Erniedrigte und Beleidigte. Fjodor Dostojewski

Erniedrigte und Beleidigte - Fjodor Dostojewski


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auf. Unter der Feder nehmen sie einen ruhigeren, ordentlicheren Charakter an; sie gleichen dann weniger einem Fieberwahn, einem beängstigenden Traum. So scheint es mir wenigstens. Schon allein die mechanische Tätigkeit des Schreibens übt eine gute Wirkung aus: sie hat etwas Beruhigendes, Abkühlendes, macht bei mir wieder die früheren schriftstellerischen Gewohnheiten lebendig und verwandelt meine Erinnerungen und krankhaften Träumereien in aktive Handlung . . . Ja, das war ein guter Einfall von mir. Außerdem ergibt sich dadurch auch eine Erbschaft für den Krankenwärter; wenigstens kann er, wenn er zum Winter die Doppelfenster einsetzt, mit meinen Memoiren die Ritzen verkleben.

      Aber ich habe meine Erzählung, ich weiß nicht warum, in der Mitte begonnen. Wenn ich denn einmal alles niederschreiben will, so muß ich vom Anfang an beginnen. Nun, fangen wir also an! Übrigens wird meine Selbstbiographie nicht lang sein.

      Ich bin nicht hier geboren, sondern weit von hier, im Gouvernement S. Es ist anzunehmen, daß meine Eltern gute Menschen waren; aber sie ließen mich, als ich noch ein Kind war, als Waise zurück, und ich wuchs im Hause eines kleinen Gutsbesitzers, Nikolai Sergejewitsch Ichmenew, auf, der mich aus Mitleid aufgenommen hatte. Er hatte nur eine Tochter, die Natascha hieß und drei Jahre jünger war als ich. Wir wuchsen zusammen auf wie Bruder und Schwester. O du meine schöne Kindheit! Wie dumm ist es, im Alter von fünfundzwanzig Jahren sich mit schmerzlichem Bedauern nach dir zurückzusehnen und, dem Tode nah, nur deiner mit Entzücken und Dankbarkeit zu gedenken! Damals hatten wir eine so helle Sonne über uns am Himmel, eine Sonne, so ganz unähnlich der Petersburger Sonne, und unsere kleinen Herzen schlugen so munter und fröhlich. Damals waren Felder und Wälder um uns herum und nicht ein Haufen von toten Steinen wie jetzt. Wie wundervoll war der Garten und Park in Wassiljewskoje, wo Nikolai Sergejewitsch Verwalter war; in diesem Garten ging ich mit Natascha spazieren, und hinter dem Garten war ein großer, feuchter Wald, in dem wir Kinder uns beide einmal verirrten . . . O du goldene, schöne Zeit! Das Leben tat sich zum erstenmal vor uns auf, geheimnisvoll und lockend, und es war so süß, es kennenzulernen. Damals hatten wir noch die Vorstellung, daß hinter jedem Strauch, hinter jedem Baum ein für uns geheimnisvolles, unsichtbares Wesen lebe; die Märchenwelt floß mit der wirklichen zusammen, und wenn manchmal in den tiefen Tälern sich der Abendnebel verdichtete und sich in grauen, gewundenen Streifen an das Gebüsch hängte, das an den steinernen Rippen unserer großen Schlucht wuchs, dann blickten Natascha und ich, uns an den Händen haltend, mit ängstlicher Neugier von dem oberen Rand in die Tiefe und erwarteten jeden Augenblick, daß jemand vom Boden der Schlucht aus dem Nebel zu uns heraufsteigen oder uns anrufen werde und daß die Märchen der Kinderfrau sich als richtige, echte Wahrheit erweisen würden. In späteren Jahren, lange nachher, erinnerte ich einst zufällig Natascha daran, wie man uns damals einmal die ›Kinderlektüre‹›Kinderlektüre für Herz und Verstand‹, ein in den Jahren 1785 bis 1789 von Karamsin und Petrow herausgegebenes Journal. in die Hände gegeben hatte und wir sofort in den Garten zum Teich gelaufen waren, wo unter einem alten, dichtbelaubten Ahornbaum unsere grüne Lieblingsbank stand, uns dort hingesetzt und ›Alfons und Dalinda‹, ein Zaubermärchen, zu lesen begonnen hatten. Noch heute kann ich an diese Erzählung nicht ohne eine sonderbare Erregung des Herzens zurückdenken, und als ich vor einem Jahr Natascha an die beiden ersten Zeilen erinnerte: »Alfons, der Held meiner Erzählung, wurde in Portugal geboren; Don Ramir, sein Vater« usw., da fing ich beinahe an zu weinen. Das sah gewiß schrecklich dumm aus, und dies war wahrscheinlich der Grund, weshalb Natascha damals so seltsam über mein Entzücken lächelte. Übrigens bezwang sie sich sofort (darauf besinne ich mich) und begann nun, um mir eine Freude zu machen, selbst von der alten Zeit zu reden. Ein Wort gab das andere, und zuletzt wurde auch sie ganz weich. Es war ein herrlicher Abend; wir holten all die alten Erinnerungen hervor, auch wie ich nach der Gouvernementsstadt geschickt wurde, um dort ein Alumnat zu besuchen (o Gott, wie hatte sie damals geweint!), auch wie wir uns zum letzten Male trennten, als ich für immer von Wassiljewskoje Abschied nahm. Ich hatte damals die Schule schon durchgemacht und ging nach Petersburg, um mich zum Eintritt in die Universität vorzubereiten. Ich war damals siebzehn Jahre alt und sie fünfzehn. Natascha sagte, ich sei damals ein lang aufgeschossener, ungeschickter Bursche gewesen und man habe mich gar nicht ansehen können, ohne zu lachen. In der Abschiedsstunde führte ich sie beiseite, um ihr etwas furchtbar Wichtiges zu sagen; aber meine Zunge wurde auf einmal unbeweglich und stumm. Natascha hatte noch in der Erinnerung, daß ich mich in gewaltiger Aufregung befand. Natürlich kam unser Gespräch nicht in Gang. Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und sie hätte mich vielleicht gar nicht verstanden. Ich fing nur bitterlich an zu weinen und reiste ab, ohne etwas gesagt zu haben. Wir sahen uns erst sehr lange Zeit nachher wieder, in Petersburg. Das war vor zwei Jahren. Der alte Ichmenew war hierhergefahren, um seinen Prozeß zu betreiben, und ich hatte soeben meine schriftstellerische Laufbahn begonnen.

