Bambis Kinder. Felix Salten
andern eilten herbei, umstanden voll Begeisterung ein Glühwürmchen, das im Grase lag und matt schimmerte.
»Siehst du, törichtes Kind«, redete Geno zu ihm, »warum hast du das große Wagnis unternommen?«
»Tapferer, kleiner Himmelsbote«, flüsterte Gurri, »ruh dich aus! Ruh dich gut aus! Dein Heimweg ist weit und mühsam.«
»Es wird nicht heimkommen«, meinte Lana, und Boso urteilte: »Es ist viel zu müde.«
»Darum soll es sich ausruhen, das arme Kleine«, widersprach Gurri, »dann kommt es schon wieder zu Kräften.«
Das Glühwürmchen machte mit seinem lockenden Schein eine Pause.
»Es ist erloschen!« Gurri war gerührt.
»Aus!« Boso wollte sich abwenden.
»Schade!« Lana war im Begriff, dem Bruder zu folgen.
»So geht es immer!« predigte Geno, »ja, so geht es immer. Man darf die Warnungen nicht mißachten.« Auch er drehte sich fort. Für ihn galt die Sache als erledigt.
Nur Gurri blieb wartend stehen.
Da fing das Glühwürmchen zu zwinkern an und leuchtete gleich darauf wieder ganz hell.
»Es lebt!« jauchzte Gurri, »es hat sich erholt! Es lebt! Es lebt!«
* * *
III
Als Faline mit den Kindern wieder einmal schlafen ging, saß auf der kleinen Blöße, die sich im Dickicht öffnete, der Hase.
Er hielt das Haupt schräg empor, seine Schnurrhaare bebten unablässig, so stark witterte er beständig. Er sah kummervoll und nachdenklich aus.
»Zum Gruß, Freund Hase«, sprach ihn Faline an.
Er schnellte beide Löffel hoch. »Zum Gruß! Zum Gruß!« klang seine Antwort mit leiser gepreßter Stimme. Es war, als risse er sich aus seinen versorgten Gedanken und suchte Fassung zu erlangen.
»Das sind deine Kinder?« fragte er tief ergeben. Immer leise fügte er hinzu: »Schöne, gesunde Kinder.«
»Gefallen sie dir?« Faline vergnügte dieses Lob.
»Die jungen Herrschaften müssen jedem gefallen.« Der Hase ließ die Löffel sinken.
Geno und Gurri standen dabei und betrachteten den Hasen aufmerksam.
Der redete zu ihnen: »Nehmt euch nur in acht, meine Verehrten, daß euch nichts Böses geschieht. Auch ihr gehört zu den Guten, zu den Edlen, zu den Unschuldigen und gerade die werden immer verfolgt. Am meisten hütet euch vor dem grausamen Fuchs.« Der Hase war ergriffen. »Ihr dürft nicht beleidigt sein, weil ich euch warne. Ich sehe euch heute zum erstenmal.«
»Gehst du nie auf die Wiese?« mengte sich Faline ein.
»Du merkst«, entgegnete der Hase, »ich sitze hier ganz nah am Saum der Dickung. Ein Ruck und ich verschwinde. Mit der Wiese ist es vorbei. Ich traue mich nicht mehr hinauszugehen.«
»Deshalb habe ich dich so lange nicht getroffen.«
»Ach«, klagte der Hase, »wenn du wüßtest, was ich durchgemacht habe!«
Plötzlich schlug er die Löffel hoch, richtete sich steil auf, daß die kurzen Vorderbeine in der Luft tasteten und sein weißwolliger Bauch sichtbar wurde. »Hörst du nichts?« Er witterte leidenschaftlich, seine Schnurrhaare bebten heftig.
Faline warf das Haupt empor, breitete die Lauscher, zog prüfend den Atem ein: »Alles ist ruhig. Alles. Du bist gar zu ängstlich, Freund Hase.«
Geno hatte gleich der Mutter gelauscht und geschnuppert, denn er war erschrocken. Jetzt meinte er schüchtern: »Man kann nie zu ängstlich sein.«
»Klug gesprochen, mein junger Prinz, sehr klug«, stimmte der Hase zu. »Ich will dir erzählen, Faline, was mir passiert ist. Etwas Furchtbares! Mich hat der Fuchs überfallen! Wirklich, man weiß schon gar nicht mehr, wo man sitzen, wo man essen soll, nah am Rand des Gebüsches oder mitten in der Wiese. Du kennst mich, du weißt, wie vorsichtig ich bin; jedenfalls war ich nur zwei Hopser von der Dickung entfernt. Da, auf einmal stürzt der Räuber hervor, genau an der Stelle, wo ich herausgegangen war. Er ist sicherlich meiner Fährte gefolgt.«
»Wäre es nicht besser gewesen, weiter in die Wiese zu gehen?« fragte Faline.
