vorstellen«, rief der Hausherr, nachdem Hasso mit seiner kurz gefassten Geschichte zu Ende gekommen war, und setzte hinzu: »Danke Gott, dass du nicht hier gewesen bist!« Und ob Hasso aufgefallen sei, wie die Engländer und Amerikaner ihre einstmals doch so schöne Stadt zugerichtet hätten. Er habe gehört, nur die Engländer hätten die Wohngebiete der Stadt bombardiert, was sicherlich als Vergeltung anzusehen sei. »Die Deutschen waren es doch«, rief er mit Nachdruck, »die mit der Bombardierung englischer Städte angefangen haben. Da müssen wir uns nicht wundern. Und jetzt der Hunger! Der Krieg ist seit Kurzem vorbei, aber mit Deutschland wird es nie wieder was, das kannst du mir glauben. Alles, was laufen kann, hamstert in der Gegend herum, hamstert, tauscht und handelt auf dem Schwarzmarkt. Ich bin auch dabei, habe Gott sei Dank noch meine Beziehungen. Junge, wenn du die Züge siehst, soweit sie wiedereingesetzt werden können, da erkennst du vor lauter Menschen kaum die Umrisse der Waggons. Vernünftig ist es sicherlich, dass jetzt wieder Lebensmittelmarken eingeführt werden, damit die Reichen nicht alles wegkaufen können. Zugeteilte Lebensmittelmengen gab es ja auch schon im Kriege, du kannst dich sicherlich daran erinnern: pro Person soundso viel Gramm Fett, Zucker, Brot und so weiter. Dürfte ich noch eine Zigarette bekommen? Ich will dann mal nachgucken, ob ich nicht Sachen habe, die dir einigermaßen passen. Die probierst du nachher an, nach dem Baden. Deine jetzigen Klamotten stecken wir in den Mülleimer. Und an Wasser mangelt es uns nicht, wir sind nicht auf das öffentliche Wassernetz angewiesen, haben immer noch den Brunnen mit der Handpumpe in der Waschküche. Und morgen gehst du zum Einwohneramt oder besser, ich gehe mit. Zeit habe ich genügend. Es könnte nämlich sein, dass du dich vor lauter Trümmerbergen zwischen den Ruinen nicht mehr zurechtfindest. Du musst dich neu anmelden und auch einen Ausweis beantragen. Am besten, du gibst deine alte Wohnungsadresse an, die ist im Amt sicherlich noch vorhanden. Vielleicht erfährst du dort auch, wo dein Vater abgeblieben ist, denn wo ihr gewohnt habt, steht kein bewohnbares Haus mehr. Das Amt ist für dich die wichtigste Anlaufstelle, allein schon wegen der Zuteilung einer Lebensmittelkarte. Da fällt mir ein: Unser Nachbar hat eine kleine Dunkelkammer und ich einen Fotoapparat, sogar mit einem Film drin. Ich mache ein paar Fotos von dir, aber der Nachbar kann das sicherlich besser, der schneidet die Fotos ins richtige Format. Ohne Passbild kein Ausweis, das gilt auch in einer zerstörten Stadt.«

       Nach dieser langen Verlautbarung drückte der Kapitän seine zweite Kippe auf der vor ihm stehenden Untertasse aus, wobei er sich fast die Finder verbrannte. Dann meinte er ‒ in Wahrheit ein Angebot, um nicht zu sagen, eine Forderung ‒, dass es Hasso kaum für möglich halte, wie viel Speck und Eier er für die Zigaretten eintauschen könnte. Auch wer viel Geld habe, komme nicht weit. Denn was sollte man kaufen? Zigaretten allerdings seien das Gold beim Tauschen, man müsse nur höllisch aufpassen, dass sie einem nicht weggerissen werden. Wer Land besitze, könne sich natürlich seinen Tabak selbst anbauen, auch er selbstverständlich, die Frage sei allerdings, woher die Tabakpflanzen oder deren Samen nehmen. Und über das hinaus, was die neuen Lebensmittelkarten hergäben, kriege man nichts, rein gar nichts, schon gar nicht Tabakwaren. Kaufhäuser, Geschäfte und so weiter? Die habe man nur noch in schöner Erinnerung; und er warf ein: »Könntest du auf einige Schachteln verzichten, mein Junge? Sei froh, dass du noch nicht rauchst.« Hasso überließ ihm vier Päckchen.

      Des Kapitäns bisher stille Ehefrau haderte mit sich und der Welt, dass ihr Mann dem wieder aufgetauchten, abgerissenen Hasso Unterkunft gewährte, wobei sie vorrangig die bis dato ungefährdete Keuschheit ihrer Tochter im Auge hatte. Ja, damals, 1941 noch, als der Kapitän die Hoffnung hegte, Hasso später als seinen Schwiegersohn gewinnen zu können, also den Spross einer berühmten Künstler-Familie, da seien das ganz andere Verhältnisse gewesen. Aber heute ...? Doch vielleicht gehen meine Gedanken jetzt zu weit, sagte sie sich endlich, und bewegen sich auf einer Fährte, der Friedlinde gar nicht folgen will.

       Friedlindes Gedanken waren in der Tat andere. In ihren Zukunftsplänen hatte Hasso schon früher nie eine Rolle gespielt. Er war ein wilder Bursche gewesen, hinter jedem Rock her, als sie sich als Schüler und Komparsen, noch nicht siebzehnjährig, bei der Filmgesellschaft in der Blumenstraße austoben durften.


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