Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen. József Wieszt

Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen - József Wieszt


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hatte, bat sie uns freundlich herein. Sie führte uns durch den bescheidenen Neubau. Gerade habe sie einen Kaffee auf dem Ofen, ob wir vielleicht eine Tasse mit ihr trinken möchten. Wir sagten nicht Nein. Ihr Mann habe in Budapest eine Arbeit gefunden. aber dort könne man sich mit einem Facharbeiterlohn keine Wohnung kaufen. Das alte Haus unserer Großeltern hätte sie kaufen können, weil die Kinder der Vorbesitzer schon eine Stadtwohnung hatten. Es täte ihr leid, dass sie das Haus unserer Großeltern abgerissen hätten, aber eine Renovierung wäre teurer gekommen als ein Neubau.

      Die hinteren Anbauten und der Hof seien allerdings noch unverändert. Wir könnten uns das gern ansehen. „Es ist noch alles so, wie wir es gekauft haben. Das Geld für die Renovierung des Hofs und der Ställe haben wir noch nicht.“ Wir bedankten uns und gingen mit ihr in den Hof. Hätte ich Ferenc/Franz, nicht dabeigehabt, wäre die Besichtigung sicherlich nicht so problemlos gewesen, denn die junge Frau sprach nicht Deutsch, und ich spreche leider auch nicht ausreichend Ungarisch.

      Sie zierte sich doch ein wenig, diesen fremden Mann aus Deutschland auf ihren Hof zu führen, denn dort war ein ziemliches Durcheinander. Überall lagen oder standen alte Haus- und Ackergeräte in große Unordnung herum. Zwischendrin liefen Hühner und Gänse bunt durcheinander. Der zottige kleine Haushund sorgte durch sein aufgeregtes Gehabe dafür, dass das Geflatter und Geschnatter der verschreckten Tiere nicht aufhörte. Weil es Frühjahr war und der Lehmboden noch feucht und aufgeweicht, mussten wir stellenweise sehr vorsichtig auftreten. Dennoch war das für mich eine sehr beeindruckende halbe Stunde auf diesem Hof, an den ich keine Kindheitserinnerung mehr habe. Hier war noch ein Stück des ursprünglichen Lebens vorhanden. All die alten Geräte, die Schuppen, die Tiere, die zerfallende Gartenmauer aus Lehmziegeln, der schwere, aprilnasse Lehmboden – all das kam mir irgendwie vertraut vor, vermittelte ein Gefühl von „daheim“. Dass es sich um das Haus meiner Großeltern handelte, war nicht der Auslöser dieses Gefühls. Es war die ganze ungewollte Komposition, dieses „Galizische“, dem ich im Süden Polens, in der Ukraine, in Moldawien, in den Dörfern Sloweniens und der Woiwodina schon so oft begegnet war. Immer wieder zieht es mich dahin und stets entsteht in mir die Ahnung aufs Neue: „So war mal deine Heimat.“ Ich ließ mich gehen, in diese Stimmung hinein, schwelgte in diesem lehmigen Heimatgefühl und sah mir jedes Detail genau an, so als wäre es die letzte Gelegenheit, das alles noch einmal so wahrnehmen zu können, wie es in meiner Kindheit war.

      Blick in den Hof. Schweine hatten sie nicht mehr.

      In alle Winkel und Ecken schaute ich, öffnete die Türen und blickte in die Ställe hinein – und stand plötzlich vor einem halben Hakenkreuz im alten Kuhstall. Exakt, wie mit einer Schablone hatte es jemand genau der Tür gegenüber an die Wand gemalt. Mindestens einen Meter hoch war es einmal gewesen. Zu sehen war nur noch die untere rechte Hälfte, das obere Stück war frisch verputzt, vermutlich war der alte Lehmputz heruntergefallen, und das Loch ist ausgebessert worden. Meine Ernüchterung war groß. Nichts mehr war übrig von lehmiger Nostalgie und Heimatgefühl. Die Vergangenheit hatte mich unverhofft eingeholt.

      Wer hatte das dahin gemalt? Und warum war es, 46 Jahre nach Kriegsende, noch nicht beseitigt worden, obwohl doch spätestens die Ausbesserungsarbeiten einen guten Anlass dazu gegeben hätten?

      Konnten diese ungebildeten Bauernburschen ahnen, dass die Waffen-SS nicht nur Hilfstruppe der Wehrmacht bei ihren mörderischen Eroberungskriegen war, sondern zentraler Bestandteil der Judenvernichtung wurde? Vermutlich nicht. Hatte man ihnen nicht vorgegaukelt, dass sie in der Waffen-SS im Überlebenskampf der germanischen Rasse gegen den jüdischen Weltbolschewismus auf der richtigen Seite kämpfen würden? Unterlagen sie schließlich dem Mythos und der Glorie von schnellen, beinahe kampf- und opferlosen Siegen im Blitzkrieg? Meine beiden Onkel hatten ihren Verführern Glauben geschenkt. Bevor sie ihren unbedachten Schritt hätten bereuen können, waren sie tot.

      Mit diesen Ausführungen will ich nichts beschönigen oder rechtfertigen. Ihren Schritt haben sie selbst zu verantworten und teuer bezahlt. Viele junge Männer, viel zu viele, sind der Nazipropaganda aus Überzeugung gefolgt. Fotos von den Aufmärschen der „Deutschen Jugend“ (DJ) belegen das. Ihre ausgestreckten rechten Arme unterscheiden sich nicht von denen der Hitlerjugend (HJ).

      Andere haben sich einer Bewegung angeschlossen, die die Treue zum ungarischen Staat propagierte (Treuebewegung). Deren Mitgliedschaft blieb jedoch relativ gering. Wieder andere meldeten sich zur Ableistung ihrer Wehrpflicht zur ungarischen Armee. Nach dem Abkommen vom 1. Februar 1942 wurde die Musterung von einer deutsch-ungarischen Kommission durchgeführt. Dem Wehrpflichtigen blieb formal noch die Wahl zwischen Honvéd (Ungarische Armee), deutscher Wehrmacht und Waffen-SS. Ein Abkommen vom 1. Juni 1943 erweiterte den Kreis der Gemusterten auf „Freiwillige bis zu 35 Jahren“. Der Druck auf die „Freiwilligen“ zum Eintritt in die Waffen-SS wuchs dabei ständig. Letztlich unerheblich wurden diese Differenzierungen nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Ungarn (14. März 1944).

      Einen Monat später kam es zu einem deutsch-ungarischen Abkommen, „danach wurden alle ungarischen Staatsbürger, die Deutsch als Muttersprache bei der Volkszählung 1941 angaben oder ‚durch ihre Lebensweise und ihr Volkstum Merkmale als solcher zeigten‘ der SS überstellt … In manchen Fällen veranstalteten die SS-Werbekommandos regelrechte Treibjagden: Auch die ungarische Polizei half bei der Zwangsrekutierung: Entziehen konnte sich kaum jemand.“


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