Die Füchsin. Ursula Tintelnot
ist ungewöhnlich. Sicher die auffallendste unter all den Frauen. Sie hat so etwas wie einen Panzer um sich, unsichtbar, aber ein Panzer.
Er blickt sich um. Es gibt nur wenige Männer hier. Wie so oft sind die Frauen auch bei dieser Lesung in der Überzahl. Er interessiert sich für Gedichte, Literatur überhaupt. Und für Kräuter und Giftpflanzen. Er züchtet sie, baut sie an und fotografiert sie. Seine Erkenntnisse schreibt er akribisch auf.
Als er wieder in ihre Richtung schaut, ist sie nicht mehr da. Auf dem Tisch liegt ihre Zigarettenpackung, daneben das Feuerzeug. Ohne nachzudenken, steckt er beides ein. Im Ausgang sieht er kurz ihr Profil. Glanz auf ihrem Haar. Dann ist sie fort. Verdammt! Er hätte gerne mehr von ihr gewusst. Sie hat nicht einmal ihren Namen genannt. Er erhebt sich, als das Kind auf seinem Schoß sich regt.
»Wir gehen heim«, flüstert er.
Der kleine Junge legt die Arme um Adams Hals und schmiegt sich an ihn. »Dada«, flüstert er und schläft wieder ein.
Der rote Pritschenwagen ist alt und nicht sehr sauber. Ein Auto, dem man den Gebrauch ansieht. Ein Nutzfahrzeug, kein Statussymbol. Er schnallt das Kind im Kindersitz fest, schiebt die Tür so leise wie möglich zu und geht um den Wagen herum, um auf der anderen Seite einzusteigen.
Benjamin, denkt er, müsste in seinem Bett liegen, nicht mit mir an nächtlichen Veranstaltungen teilnehmen. Er bleibt eine Weile sitzen, ohne den Wagen zu starten, und starrt auf den regenfeuchten Asphalt. Ein kurzer warmer Sommerregen, der keine Abkühlung bringt. Adam fährt erst los, als der Regen nachlässt. Er hat wieder nicht an die defekten Scheibenwischer gedacht. Morgen, denkt er.
Diese Frau geht ihm nicht aus dem Kopf. Er ärgert sich, dass er sie hat gehen lassen. Eine Frau ohne Namen, eigentümlich vertraut.
Ben schnarcht leise, sein Köpfchen ist zur Seite gefallen. Mit beiden Händen hält er einen kleinen Stoffhund an die Brust gedrückt. Adam fragt sich nicht zum ersten Mal, wie er mit einem knapp Zweijährigen zurechtkommen soll. Seine Gedanken wandern zum dunkelsten Tag seines Lebens. Dem Tag, an dem seine Schwester starb und ihm ihr Leben hinterließ. Er hat es angenommen.
Jetzt startet er seinen Wagen. Fünfundvierzig Minuten später sieht er die Dächer der Gewächshäuser, glänzend nass vom Regen. Daneben die Scheune und das große alte Steinhaus. Vorsichtig biegt er in den Hof ein und parkt direkt vor der Haustür. Die Füchsin sitzt reglos zwischen den Gewächshäusern. Er hebt Ben aus seinem Sitz und bringt ihn, ohne ihn zu wecken, ins Bett.
2 Juni
Valerie hat es nicht eilig. Sie lebt allein mit ihrer Katze. Abgesehen von ihren Besuchen im Verlag hat sie einen einsamen Job.
Sie schreibt Liebesromane, obwohl sie an die Liebe nicht mehr glaubt, seit sie ein Teenager war, und die Kolumnen, die sie in verschiedenen Zeitschriften unterbringt, handeln nicht von Liebe, sondern von deren Nichtvorhandensein. An Abenden wie diesem gönnt sie sich Ausgang. Sie zieht um die Häuser, geht in ihre Stammkneipe, ins Theater und gelegentlich in die Oper oder besucht eine Lesung. Allein oder in Gesellschaft.
Wie hieß noch der kleine verschlafene Kerl? Ben? Auf die Idee, ein Kleinkind in die Nacht mitzunehmen, konnte nur ein Mann kommen. Sein Sohn? Vielleicht. Hat das Kind denn keine Mutter? Warum geht mir dieser Mann nicht aus dem Kopf?