      ›Kinderlektüre für Herz und Verstand‹, ein in den Jahren 1785 bis 1789 von Karamsin und Petrow herausgegebenes Journal.

      Nikolai Sergejewitsch Ichmenew stammte aus einer guten, aber schon lange verarmten Familie. Indessen hatten ihm seine Eltern doch noch ein hübsches Besitztum mit hundertundfünfzig Seelen hinterlassen. Als er zwanzig Jahre alt war, trat er bei den Husaren ein. Alles ging gut; aber in seinem sechsten Dienstjahr passierte es ihm an einem unglücklichen Abend, daß er sein ganzes Vermögen verspielte. Er konnte die ganze Nacht nicht schlafen. Am folgenden Abend erschien er von neuem am Kartentisch und setzte auf eine Karte sein Pferd, das letzte Besitzstück, das ihm geblieben war. Die Karte gewann, und so auch die zweite und dritte, und nach Verlauf einer halben Stunde hatte er etwas von seinen Besitzungen zurückgewonnen, das Dörfchen Ichmenewka, in welchem bei der letzten Revision fünfzig Seelen gezählt worden waren. Er hörte auf zu spielen und reichte gleich am andern Tag sein Abschiedsgesuch ein. Hundert Seelen waren unwiederbringlich verloren. Zwei Monate darauf erhielt er seinen Abschied als Leutnant und begab sich auf sein Dorf. Von seinem Spielverlust redete er in seinem späteren Leben niemals, und trotz seiner notorischen Gutherzigkeit hätte er sich doch unfehlbar mit jedem verfeindet, der sich erlaubt hätte, zu ihm davon zu sprechen. Auf dem Dorf beschäftigte er sich fleißig mit der Wirtschaft und heiratete im Alter von fünfunddreißig Jahren ein armes Edelfräulein, Anna Andrejewna Schumilowa, die gar keine Mitgift bekam, aber ihre Bildung in einer vornehmen Pension der Gouvernementsstadt bei der Emigrantin Mont Revèche erhalten hatte, worauf Anna Andrejewna ihr ganzes Leben lang stolz war, obgleich nie jemand erraten konnte, worin diese Bildung eigentlich bestand. Nikolai Sergejewitsch war ein ausgezeichneter Landwirt geworden. Die benachbarten Gutsbesitzer lernten von ihm auf wirtschaftlichem Gebiet. So vergingen mehrere Jahre, als plötzlich auf dem Nachbargut, dem Dorf Wassiljewskoje, in welchem neunhundert Seelen gezählt worden waren, der Besitzer, Fürst Pjotr Alexandrowitsch Walkowski, aus Petersburg eintraf. Seine Ankunft erregte in der ganzen Gegend sehr starkes Aufsehen. Der Fürst war, wenn er auch die erste Jugend bereits hinter sich hatte, doch noch ein junger Mann, besaß einen hohen Dienstrang, bedeutende Konnexionen, ein schönes Äußeres, ein beträchtliches Vermögen und war, um dies zuletzt zu erwähnen, Witwer, was ihn den Frauen und Mädchen des ganzen Kreises besonders interessant machte. Man erzählte von der glänzenden Aufnahme, die er in der Gouvernementsstadt bei dem Gouverneur gefunden hatte, mit dem er entfernt verwandt war; es wurde hinzugefügt, alle Damen des Gouvernements seien ›von seiner Liebenswürdigkeit ganz bezaubert‹ usw. usw. Kurz, es war dies einer der glänzendsten Repräsentanten der höchsten Petersburger Gesellschaft, die nur selten in der Provinz erscheinen und, wenn sie dort erscheinen, außerordentliche Sensation machen. Der Fürst war indessen keineswegs liebenswürdig, namentlich nicht denjenigen gegenüber, die er nicht notwendig brauchte und die nach seiner Ansicht unter ihm standen, selbst wenn der Abstand nur gering war. Mit seinen Gutsnachbarn sich bekannt zu machen, hielt er nicht für erforderlich und machte sich dadurch gleich von vornherein eine Menge Feinde. Daher wunderten sich alle außerordentlich, als es ihm auf einmal einfiel, bei Nikolai Sergejewitsch einen Besuch zu machen. Allerdings war Nikolai Sergejewitsch einer seiner nächsten Nachbarn. In dem Ichmenewschen Hause machte der Fürst starken Eindruck. Er bezauberte sogleich die beiden Ehegatten; besonders war Anna Andrejewna von ihm entzückt. Bald darauf verkehrte er mit ihnen schon völlig intim, kam jeden Tag zu ihnen herübergefahren, lud sie zu sich ein, machte Witze, erzählte Anekdoten, spielte auf ihrem schlechten Klavier und sang dazu Lieder. Ichmenews konnten sich nicht genug darüber wundern, wie die Leute von


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