So viele Killer: Vier Kriminalromane. Alfred Bekker
zum Husten. Entsetzt kniete er neben dem Leblosen nieder; der Mann war tot, daran gab es keinen Zweifel. Neben der Brust ruhte die rechte Hand, die immer noch die Griffschalen eines 7,65er Brownings umklammert hielt.
Taggart erhob sich und untersuchte flüchtig die beiden Fenster. Sie waren von innen fest verschlossen. Der Raum hatte nur den einen Ausgang zum Korridor, und dieser wiederum nur einen Ausgang zum Flur. Ein eventueller Mörder musste sich also noch in der Wohnung befinden ... Da Taggart nach dem Schuss keinerlei Geräusche mehr gehört hatte, durfte er sicher sein, dass es einen Mörder nicht gab. Schon nach der ersten flüchtigen Untersuchung stand für ihn fest, dass Stanley Benham Selbstmord verübt hatte. Taggart strich sich verwirrt durchs Haar. Kein Zweifel, sein unvermuteter, unangemeldeter Besuch hatte den jungen Captain in wilde Panik versetzt und die tragische Kurzschlusshandlung ausgelöst.
*
Raymond Taggart hatte mehrere Minuten dazu gebraucht, sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Als sich danach außerhalb des Hauses immer noch nichts rührte, konnte er annehmen, dass die Schussdetonation von dritten Personen nicht gehört worden war, was ihm, nachdem es sich bei dem Selbstmörder um einen Angehörigen des Kriegsministeriums handelte, nur angenehm sein konnte.
Im Haus selbst schien sich Benham — zumindest im Augenblick — ganz allein aufgehalten zu haben, was Taggart angesichts des delikaten Charakters der Angelegenheit ebenfalls nur recht sein konnte. Benhams Appartement umfasste die drei Räume des Erdgeschosses; zur einzigen Etage führte eine Wendeltreppe hinauf, die bei einer verschlossenen Tür endete. Dahinter mochte die Haushälterin wohnen.
Als er das alles festgestellt hatte, ging der Inspector zum Tatort zurück und rief den Yard an. Er ließ sich mit dem Nachtdienst verbinden, teilte den Sachverhalt mit und bat um Entsendung der Mordkommission sowie um äußerste Diskretion. Danach führte er ein kurzes Gespräch mit dem zuständigen Revier, dessen Leiter er ebenfalls zu strengstem Stillschweigen verpflichtete, und jetzt erst rief er das Kriegsministerium an. Er verlangte Colonel Ashburton zu sprechen, was erst nach längerem Hin und Her möglich war.
„Ashburton am Apparat“, sagte die bekannte arrogante Stimme. „Was ist denn jetzt schon wieder los?“
Taggart sagte es klar und deutlich. Ashburtons erste Reaktion war bezeichnend. Er fragte:
„Ist der — hm! — unangenehme Vorfall allgemein bemerkt worden?“
„Glücklicherweise nicht, Sir“, gab der Inspector verstimmt zur Antwort. „Revier und Mordkommission habe ich bereits zu absoluter Geheimhaltung verpflichtet.“
„Sehr umsichtig. Ich bin in spätestens dreißig Minuten bei Ihnen. Noch eine Frage: Glauben Sie, dass Benhams Selbstmord mit dem Verschwinden meiner Frau zusammenhängt?“
„Das lässt sich im Augenblick weder bejahen noch mit Sicherheit verneinen, Sir ...“
„Hm ...“ Ashburton schien kurz nachzudenken und schloss das Gespräch mit einem unverschämten: „Sie warten auf jeden Fall auf mich!“ ab.
*
Bis zum Eintreffen der Mordkommission nahm Taggart aus gewohnter Routine die Durchsuchung des Pavillon-Hauses auf.
Im Arbeitszimmer nahm er sich zuerst den Bücherschrank vor, der geographische Werke sowie, erstaunlicherweise, eine Fülle pornographischer Literatur enthielt.
Das ist für Benhams Charakterbild immerhin bezeichnend!, überlegte der Inspector.
Die Ebenholzsäule zwischen Bücherschrank und Schreibtisch, auf der eine imitierte Ming-Vase stand, nahm sich ausgesprochen deplatziert aus. Taggart schenkte ihr erst dann nähere Beachtung, als er sie beinahe versehentlich umgestoßen hätte und dabei bemerkte, dass sie abnorm leicht — also vermutlich innen hohl war. Dieser Umstand erregte seine Aufmerksamkeit. Vermutlich hatte der Selbstmörder die Höhlung als Aufbewahrungsort für Gegenstände benützt, die ein etwaiger Besucher weder sehen noch finden sollte.