»Das habe ich früher immer getan«, erklärte ihr der Hase, »und auch damit habe ich schlimme Erfahrungen gemacht. Einmal, es war schon fast hell, bin ich beinahe der großen Eule in die Fänge geraten, in die mörderischen Krallen. Drei Kinder hat sie mir vor meinen Augen weggeschnappt, drei reizende kleine Kinder. Dann wieder kam mir der spitznasige Schleicher ganz nahe, ohne daß ich ihn hörte. Himmel, bin ich gerannt, vor der Eule und vor dem Fuchs! Ich sage ja, man weiß nie, wo man sitzen und einen Bissen in Ruhe essen kann.«
Er richtete sich wieder mit hochgeschlagenen Löffeln kerzengerade auf, horchte und schnupperte.
»Keine Gefahr!« beschwichtigte Faline, nachdem sie und Geno gleichfalls geschnuppert hatten.
»Erzähle weiter«, bat Gurri voll Gespanntheit.
»Also, wie ich nahe an der Dickung saß, stürzt der rote Halunke hervor«, berichtete Freund Hase, »stürzt hervor mit gefletschten Zähnen. Ich sehe den grimmigen Rachen, die gierigen Augen; sein übler Geruch weht mich an, und zuerst faßt mich lähmendes Entsetzen. Aber ich mache ganz von selbst ein paar ratlose Sprünge in die Wiese. Er mir nach, dicht hinter mir. Ich halte mich für verloren und beginne zu laufen. Er immer hinter mir drein. Jetzt schlage ich scharf einen Haken; er rennt geradeaus, und ich gewinne endlich einen kleinen Vorsprung. Doch das nützt mir wenig. Er hetzt mich, hetzt mich, daß mir der Atem ausgeht und der Schädel hämmert. Drei Haken habe ich vollführt, bis ich das Dickicht erreichte. Mir schwirrt es vor den Augen. Renne, was du kannst, denke ich, es geht um dein Leben! Doch ich fühle, daß ich nicht mehr viel weiter kann. Dort in den Hartriegelbüschen drüben kenne ich eine Grube. Drauflos ohne Haken! Ich lasse mich hinunterfallen, liege erschöpft da, mit rasendem Herzklopfen, habe noch sein Keuchen im Gehör; ich zittere und erwarte mein Ende. Um nichts wäre ich imstande gewesen, mich zu regen. Mir ist alles gleichgültig, mag er kommen, sage ich zu mir. Doch er kommt nicht! Er kommt nicht! Langsam fasse ich das Glück, er kommt nicht! Wehrlos bin ich, und er ist stark; aber ich bin schneller als er, und ich habe ihn müde gemacht! Heute noch, wenn ich mich daran erinnere, schüttelt mich das Grauen.«
Der Hase schwieg, die Löffel eng an den Rücken geschmiegt.
»Deine Geschichte werde ich nie vergessen«, versicherte Geno erschüttert, um dann die Mutter zu drängen: »Komm endlich schlafen.«
Faline nahm Abschied: »Gesundes Wiedersehen, Freund Hase.«
»Ein Wunsch für uns alle«, erwiderte der trübselig.
Gurri blieb eine Sekunde zurück, beugte sich nieder, küßte die Stirne des Hasen und flüsterte: »Ich danke dir für deine Erzählung.«
Sie sprang davon.
»Möge dich der Fuchs nie erwischen, kleine Prinzessin«, rief ihr der Hase nach.
Mutter und Kinder begaben sich zur Ruhe.
Allein heute sollte noch mehr, sollte Wichtiges geschehen.
Etliche Stunden später war es. Die Sonne sandte schon heiße Strahlen durch das Laubgitter der Wipfel; die Blätter, die Kräuter, die reifenden Früchte dufteten unter der Sonnenglut; der harzige Geruch des warmen Holzes strömte scharf und kräftigend durch den Wald. Es schwatzten die Meisen, der Pirol schwang sein Jauchzen von Baum zu Baum, der Specht hämmerte und lachte gellend, die Elstern schakerten, der Häher kreischte, Finken, Rotkehlchen, Zeisige sangen ihre Lieder, dazwischen rief der Kuckuck, gurrten die Tauben.
Da wurde Faline mit eins hell wach, erhob sich und weckte die Kinder.