Seine Exzellenz Eugene Rougon. Emile Zola
auch immer«, schloß Herr Béjuin, »Rougon tut nicht recht daran, sie nicht zu heiraten ... Das verleiht einem Mann Ansehen.«
Dann einigten sich alle drei über die Frau, die Rougon brauche: eine nicht mehr ganz junge Frau, mindestens fünfunddreißig Jahre alt, die reich sein müsse und imstande, sein Haus nach den Prinzipien vornehmer Ehrbarkeit zu führen.
Unterdessen wurde es ringsum immer lauter. Die Herren hatten bei ihren schlüpfrigen Anekdoten so sehr alles andere vergessen, daß sie gar nicht merkten, was um sie her geschah. Von weitem, aus der Tiefe der Wandelgänge, hörte man die fernen Stimmen der Huissiers rufen: »Zur Sitzung, die Herren, zur Sitzung!« Und durch die Türen aus massivem Mahagoni, deren Flügel weit offenstanden und die goldenen Sterne ihrer Füllungen zeigten, kamen von allen Seiten Abgeordnete herbei. Der bis dahin halbleere Saal füllte sich nach und nach. Die kleinen Gruppen, die sich gelangweilt von Bank zu Bank unterhielten, die Schläfrigen, die ihr Gähnen unterdrückten, wurden geradezu überschwemmt von der steigenden Flut und der Menge der Händedrücke. Während die Mitglieder zur Rechten wie zur Linken ihre Plätze einnahmen, lächelten sie einander zu, sie hatten eine gewisse Familienähnlichkeit: Gesichter, die alle in gleicher Weise von der Pflicht durchdrungen waren, zu deren Erfüllung sie hierherkamen. Ein dicker Mann auf der letzten Bank links, der zu fest eingenickt war, wurde von seinem Nachbarn geweckt, und nachdem dieser ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte, rieb er sich schleunigst die Augen und nahm eine angemessene Haltung an. Die Sitzung, die sich bisher mit für diese Herren sehr langweiligen Fragen hingeschleppt hatte, gewann jetzt das größte Interesse.
Von der Menge geschoben, gelangten Herr Kahn und seine beiden Kollegen zu ihren Bänken, ohne zu wissen wie. Sie plauderten noch immer, bemüht, ihr Lachen zu unterdrücken. Herr La Rouquette erzählte eine neue Geschichte von der schönen Clorinde. Sie hatte eines Tages den erstaunlichen Einfall gehabt, ihr Zimmer mit schwarzen, von silbernen Tränen übersäten Behängen ausschlagen zu lassen und dort, auf dem Bett liegend, ganz vergraben unter ebenfalls schwarzen Decken, aus denen nur ihre Nasenspitze hervorschaute, ihre nächsten Freunde zu empfangen.
Als Herr Kahn sich setzte, kam er plötzlich zur Besinnung.
»Dieser La Rouquette mit seinem Altweibergeschwätz ist blödsinnig«, murmelte er. »Jetzt habe ich Rougon verpaßt!«
Und sich mit wütender Miene zu seinem Nachbarn umwendend, sagte er: »Hören Sie, Béjuin, Sie hätten mich wirklich aufmerksam machen können!«
Rougon, den man soeben mit dem üblichen Zeremoniell eingeführt hatte, saß bereits zwischen zwei Staatsräten auf der Bank der Regierungsvertreter, einer Art riesiger Mahagonilade, die unten vor dem Präsidiumstisch aufgestellt war, genau dort, wo früher die nun abgeschaffte Rednertribüne gestanden hatte. Seine breiten Schultern sprengten fast seine Amtstracht aus grünem Tuch, die am Kragen und an den Ärmeln überreich mit Gold bestickt war. Das Gesicht dem Saal zugewandt, das dichte ergrauende Haar über der viereckigen Stirn gescheitelt, versteckte er seine Augen hinter schweren, stets halbgesenkten Lidern; und seine große Nase, seine sehr fleischigen Lippen, die langen Backen, auf denen seine sechsundvierzig Jahre keine einzige Falte eingezeichnet hatten, waren von abstoßender Gewöhnlichkeit, die nur hin und wieder blitzartig von der Schönheit der Kraft verklärt wurde. Angelehnt, das Kinn im Frackkragen, saß er ruhig da, mit gleichgültigem, ein wenig müdem Ausdruck, und schien niemanden zu sehen.
»Er sieht aus wie immer«, murmelte Herr Béjuin.
Die Abgeordneten auf den Bänken beugten sich vor, um festzustellen, was für ein Gesicht er mache. Vorsichtige Bemerkungen liefen im Flüsterton von Ohr zu Ohr. Vor allem aber rief Rougons Erscheinen starkes Aufsehen auf den Tribünen hervor. Um zu zeigen, daß sie anwesend seien, streckten die Charbonnels ihre entzückten Gesichter so weit vor, daß die beiden fast in den Saal hinabgestürzt wären. Frau Correur hatte gehüstelt und dabei ein Taschentuch gezogen, das sie unter dem Vorwand, es an die Lippen zu führen, leicht schwenkte. Oberst Jobelin hatte sich wieder gestrafft, und die hübsche Frau Bouchard, die rasch zur ersten Bank hinuntergestiegen war, schnaufte ein wenig, als sie ihr Hutband neu knüpfte, indes sich Herr d'Escorailles schweigend und sehr verstimmt hinter ihr hielt.