Ihr Taxi hält vor einem hohen Stadthaus. Ein Altbau, vor Jahren renoviert, wie viele der Häuser hier. Oft mit Hinterhöfen, manche bepflanzt und zu idyllischen Gärten oder Spielplätzen umfunktioniert.
Wo ist der verflixte Hausschlüssel? Sie wühlt blind in ihrer Tasche, bis sie das kühle Metall spürt. Hinter sich hört sie gedämpft den Verkehr. Gelächter aus offenen Fahrzeugen, von den Balkonen der umliegenden Häuser. Die Nacht ist noch nicht zu Ende. Musik und der süße Duft von Phlox erfüllen die Luft.
Bevor sie aufschließen kann, öffnet sich die Haustür. Ein junger Mann hält ihr die Tür auf und verschwindet grußlos in der Dunkelheit. Im ersten Stock kracht eine Tür mit lautem Knall zu. Sie fragt sich, warum das Paar noch zusammenlebt. Kein Tag vergeht ohne lautstarke Auseinandersetzungen.
Sie steigt in den zweiten Stock, öffnet ihre Tür und hängt den Schlüsselbund an den dafür vorgesehenen Haken daneben. Ein leiser Plumps. Gleich darauf streicht die Katze um ihre Beine. Nachdem sie die Sandalen von den Füßen geschüttelt hat, nimmt sie die Katze auf den Arm und geht mit ihr in die Küche. Sie steckt die Nase in ihr Fell. Lieber die Katze als Magnus. Er hat das Tier bei ihr gelassen, er selbst hat den Aufwand nicht gelohnt. Sie drückt die Katze an sich.
Valerie liebt ihre Wohnung, ihr Alleinsein. Sie ist nicht dafür gemacht, mit jemandem zusammenzuleben. Die Wohnung ist großzügig geschnitten und mehr als sparsam möbliert. Ein bequemer Sessel. Ein paar Sitzmöbel von angesagten Designern. Küche und ein großes Wohnzimmer gehen ineinander über, ein separates Schlafzimmer, ein kleines Gästezimmer. In allen Räumen brennt Licht. Sie lässt es an, wenn sie die Wohnung verlässt.
Jetzt öffnet sie eine Dose für die Katze und sieht ihr, gegen den Küchentresen gelehnt, eine Weile beim Fressen zu.
Auf der Arbeitsplatte liegt das fertige Manuskript neben dem Drucker. Morgen wird sie es in den Verlag bringen. Gerade noch geschafft. Die Abgabetermine sind streng getaktet. Das neue Buch soll zur Buchmesse im Oktober herauskommen. Sie streicht über den Titel und sieht, dass der Anrufbeantworter blinkt. Sie lässt ihn blinken, dann drückt sie entschlossen auf eine Taste. Löschen. Ihr Verlag, ihre Mutter oder Magnus. Auf keinen von ihnen ist sie scharf.
Sie holt den Weißwein aus dem Kühlschrank, schenkt sich ein Glas ein und verlässt die Küche. Die Flasche nimmt sie mit. Valerie öffnet die Balkontür. Sie ist keine Blumenliebhaberin, aber sie liebt den Duft von Kräutern. Weißer Thymian, Majoran, Zitronenmelisse, Basilikum und Rosmarin wachsen üppig in großen grauen Kübeln. Bequeme Stühle, ein Tisch und eine breite Liege. Sie lehnt am Geländer und trinkt einen Schluck. Im Glas erkennt sie ihr Spiegelbild. Sie weiß nicht, wie lange sie hier steht. Um sie herum ist es still.
»Wir gehen schlafen«, verkündet sie der Katze.
Die Katze sitzt bewegungslos auf dem Tisch und fixiert sie. Nur die Schwanzspitze zuckt. Als Valerie im Bett liegt, starrt sie die Decke an und denkt an Magnus. Sie wartet auf den Schmerz, aber da ist nichts, sie vermisst ihn nicht, keine Trauer, kein Gefühl. In ihr bleibt es still.
Über das Bild von Magnus schiebt sich ein anderes. Adam. Verflucht, warum ist sie nicht einfach weggelaufen, als sie ihn im Foyer der Fabrikhalle entdeckt hat?
Du