Seine Exzellenz Eugene Rougon. Emile Zola

Seine Exzellenz Eugene Rougon - Emile Zola


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zweifellos alles erfahren, was sie zu wissen wünschte. Sie warf noch ein paar Fragen hin, die sehr wenig mit dem Thema zu tun hatten und deren Seltsamkeit Rougon erstaunte. Dann saß sie mit gefalteten Händen da und schwieg. Sie hielt die Augen geschlossen. Sie dachte tief nach.

      »Nun?« fragte er lächelnd.

      »Nichts«, murmelte sie, »es hat mich traurig gemacht.«

      Er war gerührt und versuchte, abermals ihre Hände zu fassen, doch sie verbarg sie unter der Spitze, und das Schweigen dauerte an. Nach Verlauf von zwei langen Minuten hob sie die Lider wieder und sagte: »Sie haben also irgendwelche Pläne?«

      Er sah sie fest an. Flüchtig tauchte ein Verdacht in ihm auf. Aber sie war jetzt so anbetungswürdig, wie sie da in der Haltung einer Leidenden tief im Sessel lag, als hätten die Kümmernisse ihres »lieben Freundes« sie aller Kraft beraubt, daß er sich nicht an das leichte Frösteln kehrte, das ihm soeben über den Nacken gerieselt war. Sie schmeichelte ihm sehr. Gewiß werde er nicht lange abseits bleiben, eines Tages werde er wieder der Herr sein. Sie sei überzeugt, daß er sich mit großen Gedanken trage und seinem Stern vertraue, denn das stehe ihm an der Stirn geschrieben. Weshalb er sie nicht zu seiner Vertrauten mache? Sie sei so verschwiegen, es würde sie so beglücken, seine Zukunft mit ihm zu teilen! Berauscht, immer noch bestrebt, die kleinen Hände, die sich in der Spitze verbargen, wieder zu erwischen, sprach Rougon weiter, sprach immerzu, gab schließlich alles preis, seine Hoffnungen, seine Gewißheiten. Sie drängte ihn nicht mehr, ließ ihn ungestört weiterreden, rührte sich nicht, aus Angst, er könnte dann aufhören. Sie betrachtete ihn forschend, zergliederte ihn Stück für Stück, untersuchte seinen Schädel, wog seine Schultern, maß seine Brust. Das war entschieden ein starker Mann, der sie, so kräftig sie auch war, sich mit einem Handgriff auf den Rücken geworfen und sie ohne weiteres so hoch hinaufgetragen haben würde, wie sie gewollt hätte.

      »Ach, der liebe Freund!« sagte sie plötzlich. »Was mich betrifft, ich habe nie gezweifelt!«

      Sie hatte sich halb erhoben, hatte die Arme ausgebreitet und die Spitze zu Boden gleiten lassen. Nun kam sie wieder zum Vorschein, noch nackter, bot sich widerstandslos dar, ließ die Schultern mit einer so geschmeidigen Bewegung einer verliebten Katze aus der Gaze schlüpfen, daß sie aus dem Oberteil ihres Gewandes herauszuspringen schien. Es war eine jähe Vision, als gewähre sie Rougon eine Belohnung und ein Versprechen. Und war nicht nur das Stück Spitze herabgeglitten? Schon hob sie es auf, schlang es fester um sich.

      »Pst!« flüsterte sie, »Luigi wird böse.«

      Und sie lief zu dem Maler hin, beugte sich abermals über ihn und sprach, den Mund dicht an seinem Halse, sehr schnell auf ihn ein. Rougon rieb sich, als sie nicht mehr bebend vor Lebendigkeit bei ihm war, heftig die Hände, war nervös, beinahe ärgerlich. Sie rief bei ihm ein seltsames Prickeln auf der Haut hervor. Und er fluchte auf sie. Mit zwanzig Jahren hätte er sich nicht dümmer anstellen können. Sie hatte ihm soeben wie einem Kind Geständnisse entlockt, ihm, der seit zwei Monaten versuchte, sie zum Reden zu bringen, ohne ihr etwas anderes abzugewinnen als herzliches Gelächter. Sie hatte ihm nur einen Augenblick lang ihre Hände zu entziehen brauchen, und schon hatte er sich soweit vergessen, alles zu erzählen, damit sie sie ihm wieder reichte. Jetzt – das wurde ihm klar – würde sie ihn erobern; sie erwog wohl schon, ob es noch der Mühe lohne, ihn zu verführen.

      Rougon lächelte mit der Überlegenheit eines starken Mannes. Er würde sie zerbrechen, wenn er es wollte. War nicht sie es, die ihn herausforderte? Und unredliche Gedanken stiegen in ihm auf, ein ganzer Verführungsplan, in dessen Verfolg er sie sitzenlassen würde, nachdem er sie besessen. Er konnte wahrlich nicht diesem erwachsenen Mädchen gegenüber, die in solcher Art ihre Schultern zeigte, die Rolle eines Einfaltspinsels spielen. Dennoch war er nicht mehr ganz sicher, ob die Spitze nicht von selber herabgeglitten war.

      »Finden Sie, daß ich graue Augen habe?« fragte Clorinde, die wieder zu ihm kam.

