Erniedrigte und Beleidigte. Fjodor Dostojewski

Erniedrigte und Beleidigte - Fjodor Dostojewski


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nur hier, um diesen alten Mann anzusehen?‹ Ein Gefühl des Ärgers ergriff mich. ›Was geht er mich eigentlich an?‹ dachte ich in Erinnerung an die sonderbare peinliche Empfindung, mit der ich ihn schon auf der Straße angesehen hatte. ›Und was gehen mich alle diese langweiligen Deutschen an? Wozu diese sentimentale Stimmung? Wozu diese wohlfeile Aufregung über allerlei Unwichtiges, die ich in der letzten Zeit an mir bemerke und die mich an einer vernünftigen Lebensführung hindert und mir den klaren Blick für das Leben nimmt? Hat mir das doch schon ein scharfsinniger Rezensent aufgemutzt, als er meine letzte Novelle mißbilligend kritisierte.‹ Trotz dieser Gedanken und Selbstvorwürfe blieb ich jedoch auf meinem Platz sitzen; meine Krankheit aber steigerte sich immer mehr und mehr, und ich empfand schließlich eine wahre Scheu davor, das warme Zimmer zu verlassen. Ich nahm die ›Frankfurter Zeitung‹ zur Hand, las darin zwei Zeilen und schlief ein. Die Deutschen störten mich nicht. Sie lasen, rauchten und teilten einander nur selten, alle halbe Stunde einmal, kurz und halblaut irgendeine Neuigkeit aus Deutschland mit oder auch einen Witz oder eine geistreiche Bemerkung des berühmten deutschen Witzboldes Saphir, worauf sie sich dann mit verdoppeltem nationalem Stolz von neuem in ihre Lektüre vertieften.

      Nachdem ich etwa eine halbe Stunde geschlummert hatte, kam ich infolge eines heftigen Fieberschauers wieder zu Bewußtsein. Es war entschieden nötig, daß ich mich nach Hause begab. Aber in diesem Augenblick hielt eine stumme Szene, die sich im Zimmer abspielte, mich noch einmal zurück. Ich habe bereits gesagt, daß der Alte, sobald er sich auf seinen Stuhl niedergelassen hatte, seinen Blick sogleich starr irgendwohin zu richten und dann den ganzen Abend über nicht mehr auf einen anderen Gegenstand zu lenken pflegte. Auch mir war es einige Male begegnet, das Ziel dieses gedankenlosen, nichts unterscheidenden Blickes zu werden; es war das eine unangenehme, ja geradezu unerträgliche Empfindung, und ich wechselte gewöhnlich so schnell wie möglich den Platz. In diesem Augenblick war ein anderer das Opfer des Alten geworden: ein sehr kleiner, rundlicher, außerordentlich sauberer Deutscher mit einem steif gestärkten Stehkragen und mit einem ungewöhnlich roten Gesicht, ein von auswärts gekommener Gast, ein Kaufmann aus Riga namens Adam Iwanowitsch Schulz, wie ich später erfuhr; er war mit Müller eng befreundet, kannte aber den Alten und viele der übrigen Gäste noch nicht. Er las mit Genuß den ›Dorfbarbier‹ und trank seinen Punsch dazu; da bemerkte er auf einmal, als er den Kopf in die Höhe hob, daß der unbewegliche Blick des Alten auf ihm ruhte. Das befremdete ihn. Adam Iwanowitsch war ein sehr empfindlicher, reizbarer Mensch, wie überhaupt alle Deutschen besseren Standes. Es schien ihm seltsam und beleidigend, daß ihn jemand so starr und ungeniert fixierte. Aber seinen Unwillen unterdrückend, wandte er seine Augen von dem taktlosen Gast ab, murmelte etwas vor sich hin und verbarg sich schweigend hinter seiner Zeitung. Indessen konnte er sich doch nicht bezwingen und spähte ein paar Minuten darauf argwöhnisch hinter der Zeitung hervor: derselbe starre Blick, dasselbe gedankenlose Fixieren. Auch diesmal schwieg Adam Iwanowitsch noch. Aber als derselbe Vorgang sich zum drittenmal wiederholte, fuhr er auf und hielt es für seine Pflicht, seine Würde zu wahren und nicht angesichts eines anständigen Publikums die schöne Stadt Riga beleidigen zu lassen, als deren Repräsentanten er sich wahrscheinlich betrachtete. Mit einer Gebärde der Ungeduld warf er die Zeitung auf den Tisch und klopfte energisch mit dem Stock auf, an dem sie befestigt war; von dem Gefühl der eigenen Würde entflammt und dunkelrot im Gesicht von dem genossenen Punsch und von der Ehrenkränkung, richtete er nun seinerseits seine kleinen funkelnden Augen auf den lästigen alten Mann. Es schien, als ob sie beide, der Deutsche und sein Gegner, einander durch die magnetische Kraft ihrer Blicke überwältigen wollten und nun abwarteten, wer zuerst in Verlegenheit geraten und die Augen niederschlagen werde. Das Klopfen mit dem Stock und Adam Iwanowitschs ungewöhnliche Körperhaltung erregten die Aufmerksamkeit aller Gäste. Alle ließen sofort von ihrer Beschäftigung ab und beobachteten mit ernster, stummer Neugier die beiden Gegner. Die Szene gestaltete sich sehr komisch. Aber der Magnetismus der herausfordernden Blicke des geröteten Adam Iwanowitsch blieb ganz wirkungslos. Ohne sich um irgend etwas zu kümmern, fuhr der Alte fort, den wütenden Herrn Schulz gerade anzusehen; als wäre er auf dem Mond und nicht auf der Erde, bemerkte er offenbar gar nicht, daß er der Gegenstand der allgemeinen Neugier geworden war. Schließlich verlor Adam Iwanowitsch die Geduld und brach los.