Nachdem Taggart die Ming-Vase auf dem Schreibtisch abgesetzt hatte, untersuchte er die Säule und fand fast auf Anhieb eine kleine Warze, scheinbar eine Unebenheit im Holz, in Wirklichkeit aber einen geschickt eingefügten Druckknopf, der mit dem Öffnungsmechanismus in Verbindung stand. Taggart drückte kräftig auf den Knopf, worauf sich das obere Drittel der Säule wie ein Deckel abheben ließ. Jetzt brauchte er nur mehr den hohlen Teil umzudrehen und den Inhalt auszuschütteln: vier Stangen amerikanische Zigaretten und eine fünfte, bereits angebrochene.
Taggart bückte sich und hob eines der Päckchen auf, die sämtlich ohne Steuerbanderole waren. Er zog eine Zigarette heraus und roch an ihr. Dann schob er sie zwischen die Lippen, brannte sie an und rauchte einen tiefen Zug. Dieser eine genügte; danach drückte er die Zigarette wieder sorgfältig im Aschenbecher aus.
Gleichzeitig hörte er im Park Motorengeräusch. Er verließ das Zimmer, eilte durch den Korridor und trat vor das Haus, wo eben ein Polizeiwagen vorfuhr. Diesem entstiegen zwei Beamte, ein Sergeant und ein Constabler; der Sergeant, ein älterer, fuchsgesichtiger Mann, stellte sich als Harry Lies vor.
Taggart begegnete den Revierbeamten mit diplomatischem Takt, vermied es aber ängstlich, Einzelheiten über den Selbstmord preiszugeben. Im Gespräch mit den beiden stellte sich heraus, dass Captain Benham nicht polizeibekannt war.
„Tja — da können wir auch nichts machen ...“, meinte Lies geistvoll. „Das Beste wird wohl sein, wir warten auf die Mordkommission, ohne ihr vorher ins Handwerk zu pfuschen ...“
Genau das hatte Taggart hören wollen.
Fast zugleich mit der Mordkommission traf ein Dienstwagen des Kriegsministeriums mit Colonel Ashburton und drei weiteren Offizieren ein, deren Namen Taggart bei der Vorstellung nicht verstand.
„Entschuldigen Sie mich noch einen Augenblick, Colonel“, bat Taggart, „ich muss zuallererst den Kommissionsleiter, Inspector Collins, einweisen. Danach stehe ich Ihnen voll und ganz zur Verfügung.“
Collins, ein schweigsamer, älterer Beamter, der sich im Verlauf von Jahrzehnten zu seinem Rang hochgedient hatte, fragte argwöhnisch:
„Stimmt bei dem Selbstmord etwas nicht. Taggart, weil Sie es so sehr eilig haben ...?“ Ein musternder Blick streifte den C.I.D.-Mann.
„Die Unstimmigkeiten liegen lediglich beim Motiv“, erklärte dieser, „nicht aber bei der Technik der Ausführung. Wenn ich auch die Routine ablaufen lassen muss, so werden Ihre Untersuchungen doch kaum etwas an dem Ergebnis ändern. Lassen Sie Ihre Leute ruhig anfangen, ich selbst muss die Herren vom Kriegsministerium verarzten.“
„Dazu wünsche ich Ihnen viel Vergnügen!“, versetzte Collins brummig und ging an die Arbeit.
Erst jetzt fand Inspector Taggart Zeit, sich den vier Offizieren zu widmen. Während er sie ins Haus führte und vom Flur aus einen Blick auf den Toten werfen ließ, schilderte er zum soundsovielten Male die näheren Umstände. Er schloss mit der lakonischen Bemerkung:
„Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass mein zu so später Stunde erfolgter Besuch Captain Benham einen Schock versetzt und dadurch die ganze Tragödie ausgelöst hat.“
„Unsinn“, widersprach Ashburton, „Benham hat sich ja auch nicht umgebracht, als Strush bei ihm vorsprach.“
„Nein, das ist kein echter Einwand, Sir“, korrigierte Taggart mürrisch. „Bei Strush hat Benham sofort gewusst, worum es ging, während er — so war zumindest mein Eindrude — bei mir von der intuitiven Überzeugung befangen war, es ginge diesmal um andere Dinge. Eine Frage, Colonel Ashburton: Reiste Benham regelmäßig dienstlich ins Ausland?“
„Komische Frage!“, mischte sich ein kleiner, stämmiger Major ein, der bisher geschwiegen hatte. „Wie kommen Sie darauf? Aber es stimmt. Benham war seit sechs Monaten als Kurieroffizier eingesetzt und flog jeden Monat zweimal, wenn auch nicht an bestimmten Tagen, zum Festland hinüber. Meist nach Paris, manchmal aber auch nach Brüssel, Berlin oder Rom. Spielt das eine Rolle?“
„Ich denke, ja!“ Taggart machte eine hoffnungslose Geste. „Bitte,