So viele Killer: Vier Kriminalromane. Alfred Bekker
den profanen Blicken zufälliger Passanten verbarg. Taggart öffnete die Gittertür, schlenderte über einen mit Kies üppig bestreuten Weg zum Haus und nahm die drei Marmorstufen in einem Satz, die zum Eingang führten. Auf sein Klingeln öffnete eine dicke, gemütlich wirkende Frau mittleren Alters und taxierte seine äußere Erscheinung wohlwollend ab. „Guten Tag, Sir, womit kann ich Ihnen dienen?“, sagte sie. Beim Sprechen tanzten die Sommersprossen auf ihrer etwas zu breit geratenen Nase Samba.
Der Inspector nannte Namen und Dienstgrad und fügte hinzu, er wünsche Miss Craigie zu sprechen. Miss Helen Craigie.“
„Sicher“, murmelte das Mädchen, „wir haben ja nur eine! — Wenn Sie bitte eintreten wollten, Sir!“
Taggart wurde in eine mit bizarrem Geschmack eingerichtete Halle geführt und zum Platznehmen aufgefordert. Während das Hausmädchen ihn anmelden ging, besah er sich mit gemischten Gefühlen das Vestibül, dessen Boden von einem geradezu monströsen Teppich von einmalig türkisblauer Farbe bedeckt war. Billige, teilweise beschädigte Schleiflackmöbel passten dazu wie die Faust aufs Auge, aber die Wände waren mit kostbaren Seidentapeten beklebt, und die Bilder, die dort hingen, nötigten dem Inspector einen geistigen Salto mortale ab. Kernstück war ein früher Matisse, den Taggart für echt hielt. Rechts daneben hing die abstrakte Komposition eines unbekannten Meisters des zwanzigsten Jahrhunderts, und zwischen beiden Gemälden eine gute Kopie des Dürer'schen Hasen, dem man freilich bei dieser Umgebung neurotische Angstzustände nicht hätte verargen mögen. Gegenüber hatten drolligerweise ein Manet und ein Monet — beides Kopien — wie Zwillinge nebeneinander Platz gefunden, und die vier weiteren Gemälde, die augenscheinlich alle vom gleichen Pinsel stammten, konnte der kunstverständige Inspector bei bestem Willen nicht klassifizieren, da sie alle so aussahen, als habe sie Gainsborough begonnen, Tizian fortgeführt und Picasso vollendet. Ein dezenter Mensch wie Raymond Taggart konnte da nur gequält die Augen schließen und an etwas Schönes denken —
„Miss Craigie lässt bitten, Sir!“, sagte die Stimme der Sommersprossigen mit mildem Vorwurf.
Taggart fuhr auf und blickte sich verwirrt um. Heavens — der Hase schien ihm zuzublinzeln.
Taggart riss die Augen weit auf und sagte entschuldigend:
„Ich muss rein eingeschlafen sein, die vergangene Nacht war aber auch reichlich lang.“
Das Hausmädchen grinste dünn; Taggart war wieder einmal missverstanden worden.
Er wurde zu einem in der ersten Etage gelegenen, luxuriös eingerichteten Raum geführt, der wahrscheinlich früher einmal als Maleratelier gedient hatte. An der linken Mansardenwand hatte man zwei riesige Drehflügelfenster mit dunklen Jalousien nachträglich eingebaut, an der gegenüberliegenden hingen Aquarelle und Ölgemälde, die die Hand eines begabten Dilettanten verrieten. Den Boden bedeckten echte Teppiche, und vor dem blinden Kamin lag zusätzlich ein braunes Bärenfell. Die Schmalseiten des Raumes bestanden aus Einbauschränken.
Bei Taggarts Eintritt erhob sich eine schwer zu beschreibende Frau in schwarzer Stretchhose und feuerrotem Pullover von ihrem Platz am Kamin. Sie mochte vierzig sein, aber das Alter spielte bei ihr keine Rolle und wurde nur durch weißgraue Strähnen in ihrem glänzend schwarzen Haar diskret betont. Betont wurde auch die schlanke, wundervoll proportionierte Figur durch den Hausdress. Sie kam dem Inspector halb entgegen, reichte ihm unbefangen die Hand und sagte:
„Mr. Taggart — wie? Ich bin Helen Craigie. Nehmen Sie Platz und entschuldigen Sie bitte die Unordnung. Sicher kommen Sie wegen der armen Elga. Aber eigentlich habe ich schon Inspector Strush alles gesagt, was ich sagen konnte. Hat man denn von der Ärmsten immer noch nichts gehört?“
Ihre dunkle Stimme passte gut zu ihrer ganzen Erscheinung. Auf der Bühne hätte sie keine schlechte Figur gemacht.
Sie wirkte wie eine Schauspielerin, aber es war nichts Unnatürliches, Gekünsteltes an ihr.
Jäh änderte sich ihr Gesichtsausdruck; er wurde argwöhnisch — was vermutlich durch die verblüffte Miene, die der Inspector sekundenlang nicht hatte unterdrücken können — ausgelöst worden war.