      Er stand auf, sah sie aus nächster Nähe an, ohne dadurch die klare Ruhe ihrer Augen zu trüben. Doch als er die Hände vorstreckte, gab sie ihm einen leichten Schlag. Es sei nicht nötig, daß er sie berühre. Sie war jetzt sehr kalt. Mit einer Schamhaftigkeit, die sich über die kleinsten Lücken beunruhigte, wickelte sie sich in ihren Spitzenlappen. Mochte er auch seinen Spott mit ihr treiben, sie necken, Miene machen, Gewalt zu gebrauchen, sie verhüllte sich nur um so mehr, stieß kleine Schreie aus, wenn er die Spitze streifte. Außerdem wollte sie sich nicht wieder hinsetzen.

      »Ich möchte lieber ein bißchen gehen«, sagte sie, »das macht meine Beine gelenkig.«

      Da begleitete er sie. Sie wanderten zusammen auf und ab. Er versuchte, ihr nun seinerseits Geständnisse zu entlocken. Für gewöhnlich antwortete sie nicht auf Fragen. Sie hatte eine Art, sprunghaft zu plaudern, unterbrochen von Ausrufen, untermischt mit Geschichtchen, die sie niemals zu Ende erzählte. Als er sie mit List über eine zweiwöchige Abwesenheit in Gesellschaft ihrer Mutter im Monat zuvor befragte, reihte sie eine nicht endende Folge von Anekdoten über diese Reisen aneinander. Sie sei überall gewesen, in England, Spanien, Deutschland; alles habe sie gesehen. Daran schloß sich ein Regen unwichtiger kindischer Beobachtungen über das Essen, die Moden, das jeweilige Wetter. Zuweilen begann sie etwas zu erzählen, wobei sie sich mit bekannten Persönlichkeiten, deren Namen sie anführte, in Szene setzte. Rougon spitzte die Ohren, glaubte, sie werde sich endlich eine vertrauliche Äußerung entfahren lassen; aber die Erzählung schlug in Kinderei um oder blieb wohl auch ohne Abschluß. Auch an diesem Tage erfuhr er nichts. Auf ihrem Gesicht lag das Lächeln, hinter dem sie sich verbarg. Sie blieb trotz all ihren geschwätzigen Ergüssen undurchdringlich.

      Betäubt von diesen verwirrenden Mitteilungen, von denen die einen die anderen Lügen straften, wußte Rougon schließlich nicht mehr, ob er ein zwölfjähriges, bis zur Dummheit unschuldiges Mädelchen vor sich habe oder eine sehr gescheite Frau, die aus Raffinement zur Einfalt zurückgekehrt war.

      Clorinde unterbrach sich in der Erzählung eines Abenteuers, das sie in einer kleinen spanischen Stadt erlebt hatte, wo sie das Bett, das ein Reisender ihr aus Ritterlichkeit angeboten, habe annehmen müssen, während er auf einem Stuhl schlief. »Sie sollten nicht in die Tuilerien zurückkehren«, sagte sie ohne jeden Übergang. »Man muß Sie dort vermissen.«

      »Danke schön, Fräulein Machiavelli«, erwiderte er lachend.

      Sie lachte lauter als er. Aber dennoch fuhr sie fort, ihm ausgezeichnete Ratschläge zu geben. Und als er wieder versuchte, sie wie im Spiel in den Arm zu kneifen, wurde sie böse, schrie, man könne keine zwei Minuten lang ernsthaft reden. Ach, wenn sie ein Mann wäre. Wie gut würde sie es verstehen, ihren Weg zu machen! Die Männer hatten so wenig Verstand!

      »Kommen Sie, erzählen Sie mir die Lebensgeschichten Ihrer Freunde«, fing sie wieder an und setzte sich auf die Tischkante, während Rougon vor ihr stehen blieb.

      Luigi, der den Blick nicht von ihnen wandte, schloß heftig seinen Malkasten.

      »Ich gehe weg«, sagte er.

      Aber Clorinde eilte auf ihn zu, holte ihn zurück, schwor, sie werde ihm gleich wieder Modell stehen. Sie mußte sich wohl davor fürchten, mit Rougon allein zu bleiben. Und als Luigi nachgab, versuchte sie Zeit zu gewinnen.

      »Sie werden mich doch etwas essen lassen. Ich habe solchen Hunger! Ach, nur zwei Bissen.«

      Sie öffnete die Tür und rief: »Antonia! Antonia!«

      Und sie erteilte auf italienisch eine Anordnung. Kaum hatte sie sich wieder auf die Tischkante gesetzt, als Antonia eintrat, auf jeder Hand ein Butterbrot. Die Dienerin hielt sie ihr hin wie auf einem Tablett, mit dem ihr eigenen Lachen einer albernen Person, die man gerade kitzelt, einem Lachen, das ihren roten Mund in dem dunklen Gesicht aufriß. Dann ging sie, die Hände an ihrem Rock abwischend, hinaus. Clorinde rief sie zurück, um ein Glas Wasser zu verlangen.

      »Wollen Sie mithalten?« fragte sie Rougon. »Butter ist etwas sehr Gutes. Manchmal streue ich Zucker darauf. Aber man darf nicht immer ein Leckermaul sein.«

      Das war sie in der Tat nicht. Rougon hatte sie eines Morgens beim Frühstück überrascht, als sie im Begriff war, ein Stück kalten Eierkuchen vom Tage


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