Was die schöne Clorinde betraf, so tat sie sich keinerlei Zwang an. Da sie sah, daß Rougon den Blick nicht hob, klopfte sie in deutlich vernehmbaren kleinen Schlägen mit ihrem Opernglas auf den Marmor der Säule, an die sie sich lehnte; und als er sie auch weiterhin nicht beachtete, sagte sie mit so heller Stimme, daß man es im ganzen Saal hörte, zu ihrer Mutter: »Er schmollt also, der plumpe Duckmäuser!«
Ein paar Abgeordnete drehten sich lächelnd um. Rougon entschloß sich, der schönen Clorinde einen Blick zu schenken. Darauf klatschte sie, während er ihr ein unmerkliches Zeichen mit dem Kopf gab, triumphierend in die Hände, bog sich lachend hintenüber und sprach dabei laut zu ihrer Mutter, ohne sich auch nur im allergeringsten durch die vielen Menschen da unten, die sie musterten, stören zu lassen.
Rougon hatte, bevor er die Lider wieder sinken ließ, langsam an den Tribünen entlanggesehen, wo sein Blick gleichzeitig Frau Bouchard, Oberst Jobelin, Frau Correur und die Charbonnels umfaßte. Sein Gesicht blieb unbewegt. Er versenkte wieder das Kinn in den Frackkragen, schloß halb die Augen und unterdrückte ein leichtes Gähnen.
»Ich werde doch ein Wort mit ihm reden«, hauchte Herr Kahn Herrn Béjuin ins Ohr.
Doch als er aufstand, gab der Präsident, der sich seit einem Weilchen vergewisserte, daß alle Abgeordneten zur Stelle waren, ein energisches Glockenzeichen. Und plötzlich herrschte tiefe Stille.
In der ersten Sitzreihe, deren gelbe Marmorpulte Auflagen aus weißem Marmor hatten, stand ein blonder Herr. In der Hand hielt er ein großes Blatt Papier, von dem er beim Sprechen kein Auge ließ.
»Ich habe die Ehre«, sagte er mit singender Stimme, »einen Bericht über den Gesetzentwurf vorzulegen, welcher dem Staatsministerium für das Finanzjahr 1856 die Bereitstellung eines Betrages von vierhunderttausend Francs vorschlägt, um die Kosten der Taufe des Kaiserlichen Prinzen12 und der aus diesem Anlaß zu feiernden Feste zu bestreiten.«
Und gerade schickte er sich mit verhaltenem Schritt an, den Bericht zu übergeben, als alle Abgeordneten in völliger Einmütigkeit riefen: »Verlesen! Verlesen!«
Der Referent wartete, bis der Präsident entschieden hatte, daß die Verlesung stattfinden sollte. Und dann begann er in beinahe ergriffenem Ton: »Meine Herren, der Gesetzentwurf, der uns hier vorgelegt wird, ist einer von denen, welche die üblichen Formen einer Abstimmung als zu langsam erscheinen lassen, weil sie den spontanen Begeisterungsschwung des Corps législatif hemmen.«
»Sehr richtig!« riefen mehrere der Mitglieder.
»In den bescheidensten Familien«, fuhr der Referent fort, wobei er jedes Wort sorgfältig modulierte, »ist die Geburt eines Sohnes, eines Erben, mit allen Vorstellungen des Fortbestehens, die mit diesem Namen verknüpft sind, eine Veranlassung zu so süßer Freude, daß die Prüfungen der Vergangenheit vergessen werden und einzig die Hoffnung über der Wiege des Neugeborenen schwebt. Aber was soll man von diesem Familienfest sagen, wenn es zugleich das Fest einer großen Nation ist und zudem ein europäisches Ereignis!«
Da brach ein allgemeines Entzücken aus. Dieses rednerische Glanz stück riß die Kammer hin. Rougon, der zu schlafen schien, sah auf den vor ihm ansteigenden Bänken nur freudestrahlende Gesichter. Einige Abgeordnete lauschten, die Hände an den Ohren, mit übertriebener Aufmerksamkeit, um sich nichts von dieser gepflegten Prosa entgehen zu lassen.
Nach einer kurzen Pause fuhr der Referent mit erhobener Stimme fort: »Hier, meine Herren, ist es in der Tat die große französische Familie, die alle ihre Mitglieder auffordert, ihrer Freude Ausdruck zu verleihen; und welcher Pracht bedürfte es nicht, wäre es überhaupt möglich, daß die äußeren Kundgebungen der Größe ihrer gerechtfertigten Hoffnungen zu entsprechen vermöchten.« Und abermals legte er eine Pause ein.
»Sehr richtig! Sehr richtig!« riefen die gleichen Stimmen.
»Das ist sehr fein gesagt«, bemerkte Herr Kahn, »nicht wahr, Béjuin?«
Herr Béjuin wiegte leicht