      Dorfbarbier

      Dorfbarbier

      »Warum fixieren Sie mich denn in dieser Weise?« schrie er auf deutsch mit scharfer, durchdringender Stimme und mit drohender Miene.

      Aber sein Gegner schwieg weiter, als hätte er die Frage nicht verstanden und überhaupt nicht gehört. Adam Iwanowitsch entschloß sich, russisch zu reden.

      »Ich frage Sie, warum Sie mich so fixieren?« schrie er mit verdoppeltem Zorn in mangelhaftem Russisch. »Ich bin bei Hofe bekannt, was Sie von sich nicht werden sagen können!« fügte er hinzu, indem er vom Stuhl aufsprang.

      Aber der Alte rührte sich noch immer nicht. Unter den Deutschen erhob sich ein unwilliges Gemurmel. Durch den Lärm herbeigerufen, trat Müller selbst ins Zimmer. Als er erfahren hatte, worum es sich handelte, glaubte er, der Alte sei taub, und beugte sich ganz nahe zu seinem Ohr hinab.

      »Herr Schulz bittet Sie, ihn nicht so scharf anzusehen«, sagte er möglichst laut auf russisch und betrachtete den seltsamen Gast aufmerksam.

      Der Alte blickte Müller mechanisch an, und auf einmal zeigten sich in seinem bis dahin regungslosen Gesicht Anzeichen einer ängstlichen Gedankenarbeit, einer unruhigen Erregung. Er geriet in hastige Bewegung, räusperte sich, bückte sich nach seinem Hut und ergriff ihn eilig mitsamt dem Stock; mit einem kläglichen Lächeln, dem demütigen Lächeln eines armen Teufels, der von dem irrtümlich eingenommenen Platz vertrieben wird, schickte er sich an, das Zimmer zu verlassen. In dieser ergebenen, unterwürfigen Eile des armen, gebrechlichen Greises lag soviel Mitleiderweckendes, soviel Herzergreifendes, daß das ganze Publikum, und Adam Iwanowitsch voran, sofort seine Anschauung über die Sache änderte. Es war klar, daß der Alte niemanden beleidigen konnte, ja sich sogar selbst jeden Augenblick bewußt war, daß man ihn wie einen Bettler fortjagen könne.

      Müller war ein gutherziger, mitleidiger Mensch.

      »Nein, nein«, sagte er und klopfte dem Alten ermutigend auf die Schulter, »bleiben Sie nur sitzen! Aber Herr Schulz hat Sie sehr gebeten, ihn nicht so scharf anzusehen. Er ist bei Hofe bekannt.«

      Aber

      Aber

      Aber der alte Mann begriff auch dies nicht; er hastete noch mehr als vorher, beugte sich nieder, um sein Taschentuch aufzuheben, ein altes, zerrissenes, blaues Taschentuch, das ihm aus dem Hut herausgefallen war, und rief seinen Hund, der, ohne sich zu regen, auf dem Fußboden lag und, mit der Schnauze zwischen den beiden Vorderpfoten, anscheinend fest schlief.

      »Asorka, Asorka!« rief er mit zitternder, greisenhafter Stimme; »Asorka!«

      Asorka rührte sich nicht.

      »Asorka, Asorka!« sagte der Alte noch einmal traurig und berührte den Hund mit dem Stock; aber das Tier verharrte in seiner bisherigen Haltung.

      Der Stock entsank den Händen des alten Mannes. Er bückte sich, ließ sich auf beide Knie nieder und hob mit beiden Händen Asorkas Schnauze in die Höhe. Der arme Asorka! Er war tot! Er war, ohne einen Laut von sich zu geben, zu den Füßen seines Herrn gestorben, vielleicht an Altersschwäche, vielleicht aber war er auch verhungert. Der Alte blickte ihn ein Weilchen an, wie wenn er völlig bestürzt wäre und nicht begriffe, daß Asorka schon gestorben war; dann beugte er sich still zu seinem bisherigen Diener und Freund herab und drückte sein blasses Gesicht an dessen tote Schnauze. So verging eine Minute unter allseitigem Stillschweigen. Wir alle waren gerührt. Endlich erhob sich der arme Mensch. Er war sehr blaß und zitterte wie in einem heftigen Fieberanfall.

      »Man kann ihn ausstopfen«, sagte der mitleidige Herr Müller in dem Wunsch, den Alten irgendwie zu trösten. »Fjodor Karlowitsch Krüger versteht das ausgezeichnet; er ist ein Meister in dieser Kunst«, versicherte Müller, hob den Stock vom Boden auf und reichte ihn dem Alten.

      »Ja, ich stopfe ausgezeichnet aus«, fiel Herr Krüger selbst bescheiden ein, indem er in die vordere Reihe trat.

      Dies war ein langer, hagerer, tugendhafter Deutscher mit rotem, buschigem Haar und mit


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