Taggart setzte sich ihr gegenüber, setzte sein Pokergesicht wieder auf und sagte behutsam:
„Miss Craigie, ich bedaure, dass ich Sie stören und bitten muss, auch mir alles zu erzählen — noch einmal. Inspector Strush wurde inzwischen anderweitig eingesetzt, und ich bin eben dabei, mich in den Fall einzuarbeiten ... Rauchen Sie?“ Er hielt ihr sein Zigarettenetui entgegen, machte eine ungeschickte Bewegung, sodass es ihm aus der Hand glitt und zu Boden gefallen wäre, wenn Miss Craigie nicht schnell zugegriffen und es aufgefangen hätte.
Taggart nahm es mit höflichem Dank zurück. „Wie dumm von mir“, fuhr er fort, „Ihnen das Etui zu präsentieren, wo es doch leer ist.“ Er steckte es seelenruhig wieder ein und brachte dafür eine Packung Pall Mall zum Vorschein, aus der sich sein reizvolles Visavis, ohne sich zu zieren, bediente. Nachdem er Miss Craigie und sich selbst Feuer gegeben hatte, rauchten beide stumm einige Züge. Dann erst nahm Helen Craigie das Wort:
„Strush sieht man den Polizeibeamten auf zehn Meilen gegen den Wind an“, meinte sie lächelnd, „aber Sie, Mr. Taggart, wirken ganz anders! Ich kenne Philip Ashburton eine halbe Ewigkeit, viel länger als seine Frau — aber Sie brauchen deswegen nicht gleich zu denken, dass ich je ein Verhältnis mit ihm hatte!“
Derart respektlose Gedanken seien ihm nie gekommen, warf der Inspector trocken ein.
„Umso besser!“ Blitzschnell glitt ihre Zungenspitze über die vollen Lippen. „Elga ist reizend. Sie wurde ohne Weiteres in unsere Freundschaft mit einbezogen, als Philip sie geheiratet hatte. An dem bewussten 21. August — es war Sonntag — rief mich Elga gegen zehn an und fragte, ob sie den Nachmittag und den Abend bei mir verbringen dürfe. Philip habe dienstlich im Kriegsministerium zu tun und werde vermutlich den ganzen Tag und die halbe Nacht wegbleiben. Ich sagte mit Freuden zu. Wir plauderten noch ein wenig und dann legte Elga auf, nachdem sie noch gesagt hatte, sie werde gegen halb drei bei mir aufkreuzen. Wer nicht kam, war Elga. Offengestanden war ich gleich ein wenig unruhig, denn es war nicht Elgas Art, ihren Besuch anzukündigen und dann nicht zu kommen, ohne wenigstens abzusagen. Ich rief verschiedentlich bei ihr zu Hause an, erhielt aber gar keine Verbindung, weil das Hausmädchen Ausgang hatte, wie sich später herausstellte. Am Abend kamen unangesagt Gäste. Wir blieben bis nach Mitternacht zusammen und dann versuchte ich es noch einmal mit einem Anruf. Philip meldete sich und fragte sofort, ob Elga bei mir sei; sie habe beim Frühstück davon gesprochen, dass sie den Tag bei mir in Epsom verbringen werde. Da hatten wir die Bescherung! — Alles andere wissen Sie. Elga war und blieb unauffindbar — wurde am Abend des 23. August noch einmal in der Nähe von Dunster Castle gesehen ...“
„Ja, natürlich“, fiel ihr Taggart ins Wort. „Das ist der Stand der Dinge — und dabei ist es geblieben. Zu dumm, dass ich jetzt erst mit dem Fall in Berührung komme! Auf diese Weise müssen gewisse Dinge von Neuem aufgerollt werden.“ Er lächelte sein Visavis strahlend an, und dieses Lächeln fand bei Helen Craigie günstige Resonanz. „Eine Gewissensfrage, Miss Chraigie: Welche Theorie haben Sie sich über Elgas Verschwinden gebildet?“
Miss Craigies bezauberndes Gesicht war ernst und finster geworden. Mit einer energischen Bewegung drückte sie ihre Zigarette im Aschenbecher aus und legte die gefalteten Hände in den Schoß. Sekunden Bruchteile lang schloss sie gedankenvoll die Augen, ehe sie den Kopf hob und ernst sagt:
„Wenn auch Captain Benhams Erlebnis eine andere Deutung nahelegt, so möchte ich doch klar und unmissverständlich aussprechen, dass Elga einem Verbrechen zum Opfer gefallen ist. Dass sie Philip freiwillig verlassen hat, kommt keinesfalls infrage.“
„Meinen Sie?“, wandte der Inspector, scheinbar ungläubig, ein. „Bedenken Sie den Altersunterschied.“
„Pah!“ Sie machte eine wegwerfende Geste mit der rechten Hand. „Wenn der Mann achtzehn Jahre älter ist als die Ehefrau, kann man meiner Meinung nach noch nicht von Altersunterschied sprechen. Philip Ashburton ist gesund und kräftig, ein Kerl wie ein Fisch im Wasser, und man darf sich von seiner Arroganz und seinem Standesdünkel nicht täuschen lassen. Als Mensch ist er ganz reizend. Sowohl