HASSO - Legende von Mallorca. Wolfgang Fabian

HASSO - Legende von Mallorca - Wolfgang Fabian


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Vor allem Georg sorgte für Hoffnung. Tag für Tag warf er sich auf die Knie, auch wenn er angekettet war, und erflehte für Hasso und für sich Hilfe von seinem Gott. Hasso trug nach wie vor sein Foto bei sich, mit der Erklärung des ukrainischen Offiziers auf der Rückseite. Zwei Mal hatte man es bei ihm gefunden, zwei Mal aber nicht auf die Rückseite geschaut. Es war noch nicht einmal betrachtet worden, es wurde ihm sofort wieder zugeworfen. Ihm war bewusst, wenn ihm zum dritten Mal das Foto abgenommen werde, und der Blick des Betrachters auf die Rückseite falle, dann sei hier ihr Haftdasein ganz schnell beendet; aber auf die Idee, es zu vernichten, kam er nicht. Jeden Tag ließ er vor seinen geistigen Augen seine Kindheit und Jugend Revue passieren. Er dachte an seinen Vater, der ohne ein Lebenszeichen von ihm seinen Dienst bei der Basis des Oberkommandos der Wehrmacht in Berlin verrichtete; und er dachte an seine vier berühmten Onkel, indes von Mutter und Schwester konnte er sich keine genaueren Bilder mehr machen. Wiederholt unterbreitete er Georg seine Herkunft, die Geschichte seiner Familie und seine Erlebnisse bis in alle ihm bekannten Einzelheiten, und Georg hörte stets aufmerksam zu. Georg war in einem Waisenhaus aufgewachsen und überzeugt, keine lebenden Angehörigen ausfindig zu machen. An ihn dachte vermutlich niemand mehr. Von Hasso erfuhr er die Generationsgeschichte einer großen Familie, ihre hauptsächlich sich selbst zuzuschreibenden bewältigten und unbewältigten Sorgen und Ichbezogenheiten. Hasso verschwieg auch nicht, dass er als Heranwachsender seinem Vater und anderen Erziehern öfter mehr als üblich Probleme bereitet hatte. Ihm wiederum wurden von Georg Bilder aufgemalt, die den grauen Weg von Kindern und Jugendlichen zeigten, der an einer familiären, fürsorglichen Geborgenheit vorbeiführte.

      Im März 1944 verurteilte das deutsche Tribunal im Gefängnis von Ploesti Hasso und Georg und gleichzeitig andere Mitangeklagte wegen Fahnenflucht zum Tod durch den Strang. Nach den Todesurteilen erwarteten die Delinquenten sofort die Vollstreckung. Aber es vergingen noch einige Tage, bis sie ihre Kerker verlassen mussten. Die Schergen schleiften Hasso und Georg, beide am Rande des Irrewerdens, regelrecht vor den Blockeingang, wo sie mit gebundenen Händen auf die mit einer Plane überzogene Ladefläche eines Mannschaftstransportwagens gehievt wurden. Zwölf Verurteilte hockten dort bereits, vier SS-Bewacher mit Maschinenpistolen, nahe der Ladeklappe sitzend, bewachten die Todgeweihten. Zwei SS-Männer ketteten die Häftlinge zusätzlich untereinander mit etwa einem halben Meter Spielraum zusammen. Nach rascher Fahrt hielt der Lastwagen am Bahnhof von Ploesti, wo dann alles schnell vonstattenging. Andere SS-Soldaten, es mochten sechs oder acht sein, übernahmen die Gefangenen, trieben sie zu einem wartenden Güterzug und ließen sie in einen speziell bereitstehenden Waggon klettern, den sie dann umgehend verriegelten. Die Männer ließen sich auf der Ladefläche des Waggons nieder, verschmolzen zu einem Haufen Elend, innerlich wandelnd zwischen Wahnsinn und Lebenswillen.

      Welches Ziel fuhr dieses Mal der Zug an? Niemand hatte es den zum Tode Verurteilten gesagt. Warum auch ... Und warum sind die Urteile nicht an Ort und Stelle vollstreckt worden? Letztlich war das kein Thema, über das nachzudenken sich lohnte. Jeder war sich jetzt bewusst, in absehbarer Zeit das Ende seines Lebens erreicht zu haben, gleichgültig, wohin sie gebracht wurden. Nun, es war eine vorläufige Endstation, ein Konzentrationslager nahe Wien. Hier wurde ihnen zum ersten Mal bedeutet, dass ihre Hinrichtung in Wien vorgenommen werden sollte. Die Hinrichtungsstätte – es waren mehrere von der Wehrmacht in Wien genutzte Einrichtungen – stand noch nicht fest. Also wurden die Verurteilten vorerst in der gewaltigen Gefängnisanlage in der Wiener Harthmuthgasse eingeliefert, wo sie auf den Tag ihrer Hinrichtung zu warten hatten. Sie mussten noch viele Leidenstage überstehen, denn die Zahl der Hinrichtungstermine nahm erschreckend zu. Andrerseits war es die Zeit, dass Abertausende halbwegs gesunde KZ- und Militärgefängsinsassen für die Aufstellung von immer neuen Strafeinheiten aussortiert wurden. Das alles konnte schon aufgrund der Entfernungen zu den Kriegsgebieten, die bereits fast ganz Europa überzogen, nicht in wenigen Tagen erledigt werden. Es war zu bedenken, dass es große zeitliche Aufwände bedeutete, wenn im Laufe der Endphase des Krieges neben den Gerichtsverfahren der Wehrmacht oft auch noch neue Strafbataillone und andere Einheiten aus den Reihen der Verurteilten aufgestellt wurden. Besonders zeitaufwendig und gefahrvoll aber waren die Transporte zu den Einsatzorten. Und da die Wehrmacht immer höhere Verluste an den Fronten hinnehmen musste, ließen die Militärgerichte insgesamt von über 30.000 verhängten Todesurteilen nur zwei Drittel vollstrecken.

      In ihrer Todeszelle wurde Hasso und Georg mitgeteilt, in etwa vierzehn Tagen hingerichtet zu werden. Die Bewacher verteilten Schreibpapier, einen Bleistift und einen Briefumschlag, gaben den Delinquenten die Möglichkeit, Angehörige in der Heimat letzte Grüße zukommen zu lassen. Zwar mag das eine zuvorkommende Geste für die Verurteilten gewesen sein, für die Empfänger bedeuteten die Briefe tiefste Bestürzung, tiefstes Entsetzen. Es ist davon auszugehen, dass das beabsichtigt war.

       Hassos letzter Gruß war ein Schrei nach Hilfe an seinen Vater beim Oberkommando der Wehrmacht in Berlin. Georgs Papier hingegen blieb leer, er wusste niemanden zu schreiben. – Am frühen Morgen des Hinrichtungstages holte eine SS-Abordnung zunächst Georg aus dessen Zelle. Hasso, der in seiner nebenan wartete, blieb das nicht verborgen. Schritte genagelter Stiefelsohlen hallten durch den Gang, und Worte, etwas lauter gesprochen als gewöhnlich, waren gut zu verstehen. Georg brachte angesichts des nahen Todes die Kraft auf, Hasso zuzurufen, aber ohne auf dessen Zellentür zu schauen: »Bis gleich, mein Freund! Allah hat uns nicht vergessen!« Dieser Zuruf verblüffte die Begleitmannschaft.

      Hinrichtungsstätte war hier in den Mauern des Landesgerichts I in Wien, mit integriertem Gefängnis für teils zivile Straftäter, hauptsächlich aber genutzt von der Gerichtsbarkeit der Wehrmacht. Hier wurden nicht nur Soldaten verurteilt, sondern auch im Sinne der Naziführung und der Wehrmachtsgerichte sich schuldig gemachte Zivilpersonen. Hinrichtungsart war in diesem Landesgericht vorzugsweise das Enthaupten: von 1938 bis April 1945 wurde 1.184 Männern und sogar einigen Frauen der Kopf abgeschlagen. Das Erhängen war seltener – Georg Mohr musste es erdulden.

      Nur zwanzig Minuten später stand die Abordnung vor Hassos Zelle. Hasso kauerte, dem Wahnsinn nahe, in sich zusammengekrümmt auf seiner Pritsche, unfähig, sie zu verlassen. Sonderbarerweise rührten sich die sechs SS-Männer vor der offenen Zelle nicht, nur einer, ein Papier in der Hand, löste sich von dem Trupp, stellte sich vor Hasso in Position, warf noch einmal einen Blick auf das Papier und sagte:

      »Schützendorf, Sie sind begnadigt worden zu zwölf Jahren Zuchthaus. Vorerst ist das rein formell zu verstehen. Zunächst werden Sie einer Feldstrafgefangenen-Abteilung zugeführt, denn dort werden Sie dringender gebraucht als in einem Zuchthaus. Erst nach dem Endsieg werden Sie zwecks Verbüßung Ihrer Strafe in ein dann noch zu bestimmendes Zuchthaus eingeliefert.«

      Nach diesen Worten drehte der Mann leise lachend das Gesicht seinen grinsenden Männern in der Tür zu, wohl wissend, dass das Häuflein Elend dort auf der Pritsche seine Zuchthausstrafe wohl kaum werde absitzen können. Dennoch war es für diese Männer auch eine willkommene Abwechslung, Verurteilte nicht immer nur dem Hinrichtungskommando zu überstellen, sondern auch einmal zu verfolgen, wenn sie jemanden, wie jetzt Hasso, nicht zur Hinrichtung abholen, sondern eine Urteilsänderung überbringen mussten. Aber das geschah recht selten. Das augenblickliche Verhalten der Delinquenten war in etwa immer gleich.

      8. Marsch an die Westfront

      Feldstrafgefangenen-Abteilungen.

      Im Gegensatz zu den Bewährungsbataillonen zogen sie in der Regel unbewaffnet in die Frontgebiete, denn für ihre speziellen Einsätze benötigten sie keine Waffen. Sie mussten Bunker und Stellungen ausbessern oder bauen, Geländeflächen mit Minen belegen oder von Minen befreien sowie Leichenbergungen auf den Schlachtfeldern vornehmen. Bei der Gelegenheit lief eine große Zahl von ihnen zu den Sowjets über.

      Bis Kriegsende gab es zweiundzwanzig! Feldstrafgefangenen-Abteilungen. Darin zusammengefasst hatte die Nazi-Justiz über zwanzigtausend (!) verurteilte Soldaten, und das waren nicht nur ehemals niedere Dienstgrade.

      Der Führer des Begleittrupps wandte sich wieder Hasso zu und forderte ihn auf, sich zu erheben und mit ihm zu kommen. Aber da das mit dem Erheben nicht sogleich klappte, traten zwei SS-Männer hinzu und halfen nach.

      Was war geschehen?

      Hasso hatte dem SS-Truppführer


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